Читать книгу Sisgard und Alveradis - Norbert Wibben - Страница 8

Unterwegs zu Sisgard

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Sie hören das Plätschern eines Bachs, den sie bald darauf erreichen. Albin steht bereits mit seinen Vorderpfoten im Wasser und säuft schlabbernd. Die jungen Zauberer schöpfen mit den Händen etwas von dem klaren Nass und trinken ebenfalls. Auf großen Steinen am Bachlauf rasten sie eine kurze Zeit, um anschließend weiter dem Pfad zu folgen.

Der Weg wird von dem lustig murmelnden Bach begleitet, bis sie zu einer schmalen Steinbrücke kommen. Nach deren Überquerung folgt ein steiler Hang. Eila hält mit Finley Schritt, sie atmet nicht einmal schneller. Ihre Trainingsstunden mit Achaius und Deirdre haben sie nicht nur in Selbstverteidigung geschult, sie stärkten auch ihre Kondition.

Während sie den Berghang erklimmen, lichten sich die Bäume. Das Blätterdach ist nicht mehr geschlossen, so dass sie immer wieder nach oben schauen, ob dort vielleicht Vögel auffliegen oder kreisen.

»Anghofio totalus«, hört Eila ihren Begleiter rufen, während sein ausgestreckter Arm auf eine mächtige Eiche vor ihnen zielt. Sie sieht auf einem ihrer unteren Äste eine Saatkrähe, die ihre bereits gespreizten Flügel wieder sinken lässt und an ihren Körper legt. Sie reagiert nicht mehr auf die beiden Wanderer, selbst dann nicht, als diese auf dem Pfad direkt unter ihr stehen bleiben.

Zufrieden lächelnd sagt Finley: »Das hat ja gut funktioniert. Diese Krähe wird uns nicht verraten!«

Sie wandern weiter, aber beide schauen vorsichtshalber noch einmal prüfend zurück. Nein, der Vogel verlässt seinen Platz nicht.

Es dauert nicht lange, und der schützende Wald liegt hinter ihnen. Sie kommen hin und wieder an einigen Holunderbüschen, Krüppelkiefern oder Brombeerranken vorbei, die aber immer seltener werden, je höher sie den Berghang erklimmen.

Menschen sehen sie nirgends. Viele von ihnen aufgescheuchte Kaninchen werden ebenso wie einige Dohlen mit dem Vergessenszauber belegt. Als sie endlich den Bergrücken erreichen, ist es schon früher Nachmittag. Die Spätsommersonne hat noch erhebliche Kraft, so dass beide nach einer Rastmöglichkeit ausschauen. In einiger Entfernung sehen sie einen Unterstand für Schafe, in dessen Schatten sie sich im Gras niederlassen.

Während sie sich umsehen, erblicken sie in der Ferne einen grauen Hügel hinter dem durchwanderten Wald. Dessen merkwürdig gezackter Gipfel wirkt auf Eila vertraut.

Sie denkt an die Zeit der Ausbildung durch Erdmuthe zurück, dort bei dem Kloster »Das heilige Kreuz«. Leicht seufzend krault sie Albin. Überrascht stellt sie in diesem Augenblick fest, dass sie noch nicht einmal gefragt hat, wie weit der Weg zu ihrer neuen Ausbildungsstelle ist.

»Finley, wie weit ist der Weg zu Sisgard, und wann werden wir dort sein? Erwartet sie uns? Soweit ich weiß, hat sie keinen festen Aufenthaltsort. Wie sollen wir sie dann finden?«

Er blickt in ihr erstauntes Gesicht, um dann zu erwidern: »Ich habe mich schon gefragt, warum du das bisher nicht wissen wolltest. Aber es war ja auch allerhand los, darum wunderte mich das dann doch nicht.«

»Ja, das stimmt. Aber jetzt möchte ich es wissen«, kommt ihre Antwort mit leicht gekräuselter Stirn.

»Hey, das war nicht böse gemeint. – Wie du vielleicht weißt, befindet sich Sisgard meistens im Osten des Landes, wobei sie keine bevorzugte Behausung hat. Sie ist hin und wieder bei der Elfe Sorcha zu finden und manchmal in einer alten Festung an der Ostküste, die sie Castellum Saxi nennt, die Felsenburg. Sisgard hält sich bisweilen aber auch in einem kleinen Haus auf dem Land auf, das von großen Heideflächen umgeben ist. Außerdem besucht sie sehr oft ein kleines Farmhaus in der Nähe eines Dorfes, das ungefähr in der Mitte zwischen allen bisher genannten Orten gelegen ist. In diesem kleinen Weiler ist übrigens Knuth aufgewachsen. Der junge Zauberer, der durch deine Hilfe gerettet werden konnte.«

»Wie lange werden wir brauchen, um den ersten dieser Orte zu erreichen? Werde ich in dem Dorf auch Knuth treffen?«, will sie nun wissen.

