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MASSENAUSSTERBEN

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Die Theorie des Massenaussterbens hat eine verwickelte Geschichte. Formuliert wurde sie von Georges Cuvier im frühen 19. Jahrhundert, nachdem er bemerkte, dass Fossilien ungewöhnlicher pferdeähnlicher und hundeähnlicher Kreaturen zusammen mit Muscheln an mehreren Stellen innerhalb des Pariser Beckens auftraten. Cuvier und sein Mitarbeiter Alexandre Brongniart interpretierten dieses gemeinsame Erscheinen als Hinweis auf eine Umweltkatastrophe tief in der Vergangenheit der Erdgeschichte, eine Katastrophe, die es in Ausmaß und Intensität in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hatte. Dieses Ereignis, wodurch es auch ausgelöst worden war, hatte gleichermaßen Auswirkungen auf die terrestrische Umwelt wie die flache Meeresumwelt, erfasste Organismen aus beiden Zonen und lagerte sie in Fossilgesellschaften ab, die nicht als natürlich betrachtet werden konnten. Cuvier bezeichnete diese Ereignisse als „Revolutionen“ und lehnte sich damit an die offensichtliche politische Parallele seiner Zeit an: die Französische Revolution. In einem 1910 veröffentlichten Bericht über seine stratigrafischen Forschungen im Pariser Becken und ab 1912 in seiner Monografie über fossile Fische (siehe Rudwick 1997) erläuterte und entwickelte Cuvier dieses Konzept des revolutionären Aussterbens, demzufolge letztlich ganze Gruppen von Organismen so plötzlich und in einem solchen Ausmaß vernichtet wurden, dass nur einige wenige überlebende Relikte übrig blieben.


Baron Georges Cuvier, Urheber des Konzepts des Massenaussterbens.

Cuviers Revolutionen in der Geschichte des Lebens wurden von britischen Geologen größtenteils abgelehnt und als Katastrophismus bezeichnet. Angeführt von Charles Lyell und unterstützt von Charles Darwin betrachteten sie die Erdgeschichte lieber als Produkt derselben Prozesse, |48|die sie auch in der modernen Welt wirken sahen – das Prinzip des Aktualismus (manchmal fälschlicherweise als Uniformitarismus bezeichnet, siehe Gould 1987).

Wie bereits erwähnt, umfasste Darwins Theorie der natürlichen Auslese ebenfalls die Idee des Aussterbens, allerdings fühlte sich Darwin unwohl dabei, die naturgegebenen Daten durch die Anrufung mysteriöser und katastrophaler Prozesse zu erklären, die große Teile ökologisch separater Spezies gleichzeitig aussterben ließen. Teilweise lehnte er Cuviers Ideen auch deshalb ab, weil er seine eigenen Ideen über das Wesen der Evolution und den Prozess der natürlichen Auslese so streng wissenschaftlich wie möglich halten und von scheinbar mystischen Erklärungen unabhängig machen wollte. Daher erklärte Darwin Cuviers Revolutionen lieber als Störungen in der Kontinuität der evolutionären Prozesse, die auf den unvollständigen geologischen Befund zurückzuführen sind.

In der Folge des im englischen Sprachraum als Katastrophismus-Uniformitarismus-Debatte bekannten Diskurses Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Aussterben im Allgemeinen und besonders das Massenaussterben in großen Teilen der paläontologischen Kreise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Nebensächlichkeit. Besonders in den stratigrafischen Befunden der Übergänge vom Paläozoikum zum Mesozoikum und vom Mesozoikum zum Känozoikum stellte man erhebliche taxonomische und stratigrafische Diskontinuitäten fest. Natürlich sind dies gerade jene Intervalle, bei denen John Phillips’ Biodiversitätskurve einen markanten Rückgang in der Anzahl der Arten verzeichnete (S. 45 oben rechts).

Bereits in den frühen 1960er-Jahren hatte die Idee der episodischen Biodiversitätskrisen oder des „Massenaussterbens“ unter dem Einfluss von Schindewolf, Newell und anderen wieder an Akzeptanz gewonnen. Die (heute verbreitete) Kenntnis taxonomischer Diskontinuitäten in einigen wenigen großen stratigrafischen Horizonten wurde mit dem (damals) geläufigen Verständnis von Evolution in Einklang gebracht, indem das Massenaussterben durch aktuell wirksame Prozesse (z.B. Klimawandel, Meeresspiegelfluktuationen) erklärt und als ein sich über Millionen von Jahren erstreckender Vorgang dargestellt wurde. Dessen ungeachtet gab es bis in die 1970er-Jahren hinein noch wenig Übereinstimmung unter Paläontologen, welche früheren Aussterbeereignisse als Massenaussterben bezeichnet werden konnten (abgesehen von Phillips’ Übergängen am Ende des Paläozoikums und Mesozoikums) und wie lange der Prozess eines Massenaussterbens dauerte.

