Читать книгу Elduria - Dragon der Beschützer - Norbert Wibben - Страница 8
Ein Angriff
ОглавлениеRuna fröstelt und zieht zusätzlich ihr Ersatzoberteil an, da es während der Nacht kühl geworden ist. Sie legt sich erneut auf ihr Lager im weichen Moos und deckt ihre Jacke über sich.
Ein Feuer hätten sie am gestrigen Abend mit Leichtigkeit entzünden können. Den Spruch »Incendere« hatte das Mädchen bereits mehrfach probiert. Dragon hätte sich außerdem kurzzeitig in seine wahre Gestalt als Drache verwandeln und mittels Feuerstoß jedes noch so frische oder feuchte Holz in Brand setzen können. Doch darauf hatten sie bewusst verzichtet. Ein Grund war der, dass sie nicht damit gerechnet hatten, wie kalt eine Sommernacht auf dem Gipfel eines Berges werden kann. Der andere entsprang ihrer Vorsicht. Ein Feuer auf einer Erhebung, egal wie groß sie ist, wäre in der flacheren Umgebung ein weithin leuchtendes Signal geworden und hätte vermutlich unzählige Feinde angelockt. Wachen auf der Burg des Hexenmeisters wäre der Lichtschein sicher nicht entgangen.
Runa vermag nicht erneut einzuschlafen. Sie blickt zu Dragon hinüber, der sich im Schneidersitz hingehockt hat und jetzt aufmerksam Wache hält. Er scheint nicht zu frieren, obwohl er keine Jacke trägt. Sie rätselt, ob das an seinem inneren Drachenfeuer liegen mag? Sie vermutet, damit die Erklärung gefunden zu haben und wendet ihre Gedanken in eine andere Richtung.
Runa grinst kurz, als sie an den Satz der alten Elfe denkt, in dem diese ihre zunehmende Schusseligkeit beklagt hat. Sie stimmt ihr darin nicht zu. Sie hatte zwar von ihrer Absicht geredet, Atropaia suchen und befreien zu wollen. Aber erwähnte sie dabei auch die Vermutung, dass ihre Amme mit größter Wahrscheinlichkeit in Grimgard zu finden sei? Runa ist sich nicht sicher und schüttelt den Kopf. Das ist letztlich unerheblich. Viel wichtiger erscheinen die Informationen, die sie von Willard und Danrya bekommen hat.
Im östlichen Teil von Merion existiert eine Anordnung aus drei Burgen, die die Spitzen eines gleichseitigen Dreiecks bilden. Sie wird »Triqueta« genannt und dient als Schutz für die Festung Grimgard. Obwohl Drakonias Schreckensburg oberhalb einer Meeresbucht auf steilen Felsen erbaut wurde, liegt die Anlage trotzdem im Zentrum dieser Konstellation und wird somit in alle Richtungen optimal geschützt. Die drei äußeren Festungsanlagen werden zudem jeweils von Zaubermeistern beherrscht, die magische Angriffe verhindern können. In der am weitesten nach Westen ausgerichteten Burg lebt ein dunkler Zauberer, der fast noch gefährlicher als sein Oberhaupt Creulon ist. Er nennt sich »Der Hexenmeister«, während die anderen ihre menschlichen Namen nutzen. Dieser Magier hat, ob durch Zufall oder mit Absicht, den ersten Vorstoß Runas und Dragons Richtung Grimgard abgewehrt. Damit hat er den Beweis angetreten, dass ein magisches Eindringen auf das Gebiet der Triqueta nicht so einfach ist.
»Das Überfliegen der Burg ist also keine gute Idee. Aber auch wenn wir die Anlage weiträumig umgehen, sind damit nicht allen Bedrohungen aus dem Weg gegangen. Sie werden eher größer, da wir uns auf das Gebiet begeben müssen, das zwischen den Festungen der drei Zaubermeister liegt. Ganz davon zu schweigen, dass die Gefahr für uns zusätzlich steigt, je mehr wir uns Grimgard nähern. Wenn ich Danryas Warnungen ernst nehme, und das steht außer Zweifel, ist zunächst »Der Hexenmeister« die größte Hürde. Hm. Ich hoffe, dass uns die Verwandlung in Kolkraben den entscheidenden Vorteil gegenüber den drei Magiern verschafft! Die alte Elfe scheint davon jedenfalls überzeugt zu sein! Ob der dunkle Zauberer meine Zauberkräfte mit irgendeinem Fluch attackiert haben könnte?«
Dragon hatte ihre Schwäche mit Nahrungsmangel begründet, aber als weitere Möglichkeit einen Zauberangriff nicht ausgeschlossen. Dem Mädchen will jedoch kein Zauber einfallen, der das bewirken würde. Doch das muss nicht heißen, dass es den nicht gibt.