Finley verspürt einen leichten Stich, als sie sich nach Knuth erkundigt, aber das ist sofort wieder vergangen. »Sie will sich sicher nur mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihm jetzt gut geht«, denkt er.

Laut antwortet er: »Wir werden zuerst Sorcha aufsuchen. Der Weg dorthin ist der kürzeste. Wenn Sisgard nicht dort ist, werde ich dich in der Obhut der Elfe lassen, um dann an den anderen Orten zu forschen. Dafür nutze ich den magischen Sprung, was unsere Suche erheblich abkürzen wird. Vielleicht triffst du Knuth bei unserer Suche, oder während du von Sisgard ausgebildet wirst. Wir könnten Sorcha in etwa zehn Tagen erreichen, wenn wir weiter so vorsichtig wandern. Wenn wir uns unterwegs Pferde ausleihen dürften, kämen wir schneller voran. Das müssen wir wegen möglicher Späher aber unterlassen, oder stimmst du mir nicht zu?«

»Doch, wir sollten lieber vorsichtig sein. –

Aber erkläre mir bitte, was eine Elfe ist, und warum du sicher bist, dass du mich bei ihr zurücklassen kannst, während du Sisgard suchst.«

Finley blickt sie erstaunt an, doch dann nickt er.

»Ich habe ganz vergessen, wie jung du noch bist.« Er lässt sich nicht unterbrechen, obwohl sich ihre Stirn bereits erneut kräuselt und sie tief Luft holt.

»Sei bitte nicht so empfindlich. Dein Können in Zauberei ist großartig. Da die Ausbildung frühestens beginnt, wenn der angehende Zauberer 18 Jahre alt ist, dauert es viele Jahre, bis das Erlernte deinem Können gleichkommen kann. Unterbewusst habe ich dich also älter gemacht, als du bist. Während dieser langen Lehrjahre hättest du auch vieles über magische Wesen erfahren. Das ist natürlich in der kurzen Zeit deiner bisherigen Ausbildung nicht möglich gewesen. –

Elfen sehen aus wie normale Menschen, obwohl sie eine überirdische Schönheit besitzen. Sie werden wesentlich älter als normale Sterbliche, so dass diese Schönheit nicht merklich altert. Sie sind äußerst hilfsbereite Wesen und stehen von Anbeginn an auf unserer Seite im Kampf gegen die Dubharan.

Wegen ihrer unvergänglichen Schönheit halten sie sich im Allgemeinen vor Menschen verborgen. Diese könnten das nicht erklären und würden ihnen vermutlich ablehnend gegenüberstehen.

Die meisten der Elfen leben im Norden, im geheimen Wald. Dort befindet sich auch Serengard, die Sternfestung. Elfen können sich viel schneller als Menschen bewegen. Sie sind mit dem Auge nicht zu verfolgen.

Im Kampf sind sie unschlagbar. Die Geschwindigkeit und Treffsicherheit ihrer Pfeilabschüsse sind atemberaubend. Im Kampf mit dem Schwert sind sie dermaßen schnell, dass sie zur Abwehr gegnerischer Hiebe keinen Schild benötigen, da sie diesen mit Leichtigkeit ausweichen können. Dabei sitzen ihre Schwertstreiche mit tödlicher Präzision.

Sie können mit Tieren kommunizieren, besonders gut mit Vögeln. Zaubern können nur einige wenige von ihnen. Ihre Anführer sind Bhatair und Solveig, die beide geübte Zauberer sind.

Sorcha lebt getrennt von den anderen Elfen im Osten des Landes, sie ist einer ihrer Außenposten, der in enger Verbindung zu Sisgard steht. Ihre Lieblingstiere sind Wanderfalken, die schnellsten unter den Vögeln. Ob sie zaubern kann, weiß ich nicht. Vielleicht verrät sie es dir, wenn wir bei ihr sind.

Eines habe ich noch vergessen zu sagen. Elfen sind sehr stolz, daher wirken sie auf unerwartete Besucher manchmal etwas kühl und arrogant. Also versuche bitte vorsichtig ihr Vertrauen zu gewinnen. Haben sie aber erst einmal Freundschaft mit jemandem geschlossen, stehen sie unverbrüchlich zu ihm, solange sie einen Atemzug machen können!«

»Danke, ich werde versuchen, nicht ungeduldig mit ihr zu sein. Wenn sie aber auf meine Jugend anspielt, kann ich schon mal empfindlich reagieren.« Beim letzten Satz zwinkert sie Finley zu.

