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|27|3 Muster im Datenmaterial
ОглавлениеDAS DATENMATERIAL, das von den Wissenschaftlern zur Erforschung der großen Aussterbeereignisse verwendet wird, stammt aus Fossilienfunden. Doch umfasst das Datenmaterial des fossilen Befundes mehr als nur die fossilen Überreste. Wenn Paläontologen Fossilien sammeln, sind sie nicht allein am Fossil als Objekt interessiert. Sie zeichnen ebenso detaillierte Informationen darüber auf, wo das Fossil gefunden wurde: sowohl über die geografische Lage des Felsaufschlusses oder, im Falle eines Bohrkerns, des Bohrloches als auch über die Position des Fossils in der vertikalen Abfolge der Gesteinsschichten. Diese Daten werden nicht deshalb erhoben, damit die Paläontologen immer neue Fossilien finden können. Sie sind als Bestandteil der primären Datensammlung genauso wichtig wie die Identität des Fossils selbst. Die geografische Position des Fossils bestimmt seine Verortung auf der Erdoberfläche. Aufgrund der Ozeanbodenspreizung und der Kontinentaldrift (S. 28) sowie der langen Zeitspanne zwischen der ursprünglichen Deponierung und der Entdeckung des Fossils ist sein geografischer Fundort oft ein ganz anderer als jener Ort – und jene Umwelt –, wo die Pflanze oder das Tier tatsächlich einmal lebte. Die Lage des Fossils innerhalb der lokalen Felsschichten enthält sogar noch subtilere und faszinierendere Informationen über die zeitliche Position des Fossils. Fossilien aus verschiedenen Schichten innerhalb einer Schichtenfolge stammen nicht nur von verschiedenen Orten, sondern sie stammen auch von verschiedenen Zeitpunkten in der Erdgeschichte, oftmals aus sehr unterschiedlichen Zeiten. Wenn Paläontologen eine Schichtfolge im Gestein betrachten, sehen sie nicht einfach einen Haufen Steine, sondern lesen in den Seiten eines Geschichtsbuchs, das von der Natur selbst geschrieben wurde.
Diese drei Beobachtungen – das Fossil, seine geografische Position und seine zeitliche Einordnung – sind die grundlegenden Daten des fossilen Befundes. Anhand dieser Daten werden die großen Aussterbeereignisse erforscht. Wenn Autoren seit Darwin von der Unvollkommenheit des fossilen Befundes sprechen, meinen sie nicht nur den Umstand, dass |28|nicht alle früheren Arten als Fossilien erhalten sind, sondern ebenso die Tatsache, dass der fossile Befund in seiner Repräsentation von Zeit und geografischer Lage sowohl komplex als auch unvollständig ist. Ganze Regionen der Erdoberfläche sind im fossilen Befund unzugänglich, weil sie von anderen Gesteinen überlagert wurden, weil sich zu jener Zeit an jenem Ort keine Sedimente ablagerten oder weil die abgelagerten Sedimentschichten durch alle möglichen natürlichen Prozesse (z.B. Erosion, Metamorphose, Subduktion) zerstört wurden. Genauso ist es an jedem geografischen Ort möglich, dass ganze geologische Zeitabschnitte unzugänglich oder überhaupt nicht durch Ablagerungen bezeugt sind oder sogar zerstört wurden. Man kann den fossilen Befund vielleicht am besten mit einem auseinandergerissenen Buch vergleichen, dessen einzelne Kapitel in der Landschaft verstreut worden sind. Die Aufgabe des Paläontologen ist es, so viele Kapitel wie möglich wiederzufinden, um das Buch zu rekonstruieren, die Kapitel in ihre ursprüngliche Ordnung zu bringen, die fehlenden Teile zu identifizieren und ihren Inhalt anhand der aktuell vorhandenen Informationen zu erraten. Die Komplexität dieser Aufgabe muss uns immer vor Augen bleiben, wenn wir darüber nachdenken, was wir über die großen Aussterbeereignisse wissen und tatsächlich wissen können.