Читать книгу Anna Q und die Suche nach Saphira - Norbert Wibben - Страница 11

Anderswelt

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Anna liegt im Bett, kann jedoch nicht schlafen. Ein lautes Kreischen lässt sie aufschrecken. Sollte die Durchlauffalle erneut ein Opfer gefangen haben? Jetzt fällt ihr siedend heiß ein, dass sie das Ding entschärfen wollte. Nach ihrer neuen Migräneattacke beim Schachspiel drängte es sie nach dem Essen nur noch in ihr Zimmer und so hatte sie es glatt vergessen. Dort angekommen, konnte sie aber nicht einschlafen und wälzte sich unruhig hin und her. Sie zog sich die Bettdecke sogar über den Kopf, um die geringe Helligkeit der Abenddämmerung auszusperren. Doch alles half scheinbar nicht.

Erneut kreischt es laut. Sie steht auf und geht zum Fenster hinüber. Seltsam. Vorhin waren doch keine Gewitterwolken zu sehen und es war auch keineswegs schwül. Trotzdem wetterleuchtet es am Horizont und das Donnergrollen wird schnell lauter. Das Unwetter kommt offenbar näher. Anna springt in ihre Sachen, greift sich die Taschenlampe und eilt aus dem Zimmer.

Im Haus ist es seltsam ruhig. Sollten bereits alle Schülerinnen in den Federn liegen? Das Mädchen zuckt die Schultern. Egal was der Grund dafür sein mag, das gefangene Tier muss dringend gerettet werden. Anna möchte das schaffen, bevor sie draußen vom Gewitter überrascht wird. Als sie im Freien steht, prasseln die ersten, dicken Regentropfen aus den drohenden Wolken. Ein greller Blitz lässt die Umgebung hell erscheinen und blendet sie. Anna verharrt erschrocken im Eingang. Automatisch zählt sie die Sekunden und multipliziert das Ergebnis mit 300.

»Der Blitz war nur etwa 4200 Meter entfernt«, ergibt die aus dem Unterricht erlernte Formel. »Ich wage es trotzdem. Das Tier wird sicher halb verrückt vor Angst sein.« Noch bevor sie die Stufen zum Weg hinuntergeht, beginnt die Turmuhr die Zeit zu verkünden. Auf dem Weg zur Giebelseite zählt sie die dumpfen Glockenschläge. Als sie mit der Taschenlampe unter den Haselstrauch leuchtet, ist sie bei Zwölf angelangt. Mitternacht! »Das erklärt, warum es so still im Haus ist, bedeutet aber auch, dass ich eingeschlafen sein muss«, überlegt Anna. Der Lichtkegel durchdringt kaum die vielen, silberhellen Regentropfen. Das Mädchen blickt suchend umher, doch die Durchlauffalle steht nicht mehr am bisherigen Platz. Ein blendend heller Blitz macht die Nacht zum Tag, dann grollt der Donner ohrenbetäubend. Das Gewitter ist fast direkt über dem Mädchen, doch das beachtet es nicht. Die nächste Lichterscheinung zeigt ihr, wo die Falle steht: auf der anderen Seite des Busches. Und eine Bewegung ist darin zu erkennen, bevor die schwarze Nacht alles verschwinden lässt.

Es dauert etwas, bis Annas Erstarrung verschwindet und sie wieder etwas im Lichtkegel der Taschenlampe zu erkennen vermag. Hastig umrundet sie den Busch und hockt sich nieder. Täuscht sie sich, oder ist es derselbe Vogel wie gestern? Er hält den Kopf schräg und klappt die Augendeckel mehrmals auf und zu. Sollte er ihr zublinzeln? Ein leises Kollern ist zu hören, das keinesfalls von seinem Schreck kündet. »So schnell kann er sich doch nicht an mich gewöhnt haben, oder?«, rätselt Anna. Sie entriegelt mit kalten Fingern den Schließmechanismus. »Komm raus, du dummer Vogel. Wie kann man nur zweimal in die gleiche Falle gehen?« Plötzlich zuckt erneut ein Blitz über den Himmel und Anna hält den Atem an. Der Kolkrabe beginnt immer stärker bläulich zu schimmern, dann steht er außerhalb der Falle und krächzt laut, sobald der Donner verklungen ist.

»Das ist manchmal notwendig, besonders dann, wenn du sonst nicht auf Hinweise reagierst!« Diese Antwort des Kolkraben versteht Anna natürlich nicht. Erneut wird es strahlend hell um sie, doch diesmal ist es kein greller Blitz sondern ein gleißendes Blau.