Albin stupst beide an und schaut dann in ihre Wanderrichtung. Beide erheben sich, während Eila ihn lobt: »Ist ja gut, wir müssen weiter. Die Rast war lange genug.« Sie schauen wieder ringsum nach anderen Lebewesen, können aber keine entdecken.

»Was meinst du, wie lange müssen wir noch derart auf der Hut sein?«, will das Mädchen wissen.

»Heute auf jeden Fall noch. Wenn wir morgen in der Tiefebene unterwegs sind, ist das nicht mehr erforderlich, sobald wir die erste Wegkreuzung hinter uns haben. Wenn wir dann von einem Späher gesehen werden, könnten wir von überall hergekommen sein. Wir sehen dann wie normale Wanderer aus.«

»Das ist gut. Auf Dauer ist diese Vorsicht sehr ermüdend. Außerdem könnten wir dabei beobachtet werden, wie wir den Vergessenszauber nutzen, ohne dass wir das mitbekommen müssten.«

»Richtig, also lass uns möglichst schnell diesen weithin sichtbaren Bergrücken verlassen!«

Sie wandern mit beschleunigtem Schritt weiter und beobachten die Berghänge und den Himmel. Von Zeit zu Zeit müssen sie einige Vögel und Kaninchen verzaubern.

Am Spätnachmittag verlassen sie den Weg auf dem Bergrücken, um einem abzweigenden Pfad den Hang abwärts zu folgen. Die ersten Umzäunungen sind zu sehen, die aber nicht genutzt werden. Bisher vereinzelt stehende Sträucher werden immer häufiger, so dass sie manchmal kleine Gebüsche bilden. Jetzt müssen sie den Zauber immer öfter anwenden. Viele Dohlen und kleine Vogelschwärme suchen dort Unterschlupf.

Die ersten Bäume werden passiert, als die Dämmerung bereits einsetzt. Lautes Blöken einiger Schafe lässt sie erneut den Zauber sprechen. Noch immer ist kein Mensch in Sicht.

Halt, da vorne ist eine alte Hütte. Hat sich dort nicht gerade etwas bewegt? Vorsichtig um sich spähend, gehen sie langsam weiter. Die alte Hütte entpuppt sich als Stall, der aus grauen Steinen errichtet worden ist. Das pultförmige Dach ist mit der niedrigen Seite zum Berghang ausgerichtet. Es besteht aus alten, dünnen Steinplatten, die auf Knüppelholz gelegt wurden. Jetzt erkennen sie auch, woher die Bewegung kam. Ein alter Tuchfetzen hat sich an einem der knorrigen Knüppel verfangen und flattert etwas, sobald eine Windböe ihn erreicht. Beide atmen auf, sie hatten jetzt mit einem Menschen gerechnet.

Der Stall wird untersucht. Innen scheint er trocken zu sein. Etwas Heu finden sie auch, so dass sie beschließen, die Nacht über hier zu bleiben.

Eila spricht erneut ihre Schutzzauber, dann essen sie etwas und fallen beide in traumlosen Schlaf. Albin schläft auch. Er hat sich neben Eila ausgestreckt, den Kopf in Richtung des Eingangs. Hin und wieder zuckt eines seiner Ohren im Schlaf.

Am Morgen erwachen beide durch ein leises Knurren des Hundes. Er steht am Eingang des Stalls und schaut nach draußen. Beide Ohren sind aufgerichtet, seine Rute hängt aber entspannt nach unten. Sein Fell ist auch nicht gesträubt, also droht keine direkte Gefahr.

Trotzdem stehen die jungen Zauberer sofort bei ihm und lugen vorsichtig nach draußen. Erleichtert bemerken sie lediglich fünf Schafe, die sich grasend ihrem Unterschlupf nähern.

In diesem Moment denkt Eila an Erdmuthes Ziegen, die durch ihre Ausbilderin plötzlich in todbringende Kämpfer verwandelt werden können. Sollten die so harmlos erscheinenden Schafe ebenfalls verzaubert werden können, so dass sie doch gefährlich sind?

»Anghofio totalus«, murmelt Eila, ihre Hände versteckt auf die Schafe gerichtet. Falls ein Zauberer in geistigem Kontakt zu den Tieren steht, soll er nicht bemerken, dass sie gerade einen Zauber wirkt. »Vielleicht erreicht der Zauber über den geistigen Kontakt auch den Zauberer?«, hofft das Mädchen heimlich, obwohl das vermutlich unwahrscheinlich ist.

