Читать книгу Sisgard und Alveradis - Norbert Wibben - Страница 9
Sorcha
ОглавлениеDie nächsten Tage verlaufen ohne weitere Zwischenfälle. Das Wetter ist tagsüber immer noch sommerlich warm, dafür werden die Nächte bereits empfindlich kalt. Die Blätter der Bäume und Büsche verfärben sich bereits herbstlich. Warmes Braun und Rot breiten sich aus, das Grün wird blasser. Das Gelände beginnt etwas wellig zu werden und erste Hügel müssen erklommen werden. In kleinen Ortschaften versorgen sich die Wanderer mit Proviant. Aus munter plätschernden, kleinen Bächen nehmen sie sich Wasser zum Trinken. Auf ihrer Wanderung begegnen sie nur selten anderen Menschen, die in der Einsamkeit scheu an ihnen vorbeigehen oder gelegentlich auch reiten. Albin wirkt mit seiner Größe und dem zotteligen Fell etwas furchteinflößend, obwohl er sich völlig ruhig verhält und sie scheinbar nicht beachtet.
Es ist bereits später Nachmittag. Leichte Nebelschwaden steigen aus blaugrünem Riedgras auf. Vögel erheben sich aus vereinzelt stehenden Krüppelkiefern. Vorsichtshalber wenden Finley und Eila seit dem Morgen wieder den Vergessenszauber an, der auch diese Vögel trifft, als sie, weitab von jedem Ort und anderen Häusern, zu einem kleinen Anwesen kommen. Es ist schon sehr alt. Das mit Schilf gedeckte Dach ist stark wellig. Trotzdem wirkt es durch das sichtbare Fachwerk der Mauern einladend auf sie.
»Das ist das Haus von Sorcha«, sagt Finley, auf das Gebäude deutend. »Vielleicht treffen wir Sisgard hier. Sei auf jeden Fall vorsichtig, wenn du mit Sorcha redest. Sie ist manchmal schnell erzürnt, wie ein junges Mädchen«, fügt er lächelnd hinzu.
»Ich bin nicht …«, beginnt Eila, um schnell abzubrechen. Sie lächelt verschämt zurück.
Eine Tür, in der Längsseite des Hauses wird geöffnet. Eine große, schlanke Gestalt, mit langen, blonden Haaren tritt heraus. Das Haar ist mit einem geflochtenen, grünen Band um den Kopf fixiert. Gerüstet ist sie mit einem seltsam geformten Bogen und goldglänzendem Arm- und Beinschutz. Das von einem dunkelgrünen Band umgürtete Gewand ist weiß und reicht bis zu den Knien hinab. Über ihrer Schulter sind die gefiederten Schäfte vieler Pfeile sowie ein Schwertgriff zu sehen.
Die junge Frau legt einen Pfeil auf und spannt den Bogen.
»Wer seid ihr und was wollt ihr hier?« Ihre helle Stimme klingt klar und gebieterisch. Ihre Erscheinung erinnert Eila etwas an Deirdre in ihrer Kampfausrüstung, als diese im letzten Jahr zur Rettung Erdmuthes auszog.
»Wenn du Sorcha bist, lass bitte deine Pfeile im Köcher. Ich bin Finley. Roarke hat mich beauftragt, Eila sicher zu Sisgard zu geleiten. Wir werden von Albin begleitet.« Dabei zeigt er erst auf das Mädchen und dann auf den Hund. »Ist Sisgard hier? Sie kennt mich und wird dir bestätigen, dass ich die Wahrheit spreche. Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir dir etwas Übles wollen.«
In diesem Moment erklingt ein helles Lachen. »Ich bin Sorcha! Warum sollte ich Angst haben?« Sie steht beim zweiten Satz schon nicht mehr vor dem Hauseingang, sondern an der Hausecke. Vor den Füßen der jungen Zauberer stecken vibrierend fünf Pfeile im Boden.
»Was soll das? Wir wollen dir nichts Böses!« Finley ist besorgt, er will nicht gegen eine befreundete Elfe kämpfen. Auch wenn er sie nicht persönlich kennt, Sorcha steht doch auf ihrer Seite!
Eila hat bereits anders reagiert und »Firmo defensio« sowie »Sgiath« gemurmelt. Ihre Haare knistern und leuchten wieder mit dem rotgoldenen Schimmer an den Spitzen.
Die klare Stimme der Elfe klingt zu ihnen herüber: »Was du sagst, könnte jeder behaupten. Welchen Beweis habt ihr dafür?«
Je drei neue Pfeile stecken vibrierend rechts und links von ihnen im Erdreich. Sorcha befindet sich nun an der gegenüber liegenden Hausecke.