»Das glaub ich jetzt nicht«, denkt Anna. Es sticht kurz in ihrem Kopf, dann wird es schwarz um sie herum. Das Erste, was sie wieder wahrnimmt, sind aufgeregte Stimmen.

»Konntest du das Kind nicht anders zu uns holen?«

»Es wirkt viel jünger, als ich gehofft habe!«

»Und du bist sicher, die Richtige ausgewählt zu haben?«

»Bin ich«, knarzt eine raue Stimme. »Sonst reagierte kein Schüler auf mein ängstliches Kreischen, und sie kam sogar mitten in der Nacht während des grässlichen Unwetters zu mir!«

»Hm. Das spricht wirklich für das Mädchen!«

»Aber sie ist noch so klein. Wie soll sie dann gegen die gefährlichen Dämonen bestehen können?« Nach mehreren vergeblichen Versuchen bleiben Annas Augen geschlossen. Sie kommen ihr bleischwer vor. Sie überlegt angestrengt, ob ihr die Stimmen bekannt sind. Die knarzende könnte von dem schwarzen Vogel stammen, schlussfolgert sie aus dem Gehörten. Aber ist das denn möglich? Zu den anderen hat sie keine Idee. Erneut versucht sie, mit großer Anstrengung ihre Augenlider zu öffnen. Das gelingt wieder nicht. Anna möchte sich herumwälzen, denn seltsamerweise scheint sie zu liegen. Was ist denn nur los? Wurde sie vom Blitz getroffen und ist gestorben? Aber warum hört sie dann Stimmen? Sie könnte auch schwerverletzt auf dem Boden unter dem Haselbusch liegen. Vom elektrischen Strom gelähmt und zumindest teilweise scheußlich verbrannt. Aber Schmerzen spürt sie keine und frieren muss sie auch nicht. Obwohl es Sommer ist, müsste sie, durchnässt vom Gewitterregen, wenigstens frösteln. Was bedeutet das alles? Sie kann mehrere flüsternde Stimmen hören, die sich unterhalten und den Raum verlassen, in dem sie auf einem weichen Lager oder einem Bettgestell liegt. Schließlich sind nur noch zwei Personen anwesend, die leise miteinander reden.

»Ainoa, du wartest an … wie heißt das Kind eigentlich? Halt, stopp, sag es lieber nicht!«

»Das ist sicherer, meine Königin!«

»Du bist wohl leichtsinnig geworden, du voreilige Elfe. Das darf noch niemand wissen, deshalb redest du mich besser nicht so an!«

»Aber das Mädchen ist bewusstlos. Eine magische Reise in unsere Anderswelt ist für einen Menschen sehr anstrengend, besonders für ein Kind.«

»Das war schon immer so, zumindest beim ersten Mal. – Was ich sagen wollte, du wartest an seiner Seite, bis es aufwacht. Dann wirst du ihm erklären, wo es ist und was wir wollen.«

»Immer ich!«, mault die knarzige Stimme.

»Keine Widerrede! Du weißt genau, dass ich diese Aufgabe den anderen nicht übertragen kann. Wenn die Kleine aufwacht, könnte sie beim Anblick von Dragon-tan einen tödlichen Schock bekommen. Die Menschen würden ihren Tod natürlich nicht mit uns in Verbindung bringen, bis auf die wenigen, die von unserer Existenz wissen. Wenn das Kind dann in ihrer Welt gefunden wird, würde das einem Blitz zugeordnet werden, dafür haben deine magischen Kräfte gesorgt. Aber wir haben mittlerweile schon so viele Tage auf die Hilfe eines geeigneten Menschen gewartet, da ist es besser, das Kind nicht unnötig dieser Gefahr auszusetzen. Die Aufgabe, die es erledigen soll, ist gefährlich genug!«

»Na gut, Katherin! Was macht ihr in der Zwischenzeit?« Auch wenn Ainoa ihre Zustimmung gibt, klingt sie nicht begeistert.

»Was schon? Wir versuchen, einen möglichen Plan zur Rettung Saphiras aufzustellen. Da der von dir auserwählte Mensch noch so jung ist, müssen wir den bisherigen anpassen. Mit magischen Schwertern oder unseren Elfenbögen kann die Kleine sicher nicht umgehen. Sie ist ja fast noch ein Baby.«

»Ich bin kein Baby!«, versucht Anna, empört einzuwerfen. Doch genau wie die Augen, gehorchen die Stimmbänder ihr nicht. »Was mag das für eine Aufgabe sein und welche Person kann so schreckenerregend aussehen, dass ich offenbar auf ihren Anblick vorbereitet werden muss?« Katherin entfernt sich und ermahnt die Elfe noch einmal:

»Und bereite das Kind auf den Anblick von Dragon-tan vor!« Dann hat sie den Raum verlassen. Ainoa zieht sich einen Stuhl neben die Liege, was Anna aus dem dabei verursachten Geräusch folgert. Die junge Elfe murmelt etwas vor sich hin. Vermutlich redet sie sich den Frust über diese Aufgabe von der Seele.

