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1.2.3 Zur Methode praktisch-theologischer Reflexion und Theoriebildung

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Im Anschluss an die bisherigen Darlegungen legen sich für die praktische Theologie mit Blick auf die „Kommunikation des Evangeliums“ drei Hauptaufgaben nahe: eine Erkundung der „Zeichen der Zeit“, deren Interpretation bzw. Deutung im Lichte des Evangeliums und ein konzeptionelles Entwerfen von daraus sich ergebenden Handlungsprioritäten. Daraus ergibt sich ein methodischer Dreischritt: Der Situationsbezug christlich-kirchlicher Praxis macht eine individual- und sozial-analytische Vermittlung erforderlich (Sehen); die für sie immer wieder neu zu findende Orientierung an Jesus Christus als ihrem Ausgangspunkt und Ermöglichungsgrund geschieht in hermeneutischer Vermittlung (Urteilen); ihre Prioritäten für Gegenwart und Zukunft gewinnt sie in der praktisch-pastoralen Vermittlung des in Analyse und Reflexion Erarbeiteten (Handeln).

Dieser Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ ist ursprünglich von J. Cardijn für die Arbeit in der von ihm gegründeten Christlichen Arbeiterjugend (JOC bzw. CAJ) entwickelt worden und hat, bekräftigt durch Johannes XXIII. in seiner Enzyklika „Mater et magistra“ (1961, 236), inzwischen als bewährte Arbeitsweise in weiten Bereichen der Kirche Verbreitung gefunden. Er verdankt sich, wie dargelegt, der Einsicht, dass die Wahrheit im christlichen Verständnis „nicht im vorhinein durch Theorie erfunden und im nachhinein durch die Praxis bestätigt werden“ (443, 207) kann, sondern dass sie sich in einem Theorie und Praxis dialektisch vermittelnden Vorgang der Bewahrheitung erweist. Der Weg des Reflektierens muss – so betont G. Gutiérrez – „eingeschlossen sein in den Weg, christlich zu leben, eingeschlossen in den Weg der Nachfolge Christi“, wenn eben „Christ sein bedeutet, Jesus Christus nachzufolgen“ (446, 56). So gesehen stellt der Dreischritt keine nachträgliche Methodik für die Anwendung des christlichen Glaubens in der Praxis dar, sondern eine analytische Rekonstruktion seiner fundamentalen Struktur: die in die jeweilige Situation hinein übersetzte und in Kontemplation und Aktion sich vollziehende Annahme der den Menschen gnadenhaft erschlossenen und sie heil und frei machenden Liebe Gottes.

Ziel von theoretischen Vermittlungsbemühungen in diesem Zusammenhang ist eine kritische Orientierung, die verhindert, dass die Praxis des Glaubens der Gefahr eines naiven Empirismus, Fundamentalismus oder Pragmatismus erliegt und damit ihr kritisch-aufklärendes und verändernd-innovatorisches Potential verliert. Das bedingt allerdings, dass die praktische Theologie an dieser Praxis partizipiert und darin ihre Subjekte zu eigenständiger, kritischer Reflexion ihres Handelns befähigt.22 Als „Theologie aus der Praxis des Volkes“ wird die praktische Theologie so Anwalt einer „Theologie des Volkes“, indem sie das ganze Volk Gottes als Subjekt christlichen und pastoralen Handelns ernst nimmt und gerade so die verschiedenen Charismen zur Auferbauung von Gemeinde und Kirche zur Geltung kommen lässt. Deutlich wird so ein neues Paradigma christlich-kirchlicher Praxis angestrebt: von der herkömmlichen „Betreuungs- und Mitgliedschaftspastoral“ zu einer subjekt- und partizipationsorientierten Pastoral.

Sehen …

Will die praktische Theologie dazu beitragen, dass die Kommunikation des Evangeliums der jeweiligen geschichtlichen Situation Rechnung trägt, gehört es zu ihren grundlegenden Aufgaben, zu einem reflexeren Bewusstsein der jeweiligen „Zeichen der Zeit“ zu verhelfen. Wie eine solche „theologische Analyse der Gegenwartssituation“ (K. Rahner) bzw. „Kairologie“ (F. Klostermann) allerdings anzusetzen und durchzuführen ist, ist sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in forschungslogischer Hinsicht noch nicht hinreichend geklärt. Unbestritten ist, dass dabei auf Human- und Sozialwissenschaften zurückgegriffen werden muss. Die Wahl des analytischen Schemas ist allerdings davon abhängig, dass es den grundlegenden Bestimmungen christlichen Handelns nicht zuwiderläuft.