»Solltest du uns nicht erst näherkommen lassen, damit du meinen Beweis ansehen kannst?«, mischt sich jetzt Eila ein.
»Schöner Versuch«, kommt es zurück, begleitet von zwei weiteren Pfeilen. Die Elfe steht jetzt wieder vor dem Hauseingang.
»Wir sind doch nicht zum Spielen hier«, empört sich Eila, »lass uns vernünftig miteinander umgehen!«
Die Antworten darauf sind ein erneutes helles Lachen und ein einzelner Pfeil, der direkt vor Eila in den Boden fährt.
»Torpor«, murmelt das Mädchen, während Finley zu der Elfe spricht, die jetzt an der ersten Hausecke steht:
»Sorcha, lass uns doch näherkommen. Du kannst jeden Beweis von uns haben, den du möchtest.« –
Doch es erfolgt keine Reaktion, weder ein Wort noch ein Pfeil.
»Lass uns die Pfeile mitnehmen und zu ihr gehen«, sagt Eila, während sie bereits die ersten aus dem Boden zieht.
»Was hast du vor? Wenn sie uns nun verletzt?«, fragt er erstaunt zurück.
»Das wird sie nicht, sie kann sich nicht bewegen!«
Finley blickt sprachlos zur Elfe und dann zu Eila. Gemeinsam bergen sie die Pfeile und gehen zur erstarrten Elfe hinüber.
»Wenn du den Zauber löst, müssen wir auf eine heftige Reaktion gefasst sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie deine Behandlung als friedliches Entgegenkommen ansehen wird.«
»Sie ist nur gelähmt, kann uns aber sehen und hören«, entgegnet Eila. Sie tritt zur Elfe und hält den Armreif an ihrem linken Handgelenk vor deren Augen. Dabei spricht sie langsam und deutlich: »Hier siehst du den Armreif eines auserwählten Zauberers. Es ist mein Armreif. Er hat mich nach dem Tod meiner Großmutter Mairead ausgewählt. Ich wurde bisher von Erdmuthe ausgebildet, die nach der Rettung von Professor Hlin nun in Serengard gepflegt wird. Finley begleitet mich auf der Suche nach Sisgard, damit ich von ihr weiter ausgebildet werden kann. Ich hoffe, du glaubst uns jetzt, unseren Beweis hast du jedenfalls gesehen! –
Ich löse jetzt deine Lähmung. Inhibeo.«
Gespannt warten die jungen Zauberer, wie die Elfe reagieren wird. Sorcha blickt Eila lange an, während sie dabei völlig unbeweglich bleibt. Das Mädchen zweifelt schon, ob sie den Zauber wirklich gelöst hat. Als ein helles Lachen erklingt, entspannt sie sich. Die bisher stolzen Gesichtszüge der Elfe blicken sie freundlich lächelnd an.
»Das ist mir noch nicht passiert. Ein Zauberlehrling hat mich kaltgestellt!«
Eila hält sich im Griff, sie darf jetzt nicht auffahren.
»Ich hatte durch Sisgard erfahren, dass ihr auf dem Weg zu ihr seid. Also klang eure Geschichte glaubhaft. Aber die Dubharan sind sehr hinterlistig, es hätte auch eine Falle von ihnen sein können. Es ist noch nicht lange her, da gab es einen Überfall auf mich. Nur das schnelle Eingreifen von Knuth hatte mich gerettet. – Ich glaube euch! Der Armreif ist ein eindeutiger Beweis. Ich staune aber, dass du mich derart außer Gefecht gesetzt hast!« Die Verwunderung steht ihr ins Gesicht geschrieben, sie blickt Eila ungläubig an.
»Das war vermutlich nur Glück«, flunkert diese. »Ich habe den Zauber mehr oder weniger blind in deine Richtung geschossen.« Zufrieden sieht sie, dass diese Erklärung angenommen wird. Sie möchte den Stolz dieser Elfe nicht verletzen. Sorcha erinnert sie sehr an Deirdre. Sie möchte sie gerne zu ihren Freundinnen zählen. Darum verschweigt sie lieber, dass sie mittels Schlussfolgerung die Stelle festgelegt hatte, wohin der Zauber gesendet werden musste.
Gemeinsam betreten sie nun das Haus. Die Elfe legt ihre Waffen ab. Dann wechseln sie in einen kleinen, gemütlichen Wohnraum. An einer Wand stehen bis zur Decke reichende Bücherregale. Eine andere zeigt viele Landschaftsbilder, die etwas an den Norden des Landes erinnern. Ein Unterschied besteht darin, dass der Baumbewuchs üppiger ist. Auf einem Bild ist eine stolze Burg abgebildet.