Cuviers ursprünglicher Beweis für Massenaussterbeereignisse war das gemeinsame Auftreten mariner und terrestrischer Tiere in derselben fossilen Lagerstätte. Obwohl die meisten Fossilien zuerst als isolierte Erscheinungen bemerkt werden, existieren durchaus auch Konzentrationen |50|fossiler Muscheln und/oder Knochen. Meist entstehen diese Konzentrationen erst nach dem Tod der Organismen, wobei sie sich gewöhnlich durch normale Sedimentationsprozesse über lange Zeiträume passiv ansammeln. Ein Beispiel hierfür ist der Schlick, der einen Großteil des Tiefseebodens bedeckt. Diese Ablagerungen werden von den Schalen des Mikroplanktons gebildet, die durch die Wassersäule sinken und sich im Laufe der Zeit auf dem Meeresboden ablagern. Mancherorts kann der Schlick mehrere Hundert Meter dick sein und die Schalen von Arten enthalten, die seit vielen Millionen Jahren ausgestorben sind.


ist die Zeichnung eines Exemplars in situ zu sehen, unten Rekonstruktionen von Iguanodons, wie sie im Leben ausgesehen haben könnten, basierend auf den Informationen aus diesen fossilen Überresten, die ungewöhnlich gut und komplett im anatomischen Verband erhalten sind.


Beispielexemplare von Fossilien aus Bernissart, Belgien, wo ein Massensterben von Iguanodons stattfand.

In anderen Fällen sind aktive Prozesse für die Ansammlung toter Organismen verantwortlich wie Wellengang und Strömungen in Strandnähe, ein überflutetes Flussbett, ein Tsunami, ein Erdrutsch oder eine Dichteströmung am Kontinentalrand. Diese natürlichen Prozesse erfassen Objekte aus einem großen Gebiet, tragen sie über weite Distanzen und setzen sie wieder ab, wenn die Strömungsgeschwindigkeit nachlässt. Nebenbei werden die Objekte auch von der Strömung, die sie mit sich reißt, in Gruppen mit ähnlichen hydrodynamischen Eigenschaften sortiert.

Die so entstandenen Ansammlungen werden von den Paläoökologen als Thanatozönosen (= Totengemeinschaften) bezeichnet, da die beteiligten organischen Überreste alle zu längst toten Organismen gehören, die aus der Umgebung gelöst wurden, in der sie einst lebten. Thanatozönosen-Ablagerungen sind die häufigsten Ablagerungen im Fossilbefund. Es gibt allerdings eine sehr viel seltenere Kategorie einer präservierten natürlichen Gemeinschaft, die aus dem biologischen Blickwinkel betrachtet deutlich interessanter ist – die sogenannte Biozönose (= Lebensgemeinschaft).

Biozönosen entstehen, wenn eine Gruppe von Organismen plötzlich durch natürliche Prozesse (z.B. Fluten, Muren, Sandstürme, Staubstürme, vulkanischer Ascheregen) dahingerafft und schnell begraben wird und infolgedessen fossilisiert (siehe S. 49). Solche Fossilgesellschaften sind etwas Besonderes, da die Individuen selbst so lebensnah wie nur möglich erhalten sind und eine Ansammlung von Individuen oft wichtige Aspekte von Raum, Ökologie, Verhalten, Entwicklung und in manchen Fällen sogar des sozialen Systems bewahrt, dem die lebenden Organismen angehörten. In nahezu jedem Fall müssen die Organismen äußerst schnell und vollständig begraben werden, damit diese Informationen bewahrt bleiben. Für die betroffenen Organismen muss der Prozess, der zu ihrer Erhaltung führte, plötzlich, katastrophal und natürlich tödlich gewesen sein. Aus diesem Grund wurden einige dieser Biozönosen, insbesondere im Falle von Wirbeltieren, als Orte eines Massensterbens oder auch als Schlachtplätze bezeichnet. Letztere sind zumindest teilweise mit Orten der massenhaften Tötung moderner Tiere durch bestimmte soziale |51|Spezies (z.B. Haie, Wale) zu vergleichen ebenso wie mit den Schlachtplätzen, die die Sozialgeschichte der menschlichen Rasse durchziehen.

