Читать книгу Anna Q und die Suche nach Saphira - Norbert Wibben - Страница 7
Eine Schachpartie
ОглавлениеDer große Gong erklingt zum zweiten Mal. Alle Schüler und Professoren werden damit dringend zur Abendmahlzeit gerufen, doch Anna und Robin überhören ihn. Alle anderen Besucher des Lesesaals haben diesen bereits beim ersten Ton verlassen. Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und geht zum letzten noch benutzten Tisch. Helle Augen schauen durch große Brillengläser auf das Schachbrett. Sofort heben sich ihre Augenbrauen in die Höhe. Sie hüstelt kurz, aber auch das holt die beiden Spieler nicht in die Gegenwart.
»Der Gong hat bereits zweimal gerufen. Wer beim dritten Mal nicht im Speisesaal sitzt, bekommt heute nichts mehr!« Nur widerwillig blicken die Schüler auf. Sollen sie für eine derartige Nebensächlichkeit wie Essen ihr spannendes Spiel unterbrechen? Derzeit ist es ausgeglichen! »Wie lauten eure Namen, und in welchem Jahrgang seid ihr?«, fordert die Frau mit gewohnter Autorität in der Stimme. Bekommen sie jetzt gleich einen Verweis? Robin will es nicht glauben und Anna versteht nicht, weshalb die hellgrauen Augen sie durch die Brille derart seltsam anblicken.
»Aber, Frau Professor«, beginnt der Junge, »sie kennen mich doch. Wir sind wirklich leise gewesen und haben niemanden gestört.«
»Name und Klasse. Ich frage nicht noch einmal!« Die Aufforderung klingt verdächtig danach, dass gleich eine Strafe folgen wird, wenn sie nicht gehorchen. Der Gesichtsausdruck ist streng und wird von dem Knoten am Hinterkopf, mit dem das schiefergraue Haar zusammengehalten wird, zusätzlich unterstrichen.
»Robin Jury, dritter Jahrgang.« Das Gesicht blickt abwartend zum Mädchen. Die hagere Gestalt der Professorin wird kerzengerade gehalten und bewegt sich bis auf den Kopf nicht.
»Nun du!«, fordert sie. Der Gong erklingt zum dritten Mal und übertönt das Schluckgeräusch, mit dem die Schülerin einen Kloß hinunterwürgt. Was wird jetzt folgen?
»Anna Q, erster Jahrgang«, flüstert sie fast. Doch die Bibliothekarin hat sie gut verstanden.
»Auch wenn Jugendliche im Wachstum nicht auf ein Abendessen verzichten sollten, gibt es offenbar Wichtigeres für euch!« Diese Feststellung wird mit nachdenklicher Stimme gesprochen. Ist das jetzt alles gewesen? Die Schüler blicken sich verwundert an. Warum klang die Frage nach Namen und Jahrgang dann so barsch? Professor Morwenna Mulham wirkt kurzzeitig abwesend. Überlegt sie, welche Strafe angebracht ist, obwohl sich Robin keines Vergehens bewusst ist? Annas Augen ruhen fragend auf dem Jungen. Sie ist erst seit wenigen Wochen hier und nicht sicher, mit dem Fernbleiben vom Abendessen möglicherweise eine ihr unbekannte Schulregel gebrochen zu haben.
»Ihr solltet weiterspielen. Ich schließe nur schnell die Tür ab, da die Bibliothek jetzt offiziell geschlossen ist.« Sie kehrt um, geht zum Eingang und dreht den großen Schlüssel. Danach kommt sie zurück und zieht sich einen Stuhl heran. »Wenn ihr erlaubt, werde ich mir euer Spiel ansehen!« Die Bibliothekarin macht es sich bequem. Nach kurzem Zögern konzentrieren sich die Schüler erneut und versuchen, zu ihrer ursprünglichen Strategie zurückzufinden. Nicht lange, und sie haben ihre Beobachterin völlig vergessen. Morwenna verfolgt aufmerksam die Spielzüge. »Erster und dritter Jahrgang! Das ist gut, sehr gut! – Ob sie aber auch geeignet sind? – Hm. Das war jetzt raffiniert, dabei wirkt diese Anna so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. – Der Gegenzug war gut gekontert. Ich bin fast sicher, hier sitzen fähige Talente vor mir.« Ihre Gedanken äußert sie nicht.