Plötzlich durchströmt ein warmer Impuls das Mädchen. Es vermag die Augen zu öffnen und bemerkt einen goldenen Schimmer, der von über ihm gehaltenen Händen ausgeht. Das leuchtende Licht fließt auf Anna zu und scheint die Ursache für die sich ausbreitende Wärme zu sein. Sie seufzt erleichtert und kann sich wieder bewegen. Das wird offenbar bemerkt, denn sie vernimmt ein gemurmeltes:

»Inhibeo!« Die bisher ausgestreckten Hände sinken herab und geben den Blick auf ein strenges, aber freundliches Gesicht frei. Es gehört einer jungen Frau, die lange und glatte, schwarze Haare hat und sie mit tiefblauen Augen anschaut.

»Hallo Kleine.« Die Stimme klingt seltsam rau und ähnelt dem Knarzen des Kolkraben, den sie befreien wollte.

»Wo bin ich? Wurde ich von einem blauen Blitz getroffen und liege jetzt auf der Krankenstation?« Dass die junge Frau eine Elfe sein soll, erscheint ihr widersinnig, obwohl sie von der anderen Stimme so bezeichnet worden war. Sie sieht aus wie ein normaler Mensch, dabei sind Elfen doch eher mystische Wesen, die nur in Märchen und Geschichten existieren!

»Keine Angst! Das helle, bläuliche Licht kommt davon, dass ich dich mit in die Anderswelt genommen habe. Halt, warte einen Moment. Du solltest dich nicht so ruckartig erheben!« Anna meint, den Ohren nicht trauen zu können. Vermutlich läuft gerade irgend so ein alberner Streich ihrer Klassenkameradinnen ab. Sie müssen mitbekommen haben, dass sie sich manchmal in eine Traumwelt flüchtet, wenn sie für sich allein ist und auf einer Bank im Park vor sich hin träumt. Möglicherweise hat sie dabei gesprochen, was von anderen gehört wurde. Ja, das muss es sein! Sie sinkt auf das Bett zurück, da ihr unversehens schwarz vor Augen wird. Erst nach einiger Zeit vernimmt sie wieder die knarzige Stimme, die für eine junge Frau untypisch ist.

»... du dich vorsehen. Hörst du eigentlich, was ich sage?«

Anna öffnet ihre Augen erneut und schüttelt langsam den Kopf.

»Nein, ich habe nicht alles gehört, was du sagtest. Du behauptest, mich in eine Anderswelt geholt zu haben. Was soll das sein und wer bist du?« Das Mädchen spürt zwar das Verlangen, sich aufzurichten, unterlässt es aber vorläufig noch.

»Ich bin eine Elfe und werde Ainoa genannt. In eurer Welt erscheine ich meist als Kolkrabe, weshalb meine Stimme auch rauer, als die anderer Elfen klingt.« Sie grinst Anna verschwörerisch an. »Hast du noch nie etwas von der Anderswelt gehört? Sie ist durchaus nicht unbekannt in eurer Welt, aber nur wenige Menschen wissen von ihr oder waren hier. – Hm, wie soll ich dir das nur erklären? Ich versuche es mal, da Katherin das von mir fordert.«

»Ist sie wirklich eine Königin und warum darf das niemand wissen?«

»WAS SAGST DU? Woher weißt du das?« Ainoa ist aufgesprungen und starrt erstaunt auf Anna hinab. Ein heller, blauer Schimmer breitet sich im Raum aus. »Bist du womöglich bereits einmal hier gewesen und spielst mir das Unschuldslamm vor? Wenn das so ist, wäre es besser, ich bringe dich wieder zurück. Du könntest ein großes Unheil anrichten.« Anna versucht, den Redefluss mehrmals zu unterbrechen. Jetzt gelingt es endlich.

»Ich konnte meinen Körper zwar nicht bewegen, habe aber dein Gespräch mit Katherin gehört. Bitte glaub mir. Ich war bisher nie hier, wo auch immer das sein mag.« Ihr Blick schweift forschend durch den Raum. Sie hat das Gefühl, in vertrauter Umgebung zu sein, so gemütlich wirkt es hier. Ein gefülltes Bücherregal steht vor einer Wand, daneben flackert ein lustiges Feuer in einem Kamin. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Sprossenfenster, das den Blick in eine dunkle Nacht ermöglicht.

Anna Q und die Suche nach Saphira

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