Da Konzepte wie das der fossilen Biozönose mit emotional aufgeladenen Vokabeln wie „Schlachtplatz“ belegt und mit konkreten Beispielen der plötzlichen Vernichtung einer großen Zahl von Tieren durch menschliche Jagdgesellschaften versehen wurden, ist es kaum verwunderlich, dass das Wort „Massenaussterben“ zur Beschreibung von fossilen Ansammlungen anfangs von Populärwissenschaftlern gebraucht wurde und dann erst von den Paläontologen selbst. Das erste Mal, dass mir dieses Wort begegnete, war in einer Beschreibung des Aussterbens der pleistozänen Megafauna, zu der menschliche Jäger in der Tat beigetragen haben könnten. Später jedoch wurde das Wort „Massenaussterben“ zur Bezeichnung für scheinbar jeden Fall erhöhter Aussterberaten, gleichgültig welche Daten dafür herangezogen wurden und/oder welche möglichen Gründe das Aussterbeereignis hatte. Meiner Meinung nach hat die Übernahme dieses Begriffs aus der ökologischen und taphonomischen Literatur für einige Verwirrung gesorgt, da er eine plötzliche, katastrophale und externe Ursache suggeriert, obwohl die damit beschriebenen Daten eine solche Interpretation in Wirklichkeit nicht unbedingt stützen müssen.

1982 veröffentlichten David Raup und Jack Sepkoski eine Zusammenfassung von Sepkoskis Aussterbedaten auf der Familienebene und stellten fest, dass die Größenordnung des Aussterbens während dieser geologischen Zeitabschnitte es rechtfertigte, offiziell die Bezeichnung „Massenaussterben“ zu verwenden. Kurz danach begannen die Paläontologen von den „Big Five“, den fünf großen Massenaussterben zu sprechen. Diesem Bericht folgte 1986 eine Zusammenfassung von Daten auf der Gattungsebene, die Raup und Sepkoski als Beweis für ihre frühere |52|Interpretation (siehe S. 51 unten links) vorlegten. In beiden Fällen bemerkten andere, dass der Variationsgrad innerhalb der Aussterbedaten es ausschloss, in diesen fünf Ereignissen einzig auf Basis der Daten der Aussterbegröße Vertreter einer einheitlichen Klasse von Großereignissen zu sehen.


Grafische Darstellung prozentualer Aussterbedaten für marine Familien (links, nach Raup und Sepkoski 1982) und Gattungen (rechts, nach Raup und Sepkoski 1986) nach Zeitstufen.


Die Geschichte des Aussterbens mariner Gattungen in den Stufen des Phanerozoikums, geordnet nach prozentualer Aussterbeintensität. In vielen Fällen wurden Spitzen, die kleiner waren als die fünf großen Aussterbeereignisse, ebenfalls als „Massenaussterben“ bezeichnet, darunter Zeitintervalle, die einige der niedrigsten Aussterbeintensitäten überhaupt aufweisen, wie das Pleistozän. (Blau: Paläozoikum; grün: Mesozoikum; rot, Känozoikum.)

Dieses Argument kann gut nachvollzogen werden, indem man das Histogramm auf Seite 46 einfach umstellt und die Stufen nach Aussterbegröße statt nach Zeit anordnet (siehe S. 51 unten rechts). Auf diese Weise erscheinen die Aussterbeintensitätswerte durchgehend, ohne Brüche, welche die fünf großen Massenaussterbeereignisse von den anderen abheben würden. Tatsächlich formen diese fünf Ereignisse nicht einmal einen zusammenhängenden Abschnitt am äußersten Ende des Aussterbeintensitätsspektrums, sondern werden durch eine Reihe ebenso großer Ereignisse im frühen Paläozoikum voneinander getrennt.

Die dargestellte Rangordnung der Aussterbeintensität lässt auch andere Einblicke in das Wesen vergangener Aussterbeereignisse zu. Die Kontinuität der Aussterbeintensitätsverteilung impliziert, dass sich die für kleinere und größere Ereignisse verantwortlichen Prozesse ähneln können, dass die Intensität dieser Prozesse im Laufe der geologischen Zeiträume jedoch deutlich variiert. Offenbar wird das Muster der Aussterbeintensität, das in den letzten 540 Millionen Jahren der Erdgeschichte beobachtet wird, nicht so sehr durch intrinsische Unterschiede der zum Aussterben führenden Prozesse bestimmt, sondern eher durch historische Unterschiede in der Zu- und Abnahme dieser Prozesse im Verlauf der geologischen Zeit. Kurz gesagt, der Fossilienbefund zum Aussterben taxonomischer Gruppen legt nahe, dass die Geschichte von Bedeutung ist. Die Kontinuität dieses Spektrums erklärt auch, warum es keine generell anerkannte Definition des Begriffs „Massenaussterben“ gibt, abgesehen |53|von einem vagen und allgemein gehaltenen Verweis auf ein „sehr großes“ Aussterben oder auf – was ebenfalls sehr beliebt ist – „das Aussterbeereignis, mit dem ich Sie gerade zu beeindrucken versuche“.