Nach einem hastigen Frühstück brechen sie wieder auf. Sie wollen möglichst schnell die erste Wegkreuzung erreichen.

Das karge Gras der Weiden wird bereits leicht bräunlich. Dieses Jahr hat es wenig Regen gegeben. Auch jetzt scheint die Sonne wieder. Einige Wiesenblumen färben die sonst eintönige Fläche etwas bunt. Ab und zu sind violett blühende Heidebüsche dazwischen. Hier gibt es aber wohl nicht so viele davon, wie im Norden. Eila denkt etwas wehmütig an die Gegend, in der ihr Großvater wohnt.

»Hoffentlich geht es Brian gut!« Sie macht sich leichte Vorwürfe, dass sie ihn wohl für längere Zeit nicht sehen wird.

»Du musst dich um deine Zaubererausbildung kümmern. Der Einfluss der bösen Zauberer wird immer größer. Es gibt vermehrt seltsame Unglücksfälle, für die unsere Behörden keine Erklärungen finden. Für mich ist aber klar, dass das die Dubharan sind. Ich bin überzeugt, dass du dich nur schützen kannst, wenn du schnell mit der Entwicklung deiner Fähigkeiten vorankommst. Sobald du den magischen Sprung anwenden darfst, kannst du mich kurz besuchen. Aber erst dann!«, hatte er an einem ihrer letzten gemeinsamen Abende von ihr gefordert. Das hat sie sich fest vorgenommen, aber es wird erst in etwa zwölf Wochen soweit sein. Sie seufzt und konzentriert sich wieder darauf, die Umgebung nach möglichen Spähern abzusuchen.

Vor ihnen liegt ein Gebüsch, dessen dichtes Laubwerk sie mit Blicken nicht durchdringen können. Einige Felsbrocken sind davor verstreut. Albin läuft etwas voraus. In diesem Augenblick steht er stocksteif und lässt ein tiefes Grollen in seiner Kehle erklingen. Seine Ohren sind nach vorne gerichtet und sein Fell ist gesträubt. Er zieht seine Lefzen hoch. Finley und Eila sind alarmiert und gehen vorsichtig auf das Strauchwerk zu. Das Mädchen schaut sich vorsichtshalber noch einmal um.

Ungläubig sieht sie zwei Wölfe auf dem Weg heran spurten. Nein, es sind sogar vier. Wo kommen die denn her? Hinter ihr erklingt jetzt bedrohliches Knurren, sowohl von Albin, als auch von weiteren Wölfen. Sie werden dort von einem kleinen Rudel aus insgesamt fünf Wölfen angegriffen. Diese halten ihre Köpfe etwas gesenkt und zeigen drohend gefletschte Zähne. Ihr Fell ist gesträubt.

»Bleib hinter mir«, fordert Finley sie auf, der die vier Wölfe in ihrem Rücken noch nicht bemerkt hat. »Albin und ich kümmern uns um diese Viecher.«

Worauf Eila ruhig zurückgibt: »Abgemacht, dann übernehme ich die vier auf meiner Seite.«


Der junge Zauberer wirbelt herum, erschrocken wägt er ab, wo er zuerst eingreifen muss.

»Eila kennt doch nur Defensivzauber, wie können die jetzt helfen?«, überlegt er, während er sich wieder den wesentlich näheren fünf Angreifern zuwendet. Er muss erst hier für Sicherheit sorgen. Die Wölfe auf dieser Seite beginnen sich zu verteilen. Sie wollen ihre Gegner einkreisen.

Jetzt stürzt sich Albin auf einen besonders großen Wolf, vermutlich das Alpha-Tier. Finley schleudert den ersten Blitz, der einen Wolf zu Boden streckt, der sich gerade auf Albin stürzen will. Jetzt trifft ein weiterer Blitz sein Ziel. Die letzten beiden Wölfe werden kurz darauf ebenfalls ausgeschaltet. Nach einem kurzen Moment ist auch das fünfte Tier erledigt. Es war für Albin nicht einfach, aber er hat es ohne das Eingreifen des Zauberers geschafft.

Dieser dreht sich sofort in die andere Richtung, um erstaunt auszurufen: »Wo verstecken sich denn die vier, oder sind sie vor Schreck geflohen?« Jetzt stockt er. Eilas Haare leuchten noch etwas, dann ist nichts mehr davon zu bemerken. Ihr Blick mutet eher traurig als froh an.