»Das ist Serengard«, erläutert Sorcha, während sich ihr Blick etwas verträumt in die Ferne richtet. »Da ist meine Heimat.«
»Es sieht schön dort aus, so friedlich! Es erinnert mich etwas an den Norden, wo mein Großvater Brian lebt, und wo ich aufgewachsen bin.«
»Serengard liegt im geheimen Wald, das ist ebenfalls im Norden. Der Wald ist wirklich geheim. Er ist durch Zauber den Blicken Anderer verborgen. Man kommt dort nur hinein, wenn man den Zugang kennt und sich als Freund ausweisen kann. Darum ist es dort auch wirklich friedlich. Die Dubharan konnten bisher nicht dorthin gelangen, und das bleibt hoffentlich auch so!«
»Weißt du, wo sich Sisgard aufhält?«, unterbricht Finley ihre Erläuterung der Bilder. »Ich möchte Eila möglichst schnell in ihre Obhut geben, da ich bald von Roarke zurückerwartet werde.«
»Ihr könnt doch mit einem magischen Sprung zu den bekannten Orten wechseln, dann solltet ihr sie bald aufgespürt haben«, entgegnet Sorcha erstaunt.
»Das geht leider nicht. Eila ist noch keine 18 Jahre alt. Sie würde ihre Zaubertalente verlieren.«
Hier unterbricht die Elfe ihn. »Das ist doch sicher nicht wahr. Eila ist so geschickt im Zaubern«, hier blickt sie diese mit einem wissenden Blick an, »da muss sie doch älter sein. Dieses Können erlangt man höchstens, wenn man lange Jahre hindurch übt!« Sie blickt staunend und bewundernd zu dem Mädchen, das leicht errötet.
»Danke, das ist nett von dir, aber so gut bin ich wirklich noch nicht. Das war eben nur Zufall«, versucht diese abzulenken.
»Nein, du bist wirklich gut«, fällt jetzt Finley ein. »Wenn ich an die Wölfe vor ein paar Tagen denke, und gar an die Situation, als die fünf Dubharan und die Wölfe uns bei Erdmuthes Heim schon fast hatten …«
»Jetzt ist es aber gut«, unterbricht Eila. »Du wolltest doch Sisgard suchen, oder hast du das vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht.«
Jetzt wendet er sich wieder an Sorcha: »Ich werde an den bekannten Stellen suchen. Eila muss ich in deiner Obhut lassen, du weißt ja jetzt, warum. Ist das in Ordnung? Ich werde mich auch beeilen.«
»Natürlich werde ich auf sie aufpassen, wenn sie diesen Schutz überhaupt benötigt!«
»Danke. Die Suche kann aber etwas dauern. Wundert euch also nicht, wenn ich erst in einigen Tagen zurück bin.«
»Finley, sei bitte vorsichtig«, bittet das Mädchen.
»Bin ich. Ihr aber auch!«, und damit verschwindet er.
Die nächsten drei Tage vergehen rasend schnell. Eila und Sorcha tauschen sich über ihre Erlebnisse aus und erzählen von ihren Familien. Sie verstehen sich so gut, dass sie schnell das Gefühl haben, schon ewig lange befreundet zu sein. Sorcha erzählt auch von dem Angriff der Dubharan und der Rettung durch Knuth. Eila bemerkt, wie die Augen der Elfe schwärmerisch zu glänzen beginnen, als sie über diesen Zauberer spricht.
Sie erkundigt sich: »Hast du ihn danach wiedergesehen? Ich möchte gern einmal mit ihm reden. Er sah damals wirklich nicht gut aus.«
»Wann hast du Knuth denn getroffen?« Der Blick ist erstaunt auf das Mädchen gerichtet.
Eila fällt ein, dass die Elfe vermutlich nicht wissen kann, dass sie den jungen Zauberer gesehen hat, als er ein Gefangener in einem dunklen Verlies war.
»Ich habe die Gabe, hellzusehen«, beginnt sie. »Im letzten Jahr habe ich in einer Sequenz einen ausgemergelten Gefangenen in einer dunklen Zelle gesehen, der von einem der oberen Dubharan Knuth genannt wurde. Ich habe davon Professor Hlin erzählt, der es zusammen mit Roarke und Sisgard gelungen ist, Knuth dort herauszuholen.«
»Du hast seine Rettung ermöglicht? Ich danke dir! Und Knuth hat mich gerettet, also hast du letztlich auch mich gerettet!«
Während dieser Rede errötet Eila tief. Sie wehrt ab: »Nein, gerettet habe ich ihn und dich nicht, ich habe nur von ihm geträumt. Die Rettung erfolgte durch die anderen!«
»Trotzdem gelang es nur, weil du die notwendigen Informationen beigesteuert hast. Bitte erzähle mir genau, was du dort gesehen hast.«