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- Die Lüge -

Eine Geschichte musste her, anrührend und fesselnd, um Violas Herz nicht nur zu erreichen, sondern möglichst zu erschüttern. Wie wäre es mit einer tragischen Romanze, welche vieles aus ihrer Vergangenheit in der einen oder anderen Abwandlung kolportieren könnte, so dass es schon detektivischen Gespürs bedurfte, kleinere Ungereimtheiten zu erkennen? Freilich müsste man sich dazu in etwas versteigen, was neben Einfühlungsvermögen vor allem genügend Authentizität verlangte, um glaubhaft zu bleiben. Nichts wäre fataler, als dabei ertappt zu werden. Nicht das sie ihre wahre Natur verleugnen wollte, beileibe nicht, aber um wirklich verstanden zu werden, war es einfach unumgänglich, sich in Gänze darzustellen, so auch in ihren Träumen.

Dazu muss man wissen, dass sie schon seit langem in ihren Träumen lebte, die sich in ihr soweit gefestigt hatten, dass sie zuweilen kuriosen Blüten trieben. So führten sie abends in ihrer Wohnung lange Zwiegespräche, mitunter gar hitzige Debatten mit allerlei fiktiven Gesprächspartner, denen sie die unterschiedlichsten Eigenschaften verlieh. Kaum zu glauben, wie interessant so etwas sein konnte, vorausgesetzt, man verfügt über die nötige Phantasie. So lange man nur tief genug in sich horcht und die eigene Widersprüchlichkeit zulässt, ist so etwas nicht schwierig. Dann ist es auch nicht mehr von Belang, ob eine Situation real oder fiktiv erscheint. Entscheidend bleibt der Effekt, der mitunter alle Zweifel vergessend macht und in seiner Rückwirkung Erstaunliches bewirken kann, sei es in Form von plötzlicher Euphorie, anhaltender Heiterkeit oder einem obligatorischen Kartengruß aus dem Urlaub mit dem verschnörkelten Zusatz: ’Viele Küsse, Dein Ronaldo` unter rosarotem Herzchen.

Nicht das sie schon verrückt war, jedenfalls nicht in diesem Sinne, und doch geriet sie immer wieder in Versuchung, sich in ihren Visionen zu übertreffen. Aber da sie nun mal so war, durfte sie das auch nicht verschweigen. Folglich lud sie sie eines abends zu sich auf ein Gläschen Wein ein. Zugegeben war ihre kleine Mansardenwohnung angesichts des spartanischen Mobiliars, das im Wesentlichen aus zwei Stühlen, einem Schrank und einer Liege bestand und das zudem noch aus zweiter Hand stammte, dafür nicht sonderlich repräsentativ. Verriet es doch unschwer ihre strenge Ökonomie, die im krassen Gegensatz zu ihrem sonstigen Lebensstil stand. Selbst mit ihrer Ordnungsliebe verhielt es sich nicht zum Besten. So hatte sie ständig Mühe, vergessene Papierreste in den dafür vorgesehenen Behälter zu werfen, war allergisch gegenüber jeglichem Abwasch und übertünchte unangenehme Gerüche lieber mit irgendwelchen Wässerchen, als die Ursachen zu beseitigen. Selbst die im Laufe der Zeit angesammelten Nippsachen schienen sich auf sonderbare Weise zu vermehren und vornehmlich an den staubigsten Ecken auszubreiten. Zwar hatte sie sich für diesen Abend alle Mühe gegeben, die hierfür nötige Ordnung zu schaffen, fürchtete jedoch Violas Feingespür für Reinlichkeit. Umso mehr hoffte sie, kleinere Nachlässigkeiten durch ein blendendes Äußeres zu überdecken. So trug sie ein lindgrünes Negligé mit süßem Spitzenbesatz und langem Seitenschlitz, hatte einige Kerzen angezündet und eine Flasche Chardonnay Grad Sud geöffnet, dessen liebliches Bukett sie besonders mochte. Im Hintergrund dudelte leise Musik von Pavarotti, und nachdem man gemeinsam ‘Brüderschaft‘ getrunken hatte – es folgte ein Küsschen auf die Wange - begann Franka sofort über Gott und alle Welt zu räsonieren. Doch obgleich das Thema sehr ernsthaft war – es ging um ihren jüngsten Disput mit einem unbedeutenden Kollegen -, wollte ihr eine überzeugende Empörung nicht gelingen. Immer wieder glitt sie ab, verzettelte sich wie jemand, der mit den Gedanken nicht bei der Sache ist und schaute sie zwischendurch verstohlen an. Viola merkte schnell, dass mir ihr etwas nicht stimmte, vor allem, nachdem ihre Gastgeberin ein paar Mal ins Stocken geraten war, besonders an heiklen Stellen, dann jedoch salopp darüber hinwegging, als wäre der kleine Schlenker durchaus gewollt.