»Was ist passiert? Du hast sie mit einem Zauber erledigt, aber wie?«

Eila schluckt, dann erklärt sie: »Auch wenn sie uns angegriffen haben, waren es doch Lebewesen. Ich werde heute Nacht sicher nicht gut träumen. Ich weiß, es musste sein, trotzdem schmerzt es mich. –

Ja, ich habe sie getötet. Mit »Torpor« habe ich sie gelähmt dann hat »Interrumpo« den Erdboden aufgerissen und sie verschluckt. Ich bin wirklich nicht stolz darauf, dass ich diese, von Erdmuthe erlernten Sprüche genutzt habe.«

»Beruhige dich, du hattest keine Wahl. Entweder sie oder wir. Sie hätten uns sicher nicht verschont, sondern zerrissen und getötet. Wir haben das auf jeden Fall schnell erledigt, so dass sie nicht leiden mussten.«

Das Mädchen nickt zwar, trotzdem bleibt sie etwas bedrückt.

»Wir müssen überlegen, was dieser Angriff für uns bedeutet. Sind uns die Dubharan auf der Spur? Waren die Wölfe zufällig hier, oder nicht?«

Beide wandern grübelnd weiter, können aber keine befriedigende Erklärung finden.

Die Umgebung wird jetzt noch genauer beobachtet. Die Landschaft verändert sich nicht. Eine große Ebene erstreckt sich in alle Richtungen, bis hin zum Horizont. Als sie eine Wegkreuzung passieren, atmen sie etwas auf. Eine Stunde später kommen sie an einer weiteren vorbei. Bald darauf erreichen sie einen Unterstand, den sie für eine kurze Rast nutzen. Bis hierhin haben sie jedes entdeckte Tier mit dem Vergessenszauber belegt. Menschen sind ihnen immer noch nicht begegnet.

Als sie weitergehen, beschließen sie, diesen Zauber nun wegzulassen. Sie wandern jetzt wesentlich entspannter und kommen schneller voran. Trotzdem meiden sie den am Horizont auftauchenden Ort. Sie übernachten in der Scheune eines einsamen Farmhauses. Das verfallene Haus wird nicht mehr genutzt. Das Nebengebäude ist für eine Übernachtung aber akzeptabel, und bietet den Vorteil, nicht in der Nähe bewohnter Anwesen zu stehen.

Wie jeden Abend spricht Eila ihre Schutzzauber.

In der Nacht träumt Eila.

Wie sie vermutet hatte, sieht sie den Kampf mit den Wölfen. Sie entdeckt keine anderen Lebewesen in der Nähe, also sollte die Abwehr des Angriffs nicht durch Späher entdeckt und gemeldet worden sein. Obwohl sie RÜCKWÄRTS versucht, kann sie in der Sequenz nicht vor den Zeitpunkt gelangen, an dem die Tiere von ihnen entdeckt worden sind. Sie kann also nicht klären, ob die Wölfe vielleicht geschickt wurden, oder den Angriff von sich aus versuchten.

Eila wälzt sich unruhig hin und her, und der Traum ändert sich.

Sie erkennt ihren Großvater. Er sitzt mit einem dampfenden Kakao in seinem Ohrensessel. Er trinkt langsam und sieht nachdenklich zu dem gegenüberstehenden, leeren Sessel hinüber. Er nickt kurz ein. Als er erwacht, lächelt er noch etwas schlaftrunken in Richtung des anderen Sessels. Er sieht zufrieden aus.

Der Traum ändert sich erneut.

Jetzt sitzt Eila auf dem Rücken eines grauweißen Pferdes, dessen Fell leicht silbern zu schimmern scheint. Sie galoppieren über leicht ansteigendes Flachland, dessen karger Bewuchs mit Raureif überzogen ist. Diese Sequenz hatte sie bereits im letzten Herbst in Coimhead gesehen. Von rechts kommt ein Rudel grauer Wölfe. Sie bilden eine auseinandergezogene Kette.

Das Pferd rast schneller auf den Bergrücken vor ihnen zu. Nun sieht sie Albin rechts neben dem Pferd laufen. Sein Kopf blickt in Richtung der Wölfe. Die vorderen Wölfe verharren in der Bewegung und werden vom Erdboden verschluckt, doch die anderen kommen näher. Erneut verschwinden mehrere Tiere im Boden, nachdem diese erstarrt waren. Kurz darauf kreisen die restlichen Tiere sie ein.

BEWEGEN Eila will sich gerade umsehen, als sie aus dem Traum gerissen wird.

