Читать книгу Raban und Röiven Insel der Elfen - Norbert Wibben - Страница 13
ОглавлениеRöivens Sorgen
Raban wird von einem Sonnenstrahl geweckt, der ihn in der Nase kitzelt. Der Junge lächelt und öffnet die Augen. Enttäuscht stellt er fest, dass es nicht Ilea ist, die ihm mit einem Grashalm spielerisch durchs Gesicht fährt, sondern die Sonne. Dabei hat er soeben noch von dem Mädchen geträumt, das sich gestern Abend mit einem erneuten Kuss, diesmal nur kurz auf seine Lippen gehaucht, von ihm verabschiedete. Er schließt die Augen, doch der süße Traum ist weg. Da die Vorhänge im Wohnzimmer nicht zugezogen sind, kann er den schönen Sommertag erahnen, der sich mit einem blauen, wolkenlosen Himmel ankündigt. Leise seufzend erhebt er sich von dem Sofa und bereitet das Frühstück in der Küche. Er ist gerade damit fertig, als seine Eltern und anschließend auch sein Opa, erscheinen. Gemeinsam lassen sie sich die leckeren Speisen schmecken. Nach einem kurzen Blick in die Zeitung verabschiedet sich sein Dad. Der Junge überfliegt die Schlagzeilen, während sich sein Großvater mehr Zeit dafür nimmt. Als er keine außergewöhnlichen Vorkommnisse entdecken kann, atmet Raban unbewusst auf. Insgeheim hatte er befürchtet, einen Hinweis auf eine neue Bedrohung zu finden. Dass er beim Lesen der Zeitung immer wieder so ein mulmiges Gefühl bekommt, hängt wohl mit den Ereignissen der letzten zwei Jahre zusammen. Doch die Dubharan oder andere Zauberer scheinen tatsächlich nicht mehr zu existieren.
»Die letzte Auseinandersetzung mit einem feindlichen Magier war im Herbst. Das ist schon fast ein dreiviertel Jahr her«, überlegt der Junge. »Obwohl das jedes Mal eine aufregende Zeit war, in der Röiven und ich Gefahren bestehen mussten, fehlt mir ein zu lösendes Rätsel ein bisschen. – Hm. Röiven könnte eine neue Aufgabe auch gebrauchen, wenn ich Zoe richtig verstanden habe.«
Der Junge legt seinen Teil der Zeitung zusammen und schiebt ihn zu Finnegan hinüber.
»Opa, kannst du mir einen Tipp geben, was ich gemeinsam mit Röiven unternehmen könnte? Er umsorgt seine Kinder viel zu sehr und wird sich noch damit überfordern, wenn ich ihn nicht auf andere Gedanken bringe.«
»Was ist los? Dein Freund umsorgt seine Brut? Dabei heißt es doch immer »Rabeneltern«, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass sich jemand nicht, oder nicht gut, um seine Kinder kümmert. Ich weiß, dass diese Bezeichnung entstanden ist, weil junge Raben nach dem Verlassen des Nestes noch sehr unbeholfen wirken. Daher schlussfolgerten viele Menschen, Raben seien schlechte Eltern und würden ihre Jungen vorzeitig im Stich lassen.«
»Das trifft auf keinen Raben und am wenigsten auf Röiven zu. Ich glaube, mein Freund übertreibt die Fürsorge. Die jungen Vögel können sich bereits sehr gut selbst versorgen und fliegen auch schon ausgezeichnet. – Also. Hast du eine Idee? Seine Partnerin, Zoe, macht sich ebenfalls Sorgen.« In diesem Moment meldet sich Ciana, die auf dem Sofa sitzend noch eine Tasse Tee trinkt.
»Wie wäre es, wenn du mit ihm noch einmal die Orte aufsuchst, an denen ihr vor zwei Jahren … Du schüttelst den Kopf und blickst skeptisch? Warum nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob alle Orte eine positive Erinnerung bei ihm hervorrufen. An den ersten Stellen waren wir nicht erfolgreich. Wir konnten nicht verhindern, dass es Bearach gelang, immer mehr Kolkraben zu töten. Das weckt vermutlich traurige Erinnerungen oder bestärkt ihn noch mehr in der Überzeugung, die Kinder nur durch seine Nähe vor Unheil bewahren zu können.«
»Aber es muss doch auch Orte geben, die mit positiven Erinnerungen verbunden sind.«
»Das Tal, in dem wir die ersten Raben überzeugen konnten, Asyl im geheimen Wald zu nehmen. Hm. Von dort stammt Zoe, mit der zusammen er schon oft dort gewesen ist.«
»Was ist mit dem Museum?«, wirft der Großvater ein.