Nach langem Überlegen setzt Anna einen Läufer, der einen gegnerischen Bauern schlägt. Robin zieht einen Springer, der diesen Stein bedroht. Schnell wird der aus dem Gefahrenbereich gebracht, da schlägt das gegnerische Pferd ihre Dame. Das Mädchen zieht eine Augenbraue hoch und ärgert sich, weil es die Falle nicht vorhergesehen hat. Es dauert noch mehrere Spielzüge, dann endet die Partie schließlich unentschieden. Die Professorin kommentiert das lediglich mit einem: »Gut!« Sie schiebt ihren Stuhl unter den Tisch zurück, von wo sie ihn vor zwei Stunden herangezogen hat. Anna bedankt sich mit geröteten Wangen für die Partie bei ihrem Gegner, dann legen beide die Figuren in das klappbare Schachspiel. Anstatt es zu schließen, verharrt der Junge. Anna bemerkt, dass er in Gedanken versunken ist.
»Robin, was ist los?« Das Mädchen erhebt sich und wartet auf Antwort. Sie widersteht der plötzlichen Regung, ihm die Schulter zu klopfen. Das würde er vermutlich als herablassenden Aufmunterungsversuch missverstehen.
»Du spielst wirklich gut!«, beginnt er langsam. »Ich habe das Match zuerst zu leicht genommen. Ich bin unbewusst davon ausgegangen, dass ich dich mit Leichtigkeit schlagen würde. Vermutlich hat mich Alexanders Ausspruch dazu verleitet. Entschuldige bitte meine Überheblichkeit. Ich hatte echt Mühe, mich in ein Remis zu retten.« Robins dunkle Augen blicken sie ernst an. »Ich würde gern eine neue Partie gegen dich spielen. – Wer ist dein Lehrer gewesen?«
»Mein Vater. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin es gewohnt, unterschätzt zu werden. Das ist oft ein großer Vorteil für mich. Ich freute mich schon, dich besiegt zu haben, als du dann doch wieder ins Spiel zurückkamst. – Ich trete gern erneut gegen dich an. Können wir das hier machen? Ich möchte dabei nicht von vielen Mitschülern begafft werden. Das irritiert mich etwas.« Robin schaut sie ungläubig an.
»Trotzdem wolltest du im Speisesaal gegen Alexander antreten? Da hätten seine Bewunderer doch sicher nicht das Feld geräumt!«
»Ich hatte gehofft, dass sie wie Alexander davon ausgehen, dass ich schnell unterliegen würde, weshalb sie schon vorausgehen könnten. Notfalls hätte ich ein paar Figuren geopfert, um das zu untermauern. Spätestens dann wären sie abgezogen!«
»Du bist unglaublich!«, stellt der Junge bewundernd fest. So viel Hinterlist hätte er ihr nicht zugetraut. Sie wirkt so unschuldig und zurückhaltend, dass er Derartiges nicht von ihr denken würde, wenn sie es nicht gerade gesagt hätte.
»Trotzdem rechnetest du dir noch eine Chance gegen ihn aus?«
»Darauf habe ich zumindest gehofft. Damit er gewinnen könnte, müsste er sich schon gewaltig anstrengen. Und dann wäre er mir eine Revanche schuldig, die wir zu meinen Bedingungen austragen würden, also ohne Zuschauer. Ich kann mir gut vorstellen, dass er das auch fordert, um nicht vor großem Publikum Gefahr zu laufen, von »einem Baby« besiegt zu werden.« Die Röte ihrer Wangen ist mittlerweile verblasst, trotzdem, oder gerade deswegen, wirkt sie vollkommen harmlos. Robin zieht in Gedanken seinen Hut vor ihr.
»Was Alexander betrifft, bin ich nicht sicher, ob du ihn richtig einschätzt. Wir sind hier in einem Internat für hochbegabte Schüler. Dein Schachspiel beweist, dass du hierhin gehörst! Du besitzt eine große Begabung für Strategie, aber Alexander ebenfalls. Ich bin mir absolut nicht sicher, ob er so ist, wie er sich in der Öffentlichkeit gibt. – Aber genug davon. Ich möchte gern regelmäßig gegen dich spielen, das würde unserer Spielpraxis guttun. Ich werde Professor Mulham fragen, ob wir uns dazu täglich hier treffen dürfen.«
»Du sagst Professor zu ihr, dann ist sie auch eine unserer Lehrerinnen? Ich dachte, sie wäre die Bibliotheksleiterin. Wie passt das zusammen?«
Robin schaut sich kurz um und zieht Anna wieder auf einen Stuhl herab, als er die Frau nirgends bemerkt. Wohin ist sie denn jetzt verschwunden? Die Eingangstür haben sie nicht gehört, aber umso besser. Dann muss er nicht flüstern.