Fairerweise muss gesagt werden, dass spätere Forscher Hinweise gesucht und in einigen Fällen auch gefunden haben, welche die großen fünf Ereignisse von den anderen abzuheben scheinen. Beispielsweise wurden marine und terrestrische Biota offenbar durch mehrere (aber nicht alle) dieser Ereignisse gleichermaßen stark beeinträchtigt, während beide ökologischen Nischen bei weniger intensiven Ereignissen meist unabhängig voneinander reagierten. In ähnlicher Weise scheinen tropische Biota in mehreren der großen fünf Ereignisse unterschiedlich große Verluste erlitten zu haben. Bestimmte taxonomische Gruppen tendieren zudem anscheinend eher zur Auslöschung als andere. Diese „Risiko“-Gruppen, die wiederholt unter den großen fünf Ereignissen zu leiden hatten, umfassen Ammoniten, Trilobiten, Graptolithen und Riffbildner (z.B. Korallen, Bryozoa, Kalkalgen, Stromatoporen). In anderen Fällen hat man potenziell bedeutsame Variationsmuster entdeckt, die für ein Ereignis charakteristisch sind, doch sind vergleichbare Daten bis jetzt noch nicht für andere Ereignisse erhoben worden. Beispielsweise konnte David Jablonski zeigen, dass Molluskenspezies mit planktonischem Larvenstadium bei kleineren Aussterbeereignissen geringere Aussterberaten aufweisen als jene Arten, deren Larven sich schnell am Meeresboden absetzen, beide Gruppen während des endkreidezeitlichen Aussterbeereignisses allerdings vergleichbare Verluste erlitten. Ob dieses Muster auch auf andere Betroffene der „großen Fünf“ zutrifft, muss aber erst erwiesen werden.

Offensichtlich bleibt noch viel Forschungsarbeit zu tun, einschließlich des Sammelns vergleichbarer Daten verschiedener Aussterbeereignisse. Diese Vergleiche sind von größter Bedeutung, denn wie David Raup feststellte:

Man kann Ursache und Wirkung [in historischen Daten] nicht anders beurteilen als durch die Suche nach übereinstimmenden Mustern – und dafür muss jedes Ursache-Wirkungs-Paar mehrmals untersucht werden. Wenn alle Aussterbeereignisse verschieden sind, dann ist die Entschlüsselung jedes einzelnen nahezu unmöglich.

David M. Raup (1991, S. 151)

Dies ist eine exzellente Daumenregel, nicht nur für die Aussterbeforschung, sondern für jedes Fachgebiet, dessen Hypothesen durch historische – im Gegensatz zu experimentellen – Untersuchungen beurteilt werden müssen. In der Tat liegt dasselbe Prinzip jener Logik zugrunde, die in jeder Art wissenschaftlicher Forschung zur Anwendung kommt – in der gesamten Wissenschaft. Alle Wissenschaftler suchen nach übereinstimmenden Mustern in ihren Daten, um eine Verbindung zwischen |54|einer angenommenen Ursache und ihrer Wirkung herstellen zu können. Wenn in einem Laborexperiment jedes Mal auf dieselbe Veränderung im System ein anderer Effekt einträte, so könnten die Forscher das Verhalten des Systems niemals verstehen oder gar voraussagen. Das Vorgehen wird zwar komplizierter, wenn die Forscher lediglich Zugang zu historischen Daten haben, doch die logischen Prinzipien bleiben dieselben.

Zurück zu den fünf großen Aussterbeereignissen: Wie groß sind diese Ereignisse wirklich? Erinnern wir uns, dass die auf Seite 46 dargestellten Aussterbeintensitäten die Prozentsätze von marinen Wirbellosen-Gattungen anzeigen, die, als ein Teil aller damals existierenden Gattungen, zu irgendeinem Zeitpunkt in den verschiedenen stratigrafischen Zeitaltern verloren gingen. Insofern den Schätzungen der in diesem Diagramm zusammengefassten gattungsbezogenen stratigrafischen Reichweiten Daten auf Speziesebene zugrunde liegen, haben Generationen von Paläontologen und Biostratigrafen in mehr als 100 Jahren geduldiger Arbeit zu dieser Zusammenfassung beigetragen. Es wäre viel zu zeitaufwendig, alle Veröffentlichungen paläontologischer Daten zu durchforsten und diese Daten für jede fossile Spezies zu tabellieren. Indem einige Annahmen über diese familien- und/oder gattungsbezogenen Daten gemacht werden, kann man jedoch abschätzen, wie viele ausgestorbene Arten diese Prozentsätze implizieren.