Die biblische Redeweise von den „Zeichen der Zeit“ (vgl. Mt 16, 1 – 4 und Lk 12, 54 – 56) umschreibt das Bemühen, die die jeweilige Situation kennzeichnenden Hauptfakten und Entwicklungstendenzen namhaft zu machen, die zu verfolgen und kritisch zu beurteilen der Kirche aufgetragen ist, will sie nicht die frohe Botschaft des Evangeliums zu einer zeit- und kontextlosen Predigt verfälschen. Die „Zeichen der Zeit“ zu sehen heißt also, sensibel zu werden für die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten“ (GS 1), und sich mit diesen zu solidarisieren. So zu sehen ist nur möglich von einem bestimmten Standpunkt her, von einer Betroffenheit durch das Elend des Volkes und vom Hören seiner lauten Klagen. Diesen ihren Standpunkt kann die Kirche nicht beliebig wählen, sondern es „ist der Ort des gegenwärtigen Christus in der Welt“ (435, 22). Wie wenig selbstverständlich diese Perspektive ist, geht schon daraus hervor, dass den Evangelien zufolge selbst den Jüngern Jesu immer wieder erst die Augen geöffnet werden mussten.

Die Bereitschaft, sich die Augen öffnen zu lassen, ist eine unabdingbare Grundvoraussetzung kirchlich-pastoralen Handelns, und zwar in allen Bereichen. Das ist nur möglich, wenn man sich dafür die Muße nimmt, die hektische Betriebsamkeit des Alltags zu unterbrechen und das gewohnte Blickfeld des eigenen Tuns einmal auch aus Distanz heraus zu betrachten, um den „blinden Flecken“ auf die Spur zu kommen. Der vielfach durch den eigenen „Kirchturm“ – hier auch metaphorisch mit Blick auf nichtpfarrliche Handlungsfelder gemeint – bestimmte Horizont theologischen Denkens und pastoralen Handelns muss aufgebrochen und erweitert werden, um wirklich die „Zeichen der Zeit“ sehen zu können.

Wie der Mensch bei getrübter Sehfähigkeit der Sehhilfen bedarf, so kann das Heranziehen solcher Sehhilfen auch für die Pastoral äußerst hilfreich sein. Konkret bedeutet das etwa, Kontakt zu Leuten zu suchen, die am gleichen Ort tätig sind oder sich dort engagieren (z. B. Sozialarbeiter/innen, Ärzte/innen, Lehrer/innen, Gewerkschafter/innen, Bürgerinitiativen, Parteien etc.), und sie nach ihren Erfahrungen und Situationseinschätzungen zu fragen. Insbesondere aber sollte man nicht versäumen, auf die Menschen, mit denen man es zu tun hat, zu hören. Denn die Aufmerksamkeit des christlichen Glaubens richtet sich gerade auf das Alltägliche und Unscheinbare ihrer personalen und sozialen Existenz. Sich darauf wirklich einzulassen ist gar nicht so leicht: heißt das doch, ein ganzes Stück weit von sich selbst abzusehen.

So wenig auf die unmittelbare Wahrnehmung und die dadurch ausgelöste Betroffenheit verzichtet werden kann, so sehr müssen aber auch die Grenzen eines noch so sensiblen „gesunden Menschenverstandes“ respektiert werden. Die „Zeichen der Zeit“ werden nicht selten durch den – in Kirche und Gesellschaft – vorherrschenden Zeitgeist dermaßen verdeckt, dass sie mühsam überhaupt erst einmal aufgedeckt werden müssen. Zur Aufschlüsselung solcher teilweise sehr sublimer Verblendungszusammenhänge bedarf es der Zusammenarbeit mit entsprechend empirisch arbeitenden und kritisch orientierten Humanwissenschaften.23

… Urteilen …

Es wurde bereits betont: Um in des Wortes eigentlicher Bedeutung wahrnehmen zu können, bedarf es immer der kritischen Überprüfung der eigenen „Vorurteile“, die – bewusst oder unbewusst – das Sehen und Handeln leiten. Eigene Wünsche und Ängste spielen dabei eine elementare Rolle. Modetrends und Milieudruck tragen nicht selten ein Übriges dazu bei. Und so steht auch kirchliches und pastorales Handeln nicht selten in der Versuchung, sich an den gängigen Kriterien eines erfolgsorientierten Tuns messen zu lassen: Leistung, Effizienz, Breitenwirksamkeit.

Umso unerlässlicher ist, sich auch im pastoralen Alltag immer wieder des Grundes und des Zieles des Handelns zu vergewissern und zu fragen, wie dem in der Praxis entsprochen werden kann. Das ist alles andere als eine praxisferne Spekulation, sondern vielmehr ein zutiefst in die individuellen und kollektiven Handlungsmuster eingreifender geistiger und geistlicher Lernvorgang, insofern die gängigen Deutungen der Wirklichkeit in der Begegnung mit den biblischen Verheißungen mit der Fülle jenes Lebens konfrontiert werden, wie sie in den Bildern vom Reich Gottes umschrieben ist.