Nicht weit entfernt von ihr begrüßt eine Henne das soeben gelegte Ei mit aufgeregtem Gegacker.

Eila richtet sich erschrocken auf und blickt alarmiert um sich. Die junge Zauberin beruhigt sich aber, als sie das plötzliche Geräusch eingeordnet hat. Sie bedauert, dass sie die Sequenz nicht weiterverfolgen konnte. Ob sie mit Albin allein unterwegs ist, und wo das wohl sein könnte, vermag sie nicht zu ergründen.

Da die Sonne bereits die ersten Strahlen in die Scheune wirft und Finley durch das Huhn ebenfalls geweckt wurde, frühstücken sie. Ihr Proviant beginnt schon zu schwinden, also müssen sie bald für Nachschub sorgen. Gemeinsam diskutieren sie die von Eila gesehenen Sequenzen. Der Ritt auf dem Pferd findet in der Zukunft und während einer kälteren Jahreszeit statt, mehr kann dazu nicht ermittelt werden.

Der gestrige Kampf mit den Wölfen scheint von keinem Späher gesehen worden zu sein, also werden die Dubharan wohl nichts davon erfahren. Sie können im Moment also relativ sicher sein, nicht weiter verfolgt zu werden. Wenn sie jetzt durch Beobachter gesehen werden, wirken sie wie normale, zu Fuß Reisende.

Die kurze Sequenz mit ihrem Großvater sagt nichts aus. Es könnte auch einfach nur ein Traum gewesen sein. Trotzdem freut sich Eila, ihn »gesehen« zu haben.

Da sie noch einen weiten Weg vor sich haben, brechen sie auf. Obwohl die Sonne Strahlen in die Scheune geworfen hat, erkennen sie bei deren Verlassen, dass sich bereits viele dunkle Wolken am Himmel gebildet haben. Sie verdichten sich im Laufe des Vormittags, um schließlich den ganzen Himmel zu verdunkeln. Als die ersten Blitze zucken und tiefe Donner grollen, prasseln dicke Regentropfen auf sie herab. In kürzester Zeit wirkt die Umgebung gespenstisch. Es ist fast so dunkel wie in der Nacht, die aber immer wieder von grellen Blitzen erleuchtet wird. Bäume, Büsche und auch vereinzelte Steinmauern erscheinen unwirklich in diesem kurz aufleuchtenden, kalten Licht. Hin und wieder ist das entfernte Gebell von Hunden zu hören, die dem Donnern antworten. Albin bleibt davon aber ungerührt. Er läuft ruhig vor ihnen her. Als sie in dem dichten Regen die ersten Häuser eines kleinen Ortes erkennen, beschließen sie, dort das Unwetter vorüberziehen zu lassen. Vor ihnen dringt gelber Lichtschein aus den Fenstern eines Gasthofs, den sie erleichtert betreten. Im Vorraum schüttelt Albin sich ausgiebig, während die jungen Zauberer ihren Regenschutz ausschütteln. Ihre Hosen sind an den Beinen völlig durchnässt, obwohl ihre Oberkörper trocken geblieben sind.

Den Gastraum betretend, empfängt sie die wohlige Wärme eines großen Kaminfeuers. Dankbar stellen sie sich davor und reiben ihre klammen Hände. Nach einer Weile bemerken sie, dass der vorher leere Raum wohl nicht mehr ihnen allein gehört. Sie drehen sich um und blicken in das freundliche Gesicht eines gemütlich wirkenden Gastwirtes.

Er zeigt ein breites Lächeln, als er sie fragt: »Wo soll es denn bei diesem Wetter hingehen? Da wird doch nicht einmal ein Hund vor die Tür gejagt.« Er grinst nun etwas. »Einer offensichtlich schon, aber er ist ja nicht alleine unterwegs. – Was kann ich für euch tun, möchtet ihr eine heiße Suppe? Es gibt heute Linsensuppe nach Art des Hauses, das heißt mit ordentlich durchwachsenem Speck darin und hausgemachten Bratheringen dazu.«

»Das hört sich verlockend an! Wir möchten davon zwei große Portionen. Unser Hund hätte aber sicher gerne ein ordentliches Stück Wurst oder Fleisch« antwortet Finley, nachdem Eila zustimmend genickt hat. »Wir sind auf der Reise zu unseren Großeltern an der Südküste«, ergänzt er, wobei er einen kleinen Ort nennt.