Wie jetzt? Natürlich ginge es ihr gut, wie sie nur darauf käme? Nun ja, aber vielleicht habe sie recht und es gäbe tatsächlich ein paar Probleme. „Oh nein, nicht was du jetzt denkst, diese sind viel tieferer Natur,“ räumte sie schließlich ein. „Dabei liegt es ganz bestimmt nicht nur an ihm ... Wie jetzt? Habe ich dir noch nicht von ihm erzählt, von Ronaldo?“ Frankas Verwunderung wirkte echt. „Nein, so was, wie konnte ich nur ... fünf Jahre waren wir zusammen, fünf glückliche Jahre ... Er war aus gutem Hause, hatte eine glänzende Karriere vor sich ... hättest seine Mutter sehen sollen, eine richtige Schrulle war das ... er hingegen das ganze Gegenteil, groß, schlank, brünett, mit einem Hang zum Sentimentalen, ganz, wie ich es mag. Nun ja, wir verbrachten eine glückliche Zeit, und ich denke, dass unsere Liebe damals nicht inniger hätte sein können. Aber dann, ausgerechnet am Weihnachtsabend ... Oh, wie schwer wird mir ums Herz, wenn ich nur daran denke. Ich habe Tag und Nacht geheult, denn ich wollte es unbedingt, hatte mich darauf gefreut, wie man sich nur auf etwas freuen kann, ja, ich hätte mein Leben dafür gegeben ...“ An dieser Stelle verstummte sie in tiefer Selbstergriffenheit, nahm ihr Taschentuch und schneuzte. „Noch am selben Abend bekam ich Wehen ... Die Ärzte versuchten alles ...“. Erneut geriet sie ins Stocken, eisige Blässe legte sich auf ihr Gesicht und ihr Blick erstarrte. „Und dann, ja dann verlor ich es ... Ja, ich hab’s verloren, und wir sind beide darüber zerbrochen ... Nun weißt du es, weißt alles, was sonst niemand weiß und auch niemand wissen darf! Versprich mir, dass du schweigst, dass du niemandem davon erzählst, hörst du? Das ist mir wirklich wichtig, wichtiger, als alles andere auf der Welt.“

Natürlich versprach sie es, versprach alles, was die zu tiefst verzweifelte Freundin verlangte, wenn sie sich nur nicht länger quälte. Nun konnte sie ihre Tränen erst recht nicht halten und begann in ihren Armen zu schluchzen wie ein Kind, dabei weitere Details ihres Martyriums offenbarend, wie den verheerenden Blutsturz und die nachfolgenden Infusionen, die sie beinahe umbrachten; ihrem Liebsten, der Tag und Nacht an ihrem Bette wachte und dessen Versprechen, nie mehr von ihrer Seite zu weichen. Doch dann, inmitten der Schmerzenstiefe, die überraschende Wende. Im Nu hellte sich ihr Gesicht auf und sie klatschte vergnügt in die Hände. Nein, alles Lüge, kein Wort von dem sei wahr, ein verhurter Bock sei er gewesen, habe sie nur ausgenutzt, deshalb auch die Abtreibung. Dabei hatte sie noch Glück, denn der Termin wäre bereits sehr knapp gewesen und überhaupt seien die ganzen Umstände ...