»Du meinst, wo unser ehemaliger Gegner Bearach jetzt als »Perseus mit dem Haupt der Medusa« ausgestellt wird? Dort bin ich mit ihm an einem frühen Morgen gewesen, als das Museum noch geschlossen war. Wir wollten uns vergewissern, ob Morgana das Haupt der Medusa, oder möglicherweise sogar Bearach, geholt hat, um sie wieder zum Leben zu erwecken.«
»Genau. Wäre das nicht ein gutes Beispiel für eure erfolgreiche Zusammenarbeit im Kampf gegen das Böse?«
»Ja, schon. Ich könnte … Ich werde ihn fragen, wohin wir gemeinsam gehen sollen, um einfach mal auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht klappt es ja und ich reiße ihn so aus der eingefahrenen Spur. Ich danke euch.
Wartet nicht auf mich. Es kann sein, dass ich mehrere Tage mit Röiven unterwegs bin, auf unseren Spuren von damals.« Der Junge grinst die beiden an, umarmt sie und verlässt den Raum. Von seinem Zimmer aus nutzt er den magischen Sprung und begrüßt gleich darauf die Wachen am Eingang zum geheimen Wald.
Unter der Linde stehend ruft er gedanklich seinen Freund.
»Röiven, wo bist du. Komm bitte zu eurem Baum, ich möchte mit dir sprechen!«
Es erfolgt keine Antwort, die der Junge auch nicht sofort erwartet hat.
»Röiven. Ich bin‘s, Raban. Komm zu eurem Baum.«
Nichts.
»Du musst mich doch hören. Warum ant … Dir geht es doch gut?«, fragt der Junge sofort erschrocken. »Ist dir etwas passiert? RÖIVEN!«
»Krch. Ich …« Stille!
»Röiven. Wo bist du?«
»Ich … ich weiß nicht …«
»Öffne deine Sinne, lass mich durch deine Augen sehen.«
Keine Antwort. Trotzdem konzentriert sich der Junge mit geschlossenen Augen und versucht, durch die seines Freundes zu schauen. Aber alles bleibt schwarz.
»Röiven, öffne deine Augen!«, fleht Raban. Er wartet mit pochendem Herzen. Langsam wird es etwas heller, aber erkennen kann er immer noch nichts.
»RÖIVEN! Klappe deine Augendeckel auf und zu und lasse sie dann etwas länger offen.« Tatsächlich. Es wird hell, dann dunkel und erneut hell. Raban strengt sich an. Was ist das, was er dort sieht? Ein paar grüne Striche, die nicht genau zu erkennen sind, laufen quer über das Bild, das nun wieder verschwindet. Sollten das Grashalme sein? Dann müsste sein Freund ja auf dem Boden liegen.
»Röiven, liegst du auf der Erde? Versuche noch einmal, die Augen länger zu öffnen und einen Gegenstand zu fixieren.« Raban wartet. Es dauert etwas, aber dann wird es wieder hell. Die Grashalme werden unscharf, dafür erkennt der Junge nun eine alte Eiche. Der Knabe hofft, dass diese optischen Informationen für einen magischen Sprung ausreichend sind und ruft entschlossen: »Portaro!«
Er steht nun auf einem Bergrücken mit Blick auf einen alten, knorrigen Baum. Viele der Äste sind unbelaubt, aber nicht alle. An vereinzelten Stellen ist dunkelgrünes Blattwerk zu sehen, dass der Baum noch einmal hervorgetrieben hat. Doch wo ist jetzt Röiven?
»Krch!«, lässt ihn herumfahren. Dort liegt sein Freund auf dem Boden. Sofort fällt er auf die Knie und untersucht ihn. Eine Verletzung kann er nicht feststellen. Er dreht ihn um und horcht nach dem Herzschlag. Erleichtert atmet der Junge auf und breitet seine Hände über den Freund.
»Beatha! Beatha! BEATHA!«
Raban spürt ein leichtes Kribbeln an den Handflächen. Dann beginnt ein kaum sichtbares Licht von seinen Händen zum Kolkraben zu fließen. Das golden schimmernde Gleißen wird immer stärker. Die kleine Brust des Vogels beginnt sich etwas kräftiger zu heben und zu senken, wie der Junge erfreut feststellt. Raban beobachtet das helle Licht noch eine kurze Zeit, bevor er das Übertragen von Lebensenergie abbricht.
Er beugt sich hinab und horcht erneut nach dem Herzschlag. Dieser klingt für ihn zwar nicht normal, eher unregelmäßig, aber immerhin kräftiger als eben. Da er im Moment außer Abwarten nichts weiter tun kann, blickt er sich um.
»Wo sind wir und was wollte mein Freund hier?«, grübelt er. »Und was vielleicht noch wichtiger ist, warum befindet er sich in diesem Zustand? Wenn ich das richtig beurteilen kann, war er kurz davor zu sterben.« Sorgenvoll betrachtet er seinen Freund. Als er vorhin erneut nach dessen Herzschlag gehorcht hatte, fühlte er sofort die Knochen des Brustkorbs. Sollte Ilea Recht haben, und Röiven ist abgemagert? Dann vernimmt er einen tiefen Atemzug, mit dem rasselnd Luft in den kleinen Körper gesogen wird. Die Augendeckel des schwarzen Vogels flattern und öffnen sich langsam. Die dunklen Augen blicken verwirrt hin und her, dann bleiben sie auf dem Jungen haften.