Stellen wir uns vor, jede Spezies enthielte genau dieselbe Anzahl an Individuen, zum Beispiel zehn. Dann nehmen wir an, alle Gattungen enthielten dieselbe Anzahl an Spezies, und zwar ebenfalls zehn. Und nun nehmen wir weiter an, dass alle Familien, zu denen die Gattungen gehören, dieselbe Anzahl an Gattungen enthalten, noch einmal zehn. Führen wir dieses Gedankenexperiment bis zum Ende fort, erhalten wir ein Modell taxonomischer Biodiversität mit einer Million hypothetischer Individuen. Es ist kein besonders realistisches Modell, da wir wissen, dass es deutlich mehr Gruppen mit wenigen Taxa als mit vielen Taxa gibt. Es ist allerdings ein einfaches Modell, das man später immer noch verändern kann.

Nun stellen wir uns ein Aussterbeereignis vor, das Individuen nach dem Zufallsprinzip auslöscht. Da bekannt ist, wie viele Individuen zu jeder Spezies, jeder Gattung, jeder Familie und so weiter gehören, und auch bekannt ist, dass es für dieses hypothetische Aussterbeereignis keine Auslese unter Individuen gibt, kann man berechnen, wie viele Spezies aussterben müssten, um den Verlust eines bestimmten Anteils an Gattungen oder Familien oder jedweder höheren taxonomischen Gruppe zu erhalten. Wenn man also für dieses Modell annimmt, dass 75 Prozent der Individuen sterben, werden im Durchschnitt keine Reiche |55|oder Stämme, eine Klasse, zehn Ordnungen, 14 Familien, 38 Gattungen und etwa 70 Arten aussterben. Diese Zahlen erscheinen niedrig, doch muss man bedenken, dass mit nur einem einzigen Individuum einer Spezies, welches das zufällige Aussterbeereignis überlebt, auch die jeweilige Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, der Stamm und das Reich überleben.

Ist dieses Modell einmal mathematisch ausformuliert, können die Berechnungen auf jede beliebige Weise angestellt werden, etwa um die Zahl an Spezies abzuschätzen, die durch Aussterbeereignisse eliminiert werden müssen, damit ein bestimmter Anteil an Gattungen oder Familien ausgelöscht wird. In dieser Weise können wir das Artensterben schätzen, welches von den verschiedenen Prozentsätzen der oben abgebildeten Stufen impliziert wird. Und nicht nur das: Man kann das Experiment zudem mit beliebig vielen unterschiedlichen Ausgangsbedingungen wiederholen, um die Schätzungen realistischer werden zu lassen.

Führt man dies für die fünf großen Aussterbeereignisse durch, erhält man die Schätzwerte in Tabelle 3.

Tabelle 3. Schätzwerte der Aussterbeintensitäten auf der Speziesebene anhand der Familien- und Gattungsdaten für die fünf großen Aussterbeereignisse (Daten aus Jablonski 1955).


Selbst wenn marine wirbellose Arten nicht zu den Spezies gehören, die jedermann kennt, und sogar der Verlust einer großen Anzahl solcher Spezies den meisten Menschen eher belanglos erscheint, sind dies ohne Frage sehr große Zahlen. Tatsächlich lassen diese Ergebnisse in den Zeitstufen des größten Aussterbens (also am Ende des Perms und des Ordoviziums) einen so großen Artenverlust vermuten, dass schwer zu verstehen sein mag, warum nicht alles Leben verschwunden ist. Der Grund ist sehr wahrscheinlich, dass diese Sterben nicht gleichzeitig stattgefunden haben, sondern sich über die Jahrmillionen verteilt haben, welche diese Zeitintervalle umfassen: im Falle des Changhsingiums |56|2,8 Millionen Jahre, im Falle des Hirnantiums eine Million Jahre. Gleichwohl legt unser einfaches Modell nahe, dass die Größenordnungen des gesamten Artenverlustes bei diesen Aussterbeereignissen nichts weniger als erstaunlich sind.

Arten sterben

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