Dass diesen Verheißungen eine befreiende und Leben schenkende Kraft innewohnt, zeigt sich, wenn Einzelne oder christliche Gruppen und Gemeinden sich auf sie einlassen, d.h. es lernen und riskieren, die biblischen Erzählungen handelnd weiterzuerzählen, und sich damit in eine spannungsreiche Kommunikation zu ihrer Umwelt begeben. Denn die für den christlichen Glauben grundlegende Erfahrung des vorbehaltlosen Angenommen- und Bejahtseins bringt eine Umkehrung aller geläufigen Maßstäbe mit sich, angefangen bei dem individuellen Bestreben zur Selbstrechtfertigung bis hin zu dem Hang von Institutionen zur Selbstgerechtigkeit. Sie entlastet von der ansonsten völlig in Beschlag nehmenden Sorge um das eigene Dasein und macht frei, im solidarischen Kampf um ein Weniger an Not, Gewalt und Unfreiheit im Nahbereich und weltweit Gottes Liebe unter den Menschen zu bezeugen.

Dieses Engagement für den Menschen bedarf allerdings in der konkreten Situation der näheren Bestimmung. Es muss gemeinsam gefragt und entschieden werden, zu welchen Handlungsprioritäten das Evangelium in einer gegebenen historischen Situation und angesichts konkreter Umstände, die man sich nicht aussuchen kann, nötigt, wer also die bevorzugten Adressaten der Frohen Botschaft hier und jetzt sind. Damit steht jedoch spätestens außer einem Perspektivenwechsel auch die Frage nach einem entsprechenden Ortswechsel zur Debatte: Auf welcher Seite stehen die Christen und ihre Kirchen sowie Gemeinden?

… Handeln

Was bleibend gültiger Maßstab christlichen und damit auch pastoralen Handelns ist, ist im Synodenbeschluss „Unsere Hoffnung“ mit nur zwei Worten formuliert: „Nachfolge genügt.“ (12, 103) Wie es auszusehen hat, bleibt darum auch an Jesus Christus zu lernen. So wie in der Verkündigung Jesu Wort und Verhalten untrennbar verbunden waren, so lässt sich auch nur durch Wort und Tat gemeinsam bezeugen, dass in diesem Jesus Christus die Liebe Gottes zu jedem Menschen ein für allemal offenbar geworden ist. Diese froh machende Botschaft wird nur verkündigt, wenn ihr auch in der Weise ihrer Vermittlung entsprochen wird. Überzeugende Modelle dafür sind in den Evangelien und ihrer Wirkungsgeschichte überliefert: sie bedürfen der aktuellen Übersetzung in die vorfindlichen Situationen hinein.

Das bedeutet nicht, dass in der Pastoral ständig etwas grundlegend Neues begonnen werden müsste. Es heißt vielmehr zu tun, was immer schon getan worden ist und was zu Recht als Grundvollzüge dieser Kirche bezeichnet wird: Gottes Wort hören und preisen, daraus untereinander Gemeinschaft werden lassen und den Bedrängten helfen. Aber indem das in der Zuwendung zu den Menschen in ihrer konkreten Lebenswelt geschieht, verändert sich dieses Tun zugleich: Aus der kontextlosen Predigt wird ein situationsklärendes Glaubensgespräch; aus der „von oben“ verwalteten Pfarre wird eine von der Vielfalt der Charismen her auferbaute und partizipativ strukturierte Gemeinde; aus einer in Abhängigkeit haltenden Hilfe werden Bewusstseinsbildungsprozesse, die die Betroffenen zur Selbsthilfe befähigen.

Dass solche Veränderungen von – sowohl gesellschaftlichen als auch innerkirchlichen – Störungen und Konflikten begleitet werden, lässt sich nicht vermeiden; es gilt, die darin steckenden Lernchancen zu nutzen. Ansonsten müsste sich die Pastoral darauf beschränken, entsprechend den an sie gerichteten gesellschaftlichen Erfordernissen funktionalisiert zu werden. Sie begäbe sich damit jedoch der Möglichkeit und verriete ihren Auftrag, „Wirklichkeit aus dem Glauben heraus in der Kraft und in der Gnade des Geistes Gottes zu gestalten, um auf diese Weise das verheißende Reich Gottes anzusagen“ (245, 34).

Der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass im Verlauf des Reflexionsprozesses die drei Schritte kaum säuberlich voneinander getrennt werden können, sondern sich gegenseitig durchdringen. So sehr beispielsweise die vorgenommene Situationsanalyse methodisch nachprüfbar sein muss, so erfolgt sie niemals neutral, sondern ist sie bereits interesse- bzw. optionsgeleitet. Ähnlich sind auch die übrigen Schritte miteinander verquickt. Hinzukommt, dass der Dreischritt nicht einfach mit dem letzten Schritt abgeschlossen ist, sondern dass er sich, wie schon angedeutet, gewissermaßen spiralförmig immer weiter entwickelt, so dass der dritte Schritt des durchgeführten Dreischritts jeweils zum ersten Schritt des neuen Dreischritts wird.24

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