»Ra… ban. Me… Fr… nd …”«
»Ruhig. Erhole dich erst.« Als die Augendeckel wieder zufallen, breitet der Junge seine Hände vorsichtshalber noch einmal über den Vogel und überträgt mit »Beatha« erneut Lebensenergie. Raban setzt sich abwartend ins Gras und lässt seinen Blick umherschweifen.
Plötzlich regt sich der Kolkrabe, dreht sich um und hockt neben dem Jungen.
»Hättest du etwas Schokolade für mich?«, fragt er mit schräg gelegtem Kopf.
»Aber klaro.« Ein großer Haufen Schokobrocken erscheint vor dem Kolkraben, der sich sofort das erste Stück schnappt. Raban betrachtet den schwarzen Vogel, der einen Brocken nach dem anderen hinunterschlingt. Es dauert nicht lange, und alle Stückchen sind verschwunden.
»Ups«, knarzt Röiven plötzlich mit leicht gesenktem Kopf. »Jetzt habe ich dir alles weggegessen. Kannst du noch ein paar herbeizaubern?« Er klappert mit den Augendeckeln und schaut mit schräg gehaltenem Kopf zu dem Jungen hinauf. »Du weißt ja, dass meine Versuche, mir selbst welche herbeizuzaubern, fehlschlagen.« Dieser lacht und erwidert.
»Stimmt. Du hast es einmal versucht. Deine »Schokolade« schmeckte aber keineswegs wie echte. Sie erinnerte mich ein wenig an …«
»Du musst so alte Geschichten nicht wieder hervorholen. Ich weiß auch, dass die Brocken ungenießbar waren. Ihr Geschmack …«
»… erinnerte an eingeschlafene Füße, jedenfalls mich. Es ist mir immer noch ein Rätsel, warum dir das misslingt. Vielleicht konzentrierst du dich nicht genug, du wirst durch übliche Fithichnahrung abgelenkt oder … Aber egal. Hier sind noch ein paar Stücke, falls DU noch Appetit haben solltest. Ich möchte nichts essen. Ich habe gerade erst gefrühstückt. Wenn es dir möglich ist, könntest du mir jetzt erzählen, wo wir hier sind und warum du am Ende deiner Kräfte im Gras liegst.«
»Ja, also. Das ist eine etwas längere Geschichte. Sie beginnt eigentlich, als ich noch nicht geschlüpft war und in einem Ei lebte.«
»So weit zurück musst du sicher nicht gehen«, versucht Raban, eine offenbar sehr lange Geschichte abzukürzen.
»Das war natürlich scherzhaft gemeint. Da es aber um mich geht, liegt dort der Anfang. – Um das jetzt kurz zu machen: Meine übergroße Sorge um die Kinder ist wohl die Ursache.«
»Aha. Kannst du noch ein bisschen genauer werden?«
»Zoe hat mir immer wieder gesagt, dass ich um die Kinder zu fürsorglich bemüht bin. Bei Ainoa hat sie sozusagen noch ein Auge zugedrückt, da wir sie ja beinahe verloren hätten. Bei unseren in diesem Jahr geschlüpften fünf Kindern verlangte sie aber vorgestern, dass ich sie endlich sich selbst überlassen solle. Das war, nachdem ich dich und Ilea unter der Linde verlassen hatte. Die haben sich vor uns versteckt, so dass wir sie nicht finden konnten. Zoe hat mich darauf hingewiesen, dass sie nun für sich selbst verantwortlich sind und mich aufgefordert, sie zu ihrer Familie im Norden zu begleiten. Sie wolle sie wiedersehen, da sie schon lange nicht mehr dort gewesen ist. Wenn ich unsere Kinder weiterhin zu sehr umsorge, enge ich sie derart ein, dass sie uns später nicht mehr besuchen kommen werden. Wenn ich mich dagegen so verhalte, wie ihre Eltern es bei ihr gemacht haben, würden unsere Kinder uns auch später noch gerne besuchen. Da ich nicht wusste, was richtig ist, zögerte ich zu lange. Mit einem ärgerlichen Knarzen flog Zoe davon. Da ich weiß, wo ich sie finde, ließ ich sie fliegen. Meine Kinder wollte ich wenigsten noch einmal sehen, bevor ich sie davonziehen lasse. Seitdem habe ich sie ununterbrochen gesucht, ohne Erfolg zu haben. Ich habe kein Futter zu mir genommen, damit ich keine Zeit verliere. Jetzt sorge ich mich sehr um meine Kinder. Hoffentlich ist ihnen nichts passiert!«