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4. „Was nützt es dir …?“
ОглавлениеMitunter taucht im Heidelberger Katechismus wiederholt eine gerade für evangelische Ohren überaus befremdliche Formulierung auf: „Was nützt es dir …?“ Befremdlich deshalb, weil wir doch andernorts gewohnt sind, das bekannte Nützlichkeitsdenken etwa des zeitgenössischen Menschen vehement zu geißeln. Wie viel Predigten haben wir nicht schon gehört, in denen uns mitgeteilt wurde, dass es im Evangelium Gott sei Dank endlich einmal nicht um „Nutzen“ oder um irgendeinen vordergründigen Vorteil gehe, den der Glaube bringe. Und nun dies: „Was nützt …?“ Etwa: „Was nützt uns die Erkenntnis der Schöpfung Gottes?“ (Frage 28) Oder: „Was nützt uns die Auferstehung Christi?“ (Frage 45)
Vielleicht müssen wir an dieser Stelle einfach einmal zwischen Nutzen und Nutzen unterscheiden. Es gibt einen Nutzen, den bestimmen wir ganz und gar selber. Aufgrund unserer Interessen, unserer Ziele, unserer Wünsche. Nennen wir ihn der Einfachheit halber einmal den „subjektiven Nutzen“. Wir haben z. B. das Interesse, uns möglichst wohl zu fühlen. Aus diesem Grunde genehmigen wir uns, sagen wir einmal: eine Flasche Wein. Sofern es sich um einen guten Württemberger Trollinger handelt, wird uns dieser dabei zweifelsohne von Nutzen sein.
Es gibt aber noch einen anderen Nutzen. Nennen wir ihn einmal den „objektiven Nutzen“. Den bestimmen wir oft gar nicht selber mit unseren Wünschen, sondern der wird von woanders her bestimmt. Es könnte nämlich sein, dass das, was mir „subjektiv“ als nützlich erscheint, mir sozusagen „objektiv“ zum Schaden wird. Im Falle der erwähnten Flasche Wein könnte mir der Genuss derselben – obwohl er mir „subjektiv“ nützt, nämlich mir Genuss verschafft – „objektiv“ schaden, etwa als Beginn eines möglichen Suchtverhaltens. Und die Frage ist: Erkenne ich überhaupt immer selbst, was mir nicht nur „subjektiv“, sondern eben auch „objektiv“ nützt?
Natürlich halten wir als aufgeklärte, der Selbstbestimmung verpflichtete Menschen der Neuzeit so viel auf uns selbst, dass wir immer noch am besten zu wissen meinen, was uns nützt. Aber Vorsicht! Könnte sich hinter solch einer Selbsteinschätzung nicht auch eine maßlose Selbstverblendung verstecken? So dass wir in der Jagd nach dem, was uns vermeintlich zu nützen scheint, am Ende nicht nur uns, sondern auch anderen, etwa unseren Nachkommen, unserer Erde, den Pflanzen und Tieren Schaden zufügen. Die Sache mit dem Nutzen ist also schon etwas komplizierter. Und noch lange nicht immer auf den ersten Blick entschieden.
In Glaubensdingen hält der Heidelberger Katechismus diese Frage anscheinend für entschieden. Was mir etwa die Jungfrauengeburt oder das Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt Christi „nützen“, entscheiden nicht wir nach unserem „subjektiven“ Empfinden. Das entscheidet allein Gott. In Fragen des Glaubens ist also, wenn man so will, „objektiv“ bereits entschieden, was uns nützlich ist und was nicht. Und die Frage bleibt: Kann ich das überhaupt herausbekommen? Wenn ich ihn richtig verstehe, so will der Heidelberger mit seinem „Was nützt es dir …“ uns offenbar dabei helfen.
Mit der Wendung zum sozusagen „objektiven“ Nutzen wappnet uns der Heidelberger Katechismus schon jetzt für bestimmte unfruchtbare Auseinandersetzungen. Es gibt ja die vermeintlich christliche Position, nach der man den christlichen Glauben mit dem Argument gut begründen oder auch nur verteidigen möchte, dass man behauptet, der Glaube „bringe“ einem etwas, habe also einen bestimmten „subjektiv“ aufweisbaren Nutzen: etwa Ruhe und Geborgenheit, vielleicht sogar den ein oder anderen gesundheitlichen oder materiellen Gewinn. In Amerika gibt es darüber sogar ganze Statistiken, die das belegen sollen. Man ahnt, welch verheerenden Folgen das allein für die Menschen hat, denen es nun einmal nicht so gut geht. Haben sie etwa nicht fest genug geglaubt? Ist ihre schwere Erkrankung etwa schon ein Zeichen göttlicher Verwerfung? Die Bibel beteiligt sich jedenfalls nicht an solchen Spekulationen.
Subjektiv oder objektiv – dass der Heidelberger Katechismus sich überhaupt auf den Gedanken des Nutzens einlässt, hängt vielleicht noch mit etwas anderem zusammen. Philipp Melanchthon, einer der großen Reformatoren, schrieb: „Christus erkennen heißt, seine Wohltaten erkennen.“ Er wehrte sich mit diesem Satz gegen eine Theologie, die sich darauf beschränkt, bestimmte Glaubenswahrheiten als „an und für sich“ richtig anzusehen, unabhängig von ihrer Bedeutung für den Menschen. Die Geschichte Jesu Christi ist aber nicht ein Film, den man sich mit verschränkten Armen aus einer gewissen Distanz ansehen kann. Sie ist etwas, das um unseretwillen geschehen ist, ja, das uns schlicht zugute kommen soll. „Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an“, singt Martin Luther in einem seiner Weihnachtslieder. „Christus erkennen heißt, seine Wohltaten erkennen.“ Es könnte sein, dass der Heidelberger mit seinem sicher etwas ungewöhnlichen „Was nützt es dir …“ von vornherein eine reine Zuschauerhaltung abwehrt und uns zur Teilhabe einlädt. Etwas, um das wir ja andernorts mit Recht kämpfen. Hier haben wir es.