»Da habt ihr aber noch eine große Strecke vor euch. So wie das aussieht, wird sich das Wetter heute nicht mehr ändern. Wollt ihr vielleicht hier übernachten? Ich habe zwar keine Gästebetten, dafür ist das Heu im Stall aber trocken und wärmt ganz ausgezeichnet.«

»Wir möchten eigentlich heute noch weiter, da der vor uns liegende Weg noch weit ist. Trotzdem Danke für das Angebot. Vielleicht nehmen wir es ja doch noch an. Zuerst möchten wir uns noch etwas aufwärmen und natürlich die Linsensuppe versuchen.« Finley ist vorsichtig. Der Wirt wirkt nicht gefährlich, aber sie könnten noch einen halben Tagesmarsch zurücklegen, wenn sie nicht hierbleiben.

Sie setzen sich in die Nähe des Feuers an einen Tisch. Albin hat sich bereits zufrieden vor dem offenen Feuer ausgestreckt. Der Wirt verschwindet durch eine Tür, um das Gewünschte herbeizuholen.

Nach wenigen Augenblicken bringt er dem Hund eine Schüssel mit Wasser und fragt seine Gäste: »Möchtet ihr auch Wasser oder etwas anderes?«

»Wir nehmen gerne heißen Pfefferminztee, falls sie welchen haben«, antwortet Eila.

»Natürlich, ich nehme die Blätter dafür frisch von Pflanzen in meinem Garten. Eine gute, alte Bekannte liebt diesen Kräutertee über alles, also habe ich genügend davon vorrätig.« Während dieser Worte schaut er sie etwas lauernd an. Oder war das nur Einbildung? Eila ist sich nicht sicher. Der Wirt eilt geschäftig hinaus, um ihnen bald darauf den belebend duftenden Tee in zwei Steinguttassen zu bringen.

»Falls ihr mögt, könnt ihr etwas Honig hineingeben, ich bevorzuge ihn aber ungesüßt.« Lächelnd stellt er einen kleinen Steinguttopf auf den Tisch, aus dem ein runder Holzstiel hervorschaut. »Die Suppe kommt in zehn Minuten, sie muss noch einmal kurz aufkochen.«

Nach dem Essen fühlen sich die jungen Leute ausgeruht, so dass sie beschließen, trotz des Regens das Angebot zur Übernachtung nicht anzunehmen. Außerdem fühlen sie sich hier nicht wohl, der Wirt erscheint ihnen zu redselig. Sie bedanken sich und erstehen etwas Proviant für den weiteren Weg. Dann brechen sie auf. Der Himmel ist jetzt nicht mehr so dunkel, aber aus der geschlossenen, grauen Wolkendecke schüttet ein andauernder Landregen herab.

Gegen Abend lässt er langsam nach, um schließlich ganz zu versiegen. Viele Pfützen stehen auf dem unebenen Weg, denen sie aber ohne Probleme ausweichen können. Jetzt sehen sie vermehrt mit Steinmauern oder Weißdorn umgrenzte Weideflächen, auf denen Schafherden grasen. Bevor es ganz dunkel ist, sehen sie auf einer der Weiden einen baufälligen Schafstall. Sie beschließen, dort die Nacht zu verbringen. Die Wände bieten Schutz vor dem aufkommenden Wind. Das Dach weist allerdings viele Lücken auf. Das eintönige Tropfen der letzten Feuchtigkeit vom Dach herab lässt sie bald einschlafen.

In der Nacht wachen sie von Albins warnendem Grollen auf. Sie erheben sich und blicken an einer Wand vorbei hinüber zum Weg. Dort sehen sie eine dunkle Masse. Sie hören ein leises Wiehern und Schnauben von Pferden und deutliche Menschenstimmen.

»Wir sollten den alten Unterstand untersuchen, dort könnten sie Schutz gegen den Wind gesucht haben.«

»Vielleicht sind sie aber doch Richtung Süden unterwegs?«

»Ich schaue jedenfalls hier nach«, worauf sich ein kleinerer, dunkler Schatten auf sie zubewegt.

Schnell entschlossen wendet Eila ihre erprobten Sprüche an. »Torpor« stellt Albin ruhig. Sie berührt Finley und Albin und murmelt »Cuddio diogelu.« Nun befinden sie sich im Boden des Schafstalls. Eila streckt ihre Hände nach oben und beschreibt mit ihnen eine Kuppel, während sie: »Occulo magus, Firmo defensio, Anghofio, Miscere und Sgiath«, murmelt. Während der Sprüche knistern und leuchten ihre Haare erneut mit einem rotgoldenen Schimmer an den Spitzen. Erst nach geraumer Zeit erlischt er.