Runa nimmt sich vor, noch vorsichtiger als bisher zu sein. Hoffentlich bleibt ihre Verwandlung in Kolkraben bestehen, auch wenn sie das Gebiet der Triqueta erreichen. Es wäre nicht nur fatal, sondern sogar lebensgefährlich, falls sie plötzlich ihre wahre Gestalt annehmen würden. Ob Danrya das vermutet hat, weil sie vor dem Überfliegen der Burg warnte? Dragon könnte sich als Drache in der Luft halten, doch sie würde unweigerlich abstürzen und könnte von Glück sagen, wenn ihr Beschützer sie retten würde. Der müsste in dem Fall sicher gleichzeitig Feuerkugeln ausweichen, ähnlich wie vor Tagen über dem Elfenwald.
Ihr Blick wandert zu Dragon hinüber. Dessen Silhouette wirkt wie ein Scherenschnitt vor dem Horizont, der sich leicht Rosa färbt und vom nahenden Morgen kündet.
Ein leises Keckern lässt den Kopf des Jungen in diesem Augenblick hochfahren. Sollte er erneut eingeschlafen sein? Seine Reaktion spricht nicht dafür. Er versucht herauszubekommen, von wo die Töne kommen und horcht in verschiedene Richtungen.
»Ich glaube, wir bekommen Besuch«, sendet er gedanklich an Runa. »Es hört sich so an, als ob jemand lachen würde.«
»Wer wird denn einen Berg hinaufwandern und dabei Scherze machen. Sollten hier gleich Wegelagerer oder Strauchdiebe auftauchen, die sich derart über eine vermeintlich leichte Beute freuen?«
Ein dunkles Kollern erklingt. Es ähnelt fast dem Bellen oder auch Knurren eines großen Hundes.
»Es könnte ein Wolf sein!«, sendet Dragon. »Ich halte bereits mein Schwert in Händen, mach du deinen Bogen schussbereit. Falls es wirklich einer der grauen Räuber sein sollte, sind vermutlich noch weitere in der Nähe. Sie könnten uns sogar schon eingekreist haben.«
Ein lautes Krächzen lenkt die Blicke der sich gedanklich verständigenden Freunde nach oben in das Geäst einer vom Wind gebeugten Eiche. In der zunehmenden Helligkeit erblicken sie dort zwei dunkle Schatten. Sie hüpfen auf einem dicken Ast herum, schlagen mit den Flügeln und legen die Köpfe schräg. Sie klappern mit den Augendeckeln. Als das Kollern erneut erklingt, kommt es dieses Mal eindeutig von den zwei Schemen.
»Das sind wahrlich keine Wölfe«, lacht Runa jetzt laut. »Du kannst dein Schwert beruhigt zurück in die Scheide stecken.«
»Das sehe ich auch«, mault der Junge. »Aber was für Vögel sind das? Sie sind jedenfalls größer als Dohlen. Meinst du, das könnten Saatkrähen sein, oder möglicherweise Rabenkrähen? Das Licht ist noch zu ungewiss, sonst könnte ich sie besser identifizieren.«
»Vielleicht haben wir Glück, und es sind Kolkraben«, hofft Runa. »Davon unabhängig sollten wir ihnen genau zusehen, wie sie sich benehmen.«
Und das machen die beiden. Das Morgenlicht wird schnell heller und die Beobachter studieren das Verhalten der zwei Rabenvögel. Ob von deren Gekrächze angelockt oder aus einem anderen Grund, ist nicht erkennbar. Plötzlich taucht ein Schwarm ebensolcher schwarzer Vögel auf. Sie sind geringfügig kleiner als die beiden auf dem Ast der Eiche, dafür sind es aber zehn an der Zahl. Ihr Gekreische klingt frohlockend, bevor sie sich auf die etwas größeren Artgenossen stürzen. Doch die Attackierten flüchten keinesfalls. Sie lassen sich geschickt von ihrem Platz hinabfallen, gehen in Gleitflug über und schrauben sich mit kräftigen Flügelschlägen unerwartet senkrecht in den Himmel hinauf. Im Vorbeiflug schnappen sie mit den Schnäbeln zu und rupfen jeweils einem der Gegner eine Schwanzfeder aus. Doch danach fliehen sie keineswegs. Ihr herausforderndes, dunkles Krächzen mischt sich mit den helleren Tönen der anderen. Die scheinen sich gegenseitig anzuspornen. Schließlich sind sie in der Überzahl, auch wenn die Angegriffenen das erste Aufeinandertreffen für sich entschieden haben.