Doch wieder brach sie ab und versank erneut in Trübsinn. Es folgte längeres Schweigen, bis sie tief ergriffen gestand, ihre Entscheidung nunmehr zu bereuen, so dass sie seither, von tiefen Schuldgefühlen gequält, keine Ruhe mehr fände. Immer wieder habe sie das Kind vor Augen, einen blonden Jungen mit blauen Augen; und als wäre es noch nicht genug, ließ sie den Kindsvater zu allem ganz wie Romeo eines unglücklichen Todes sterben, natürlich in ihren Armen und mit dem Bekenntnis tiefer Liebe auf den Lippen. Weshalb sie ihn plötzlich wieder ein ‘treues Herz‘ nannte, blieb ebenso unklar wie ihre Rachegelüste an der ‘gemeinen, hinterfotzigen‘ Männerwelt.

Ob es ihr Viola abnahm, war nicht auszumachen, auch wenn sie sich sichtlich betroffen zeigte und ihr wortlos die Hand drückte. Doch das allein genügte, um es sich zumindest vorzustellen. Frankas Herz drohte vor Freude zu zerspringen. Gab es etwas schöneres, als unter so viel Anteilnahme im eigenen Selbstmitleid zu zergehen? Nach dem tobenden Orkan, der sie eben noch zu zerreißen drohte, folgt eine süße, alles benebelnde Stille. Den ganzen Abend ließ sie sich bedauern und konnte nicht genug von Violas Mitgefühl bekommen, welches anzustacheln sie nicht müde wurde. Wiederholt verfiel sie allerlei unsinnigem Selbstvorwürfen, in dessen Folge sie sich maßlos tadelte und herabwürdigte, Violas Beschwichtigungsversuche hingegen als ’unverdient’ abtat. Ja, so war es recht. Endlich hatte sie gefunden, wonach sie suchte, kritikloser Zuspruch und vor allem bedingungslose Zuwendung in Momenten tiefsten Schmerzes. Und während sie sich treiben ließ, inmitten tiefer Seligkeit, fragte sie, einer spontanen Regung folgend, warum sie eigentlich noch alleine wäre und keinen Freund habe.

„Wer, ich? Wer sagt das denn?“, antwortete Viola daraufhin lachend und sah sie verwundert an. Natürlich habe sie einen Freund, nur lebten sie zurzeit noch nicht zusammen, hätten das aber für die fernere Zukunft vor; auch wünsche sie sich Kinder und eine richtige Familie, was aber im Moment schon aus beruflichen noch kein Thema sei.

Franka durchfuhr ein Ruck. Einen Freund, Kinderwunsch? Augenblicklich schien Ihr Herz still zu stehen und sie wich erschrocken zurück. Nicht möglich! Wieso hatte sie noch nichts davon erzählt? So etwas muss man doch tun, und das gleich zu Beginn; alles andere wäre eine Gemeinheit und überhaupt ... Sie war maßlos enttäuscht, um nicht zu sagen, am Boden zerstört. Nun kam kein sinnvolles Gespräch mehr zustande. In ihrem Durcheinander schützte sie eine Migräne vor, um das Zusammensein möglichst schnell zu beenden. Sie fand gerade noch die Kraft, sie zur Tür zu geleiten, ohne auch nur das Geringste zu sagen. Die Verabschiedung fiel entsprechend kühl aus. Kaum wieder allein, warf sie sich aufs Bett, zog das Kissen über den Kopf und schrie sich allen Frust aus dem Leib, ungeachtet des einsetzenden Klopfens ihres Nachbarn. Oh, wie verdammte sie ihre Naivität, die sie dazu verführt hatte, sich derart zu vergessen. Plötzlich verwünschte sie diese Hure und sann auf Rache. Doch im selben Moment schämte sie sich ihrer Gedanken und kam erneut ins Heulen. Aber war so etwas möglich? Konnte man sich wirklich so täuschen? Wer weiß, vielleicht verhielt es sich am Ende ganz anders, und die Sache erwies sich bei näherer Prüfung als völlig harmlos? Möglich wäre es, zumal ihr das Herz noch immer etwas anderes sagte. Wer war also dieser Kerl? Waren ihre Gefühle für ihn echt und vor allem, wurden sie von ihm erwidert? Sie musste es herausfinden, möglichst rasch; zu vieles hing davon ab.

Androgyn

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