Finley flüstert ihr zu: »Du musst etwas gegen das Leuchten deiner Haare unternehmen. Irgendwann verrät dich das!«

»Wie, meine Haare erhellen sich? Das ist mir bisher nicht aufgefallen. Ich habe wohl ein Kribbeln verspürt, was ich als Folge meiner Konzentration auf den jeweiligen Zauber gedeutet habe. Erdmuthe hat mir davon auch nie etwas gesagt«, flüstert Eila erschrocken. »Hoffentlich war das jetzt nicht draußen zu sehen!«

In diesem Moment kommen zwei Schatten um die Mauerecke. Sie durchsuchen den Unterschlupf und leuchten mit Windlichtern in jeden Winkel, finden aber nichts.

»Ich hätte schwören können, dass hier gerade noch ein Lichtschein zu sehen war.« Sie erkennen diesen Mann an seiner Stimme, es ist der Wirt aus dem Gasthaus.

»Die beiden werden harmlose junge Leute sein, die tatsächlich auf dem Weg nach Süden sind«, antwortet der andere.

»Ich bin mir nicht sicher. Ich meinte, dass mich das Mädchen forschend anblickte, als ich die alte Bekannte mit ihrer Vorliebe für Pfefferminztee erwähnte. Ich hatte gehofft, falls jemand zur Ausbildung bei Erdmuthe gewesen ist, wird er sicher auf meine scheinbar harmlose Bemerkung reagieren.«

»Könnten die beiden doch von Erdmuthe kommen und sich so gut verstellt haben, dass sie dich täuschen konnten?«

»Kann sein, darum sollten wir noch weiter in Richtung Osten suchen.«

»Aber wenn sie aus Richtung der Klosterruine gekommen wären, hätten sie unsere Sperre passieren müssen. Haben die beiden etwas darüber erzählt?«

»Das haben sie nicht. Sie sahen auch nicht so aus, als wenn sie eine Auseinandersetzung mit den Wölfen der Sperre gehabt hätten. Selbst wenn sie Zauberer sein sollten, wären sie erst Zauberlehrlinge, so jung wie sie aussahen. Gegen neun Wölfe hätten sie nicht ohne kleinere Schrammen bestehen können.«

»Das spricht doch dafür, dass wir umkehren können. Warum sollen wir auf diesem Weg weitersuchen?«

»Dies ist die kürzeste Verbindung zu einer möglichen Ausbildung bei Sisgard. Wenn wir sie bis zum Morgen aber nicht finden, werden sie doch wohl keine Zauberlehrlinge sein. Bearach hat uns dann unnötig um unseren Schlaf gebracht.«

Während der letzten Sätze haben sie den Unterstand verlassen und begeben sich zurück zu den anderen. Als sie dort angekommen sind, hebt Eila ihre Zauber auf. Sie sehen schemenhaft fünf Reiter auf dem Weg Richtung Osten verschwinden.

Eila krault Albin. »Gut gemacht, du bist ein wirklich guter Wachhund.« Obwohl die jungen Zauberer wissen, dass die Reiter bis zum Morgen weitersuchen wollen, und sie somit nicht in direkter Gefahr sind, können sie nicht sofort einschlafen. – Die Wölfe waren also doch eine Falle für sie! Hoffentlich wurden sie nicht über einen geistigen Kontakt kontrolliert. Wenn das so gewesen wäre, hätten sie sich doch wohl in Wolfskrieger verwandelt. Außerdem sollten sie dann Unterstützung durch Zauberer bekommen haben. – Diese Gedanken gehen beiden durch den Kopf.

Sie werden den morgigen Vormittag in diesem Unterstand bleiben, bis die Beobachter der Dubharan in der anderen Richtung verschwunden sind. Falls Eila und Finley zu früh aufbrechen, besteht die Gefahr, dass sie ihnen direkt in die Arme laufen.

Vormittags sehen sie, wie die vom klaren, blauen Himmel scheinende Sonne die Feuchtigkeit von gestern als feinen Dunst aufsteigen lässt. Die Schafe lassen sich das leicht angefeuchtete Gras schmecken und wandern langsam umher. Die jungen Zauberer müssen sich ungefähr bis zum Mittag gedulden, um fünf Reiter mit verdrossenen Gesichtern vorüberziehen zu sehen. Einer von ihnen ist eindeutig der Wirt, bei dem sie gestern waren. Auch er blickt missmutig. Als sie ihren Blicken entschwunden sind, warten sie noch fünf Minuten. Sie sind froh, dass sie das Angebot des Wirts, dort zu übernachten, nicht angenommen hatten. Wer weiß, was dort passiert wäre?

Voller Ungeduld brechen sie auf.

Sisgard und Alveradis

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