»Das müssen Kolkraben sein«, stellt Dragon begeistert fest. »Sieh nur, wie verwegen sie sich jetzt von oben in den gegnerischen Schwarm stürzen. Ihr Verhalten entspricht den Eigenschaften, die uns Danrya nannte. Sieh dir das an. Die Krähen fliegen auseinander wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, wenn ein Habicht auf sie herabstößt. Trotzdem werden erneut zwei, nein, sogar drei der ursprünglichen Angreifer durch die Kolkraben gerupft. Die ausgerissenen Federn segeln langsam zu Boden. Wow. Schau nur, wie geschickt die beiden sind. Ich glaube, wir erleben hier soeben eine Sondervorstellung. Ich stimme Danrya begeistert zu. Kolkraben sind die Vögel, in deren Gestalt wir uns auf das Gebiet der Triqueta wagen können. Sie mögen nicht so schnell wie Wanderfalken sein, dafür sind sie eindeutig gewitzter. Siehst du das? Jetzt sind erneut drei Federn ausgerupft und nun fliehen die Gegner. Sie suchen offenbar ihr Heil in der Flucht, verfolgt vom frohlockenden Keckern der Sieger!«
Runa grinst zu dem Kommentar des Freundes. Auch sie hat das Schauspiel nicht nur genossen, sondern versucht, es genauestens zu verfolgen.
»Ich denke, das ist ein kluger Rat von einer angeblich schusseligen Elfe. Was meinst du, können wir es wagen, uns bereits jetzt zu verwandeln, oder warten wir vorsichtshalber bis die zwei Sieger fort sind?«
»Ich habe keine Angst, dass uns die beiden attackieren und von hier vertreiben könnten. Wir sollten sie trotzdem weiter studieren. Wir werden es ja nicht andauernd mit anderen Vögeln zu tun haben. – Wie ist es, hast du noch einige von den Äpfeln? Leg doch einen auf den Platz unterhalb des Baumes, auf dem sie hocken. Wir können dann sehen, ob sie das Obst annehmen und wie sie mit Nahrung umgehen.«
Den Vorschlag führt Runa sofort aus. Ganz langsam nähert sie sich der verkrüppelten Eiche und legt die zwei Teile der vorher halbierten Frucht auf das von der Morgensonne beschienene Moos. Sie wird dabei genauestens von den dunklen Augenpaaren beobachtet. Sobald sich das Mädchen zurückgezogen hat, legen die Vögel ihre Köpfe schräg. Sie krächzen herausfordernd und blicken prüfend abwechselnd zu den Freunden und auf die Apfelhälften hinab.
Runa und Dragon verhalten sich still. Sie sagen kein Wort und vermeiden jede Bewegung. Innerhalb weniger Augenblicke segelt einer der Kolkraben nach unten, während der andere offenbar Wache hält. Der Vogel schnappt sich geschickt eines der Stücke und fliegt mit der Beute zu seinem Partner hinauf. Entgegen der Vermutung holt sich der nun nicht die zweite Hälfte. Sie teilen sich das erbeutete Obststück indem sie abwechselnd mit ihren kräftigen Schnäbeln Stückchen aus dem auf einer Astgabel platzierten Apfel reißen. Sobald das aufgefressen ist, beäugen beide die wartenden Menschen. Sie kollern und krächzen. Dann nicken sie heftig mit den Köpfen. Dass sie sich dadurch bedanken wollen, bezweifelt Runa, trotzdem findet sie den Gedanken schön.
»Schau nur. Jetzt ist die zweite Hälfte dran.« Damit hat Dragon Recht. Wie beim ersten Mal hält einer der Vögel Wache, derweil sich der andere geschickt das Obst schnappt und zu seinem Partner bringt.