Читать книгу Das kleine Buch vom Meer: Leuchttürme - Olaf Kanter - Страница 18
ОглавлениеWie viele Seeleute hier ihr Grab fanden?
Alleine im „großen Sturm“ vom 26. und 27. Oktober 1703 sanken auf den Goodwin Sands 150 Schiffe, und mehr als 1500 Seeleute verloren ihr Leben. Viele Segelschiffe hatten in den „Downs“ geankert, wie das Gebiet zwischen den Sandbänken und der Insel heißt. Ein Flottenverband der Royal Navy wurde vom Wind in Stärke eines Hurrikans auf die Sandbänke gedrückt und dann von den Wellen zerschmettert. Auf der „HMS Northumberland“, der „HMS Mary“ und der „HMS Restoration“ gab es keine Überlebenden; 80 Crewmitglieder der „HMS Stirling Castle“ konnten gerettet werden. Mutigen Fischern und Seeleuten aus dem nahen Küstenort Deal gelang es, in diesen Stunden knapp 200 Leben in Sicherheit zu bringen. Neben den Kriegsschiffen sollen mehr als vierzig Handelsschiffe gesunken sein.
Im Jahr 1740 lief die „Rooswijk“ der niederländischen Ostindienkompanie auf den Goodwin Sands auf, beladen mit Silber und anderen Schätzen. Alle 350 Menschen an Bord starben; das Wrack wurde 2004 in knapp zwanzig Metern Tiefe entdeckt. Im Sommer 2017 holten Taucher in einer großen Bergungsaktion, beauftragt vom niederländischen Ministerium für Bildung und Kultur, mehr als tausend Objekte von den Goodwin Sands. Darunter Geschirr, Musketen, Säbel und Alltagsgegenstände wie Nägel für Schiffszimmerleute, was Historiker noch mehr begeisterte als die Silbermünzen.
Havarien auf den Goodwin Sands gerieten im Laufe der Jahrhunderte beinahe zur Normalität an der Küste vor Ramsgate. Im Januar 1852 gerieten innerhalb von 19 Tagen fünf Schiffe in Seenot; im Folgejahr berichten die Chronisten von 13 Strandungen, nur bis in den Monat Mai. Auch im 20. Jahrhundert galt ein Schiffsunglück auf den Goodwin Sands nicht als ungewöhnlich; vor allem nicht in den Kriegsjahren, wenn aus Furcht vor einem Angriff der Deutschen die Leuchtfeuer ausgeschaltet wurden. So lief kurz vor Weihnachten 1914 die Montrose, ein Schiff der Canadian Pacific Line, mit einer Zementladung an Bord auf den Sandbänken auf und zerbrach in zwei Teile. Zum natürlichen Feind der Seeleute gehörten auch immer die Goodwin Sands.
Natürlich überlegte man, wie man das Revier sicherer machen konnte. Drei Feuerschiffe sollen neben einem Dutzend Bojen den Schiffen den Weg weisen. Das „East Goodwin Lightvessel“ wurde 1874 in Betrieb genommen. Auch der Einsatz auf den Feuerschiffen war gefährlich. In der Nacht auf den 27. November 1954 brachen in einem Orkan die Ankerketten des „South Goodwin Lightvessel“. Für die Besatzung des Schwesterschiffs „East Goodwin“ war es furchtbar, zusehen zu müssen, wie es nördlich der Station vorbeitrieb. Die Besatzung harrte in der Kombüse aus. Das Feuerschiff trieb auf die Goodwin Sands und kippte auf die Steuerbordseite. Sieben Männer ertranken in dieser Nacht; nur einem gelang es, sich durch ein Fenster zu retten. Er wurde von der Besatzung eines Hubschraubers aus der wütenden See gezogen. Der Pilot erhielt für den Einsatz in starkem Wind und Regen später eine Tapferkeitsmedaille. Erst einen Tag später konnten andere Rettungseinheiten und Taucher nach den Vermissten suchen, so schlecht war das Wetter. Sie bargen nur noch die Leichen.
Ein Morse-Code nach dem anderen dringt aus dem Leuchtturm heraus. Ich sitze auf einer Bank, sehe hinaus auf die See, die an diesem Herbsttag nur leicht bewegt ist, und spüre eine Gefahr. Es gehört für mich zur Magie des Meeres, dass es so bedrohlich wirkt.
Welche Ängste standen Seeleute früher aus? Wenn ein schwerer Sturm aufzog und sie wussten, dass sie es mit den Goodwin Sands zu tun hatten. Schon immer war die Straße von Dover eine der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt. Das lateinische Motto „Perfugium Miseris“ hat man in den Stein des alten Leuchtturms gemeißelt, „Zuflucht für jene in Not“. Wie die geöffneten Arme des Hafens, an dem man hundert Jahre lang baute.
Auf dem Weg zurück in die Stadt spaziere ich an der Kirche der Seeleute vorbei. Die Tür steht auf. Diese Kirche und die benachbarte Mission wurden im 19. Jahrhundert für die Crews der Fischerboote und ihre Schiffsjungen errichtet, die man „Smack Boys“ nannte. Es war eine gefährliche, anstrengende Arbeit, und es war einem Vikar namens Canon Eustace Brenan zu verdanken, dass die jungen Männer eine Zuflucht fanden. „Home for Smack Boys“, steht in großen Buchstaben auf der Fassade aus rotem Backstein. Die Seemannsmission diente auch als Station für Schiffbrüchige, die einen Untergang überlebt hatten.