»Sie heißt Professor Morwenna Mulham und ist schon über dreißig Jahren am CC. Sie übt beide Funktionen aus«, erklärt er. »Wie sie das schafft, ist mir ein Rätsel. Vermutlich liegt das daran, dass ihr Lehrgebiet Strategie und Logik ist, und erst ab dem vierten Jahrgang unterrichtet wird. Ich habe gehört, dass sich kaum Schüler dafür melden. Außerdem kommt ihr entgegen, dass die Bibliothek erst nach dem Regelunterricht, also Fächern wie Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften, am Nachmittag geöffnet wird. Sport, Kunst und andere Neigungsfächer finden dann zwar parallel statt, doch das stört nicht. Geschlossen wird die Bibliothek mit dem ersten Gong fürs Abendessen.«
»Dann war das eine Ausnahme und ein Entgegenkommen von ihr, dass wir hier zu Ende spielen durften? Sie hat dadurch ebenfalls das Abendessen verpasst.« Anna schaut suchend umher. »Warum sie das wohl gemacht hat?«
»Das ist mir auch ein Rätsel. Sie gilt als besonders streng und nimmt es einem sehr krumm, wenn man ihre Anweisungen missachtet. Du hast ja gesehen, wie gebieterisch uns »M hoch Zwei« angesehen hat.«
»Wen meinst du … ach so. Ist das ihr Spitzname?« Bevor Robin sich dazu äußern kann, vernehmen beide ein empörtes Schnauben.
»Du nennst mich »gebieterisch« und sprichst im gleichen Atemzug meinen Geheimnamen aus? Was fällt dir ein und woher kennst du ihn? Weißt du nicht, wie gefährlich …?« Morwenna unterbricht sich plötzlich. Graue Augen schleudern Blitze und die hagere Gestalt wirkt kurzzeitig bedrohlich, bevor sie wieder ihr vorheriges Aussehen annimmt. »Jetzt verschwindet besser schleunigst, bevor ich es mir überlege und ihr eine angemessene Strafe bekommt!« Woher die Professorin so plötzlich gekommen sein mag, ist den Schülern ein Rätsel.
Sie brummen verdattert: »Danke«, erheben sich und stürmen zum Ausgang. Die Tür lässt sich sofort öffnen, obwohl sie nicht gehört haben, wie der Schlüssel erneut gedreht worden ist. Sobald sie ins Schloss fällt, atmen beide erleichtert auf.
»Wow, das war knapp!« Anna ist immer noch über das plötzliche Erscheinen der Professorin erschrocken. Robin fasst sie am Arm.
»Ich habe mein Schachspiel liegenlassen. Was machen wir jetzt?«
»Ich geh da nicht wieder rein!« Der Gesichtsausdruck des Mädchens ist eindeutig. Es weiß zwar nicht, welche mögliche Strafen angedroht wurden, doch sie will es auch lieber nicht wissen. Der Junge grübelt. Soll er es riskieren? Professor Mulham schien reichlich aufgebracht. Warum nannte sie »M hoch Zwei« ihren Geheimnamen? Robin hatte diesen Ausdruck wie Anna für einen Spitznamen gehalten, abgeleitet von den zwei Anfangsbuchstaben ihres Namens.
MM könnte mathematisch ausgedrückt zu M mal M, also M zum Quadrat, oder M hoch Zwei werden! Wofür benötigt man überhaupt einen speziellen Namen und weshalb ist es gefährlich, ihn auszusprechen?
»Ich trau mich auch nicht«, gesteht Robin. »Da Professor Mulham gesehen hat, dass das mein Schachspiel ist, werde ich es morgen Mittag abholen. Ich hoffe nur, dass sie uns trotz dieses Zwischenfalls erneut im Lesesaal spielen lässt!« Beide gehen den langen Flur entlang, in dem ihnen lachende oder diskutierende Mitschüler entgegenkommen. Sie verabreden sich schließlich für den morgigen Nachmittag um Drei, nicken kurz und trennen sich.
Draußen herrscht schon Dämmerung. Anna möchte noch etwas die Nachtluft genießen und wandert durch den Park. Sie muss ihre Gedanken ordnen, bevor sie sich zu dem Nebengebäude begibt, in dem sich die Schlafräume der Schülerinnen befinden.