Читать книгу Drei Kraniche im Himmel - Olga Kelm - Страница 4
Drei Freundinnen
ОглавлениеLena Schmidt wohnte mit ihren Eltern und mit ihrer Schwester in Zentralasien in einer kleinen kirgisischen Stadt. Traumhafte Gebirgsketten umringten ihren Wohnort, die große Spitzen der Bergen ragten dominant und schroff auf, die Täler lagen tief. Mehrere Flüsse, größere und kleinere, mündeten alle in geschlossene abflusslose Becken. Darüber hinaus herrschten alpine Wiesen und Weiden auf, auf denen Schafsherden weideten. Es gab in Kirgisien große, pulsierende Städte, wie kleine, nicht modernisierte Dörfer, fern von jeglicher technologischen Fortschritte.
Es gab nicht viel, was man über ihre Kindheit sagen könnte, außer, dass sie sehr schön gewesen war. Lenas Familie war nicht reich und nicht arm. Wenn es etwas gefehlt hatte, konnte man es bei den liebevollen Nachbarn ausleihen. Mit der Liebe in ihrem Haus wurde beinahe verschwenderisch umgegangen. Lena wuchs in einer landschaftlichen Idylle auf, sie wurde geliebt; in der Schule brachte sie gute Leistungen und ihre Freizeit war auch mit positiven Erlebnissen erfüllt.
Lena hatte ein ruhigen Charakter, während ihre Schwester Irina das große Talent besaß, jedem Ereignis den Beigeschmack des Abenteuers zu geben. Ihr Naturell blieb zu jeder Zeit fröhlich und aktiv. Irina strahlte gesunde Energie aus Licht und Wärme aus. Sie war diejenige, die die Kinder anstiftete, rauszugehen und auf der Straße Räuber Spiele zu spielen.
Der Sommer in Kirgisien war trocken und warm. Die Kinder verbrachten viel Zeit draußen. Leichtfüßig, zielstrebig kletterten sie auf Bäume, in ihren breit geschnittenen Kleidern, pflückten Äpfel und Pfirsiche und genossen die Sonnenstrahlen. Öfters konnte man Lena, ihre Schwester Irina und Fatima mit Handtüchern in der Hand gehen sehen; sie gingen den Berg hinunter zu dem See. Auf der Landkarte sah dieser See wie ein kleiner Wassertropfen aus, inmitten des Grünen, doch den drei Freundinnen erschien es als riesig. Dort zogen sie ihre Kleider aus, falteten und legten sie auf die Steine und badeten nach Herzenslust im hellblauen Wasser. Nachdem sie aus dem Wasser rauskamen, setzten sie sich gewöhnlich ins Gras. Sie spürten die Leichtigkeit in ihren Körpern. Dabei wurden sie von der Sonne, die im Zenit stand, mit heißer Luft bedacht und sie ließen ihre langen Haare in dem Sommerbad trocknen. Ihre Haare wirkten dabei wie das Gelbe der Zitronen, Fatimas Haare dagegen wie die glänzende Aubergine. Neben ihnen breitete sich die traumhaft schöne und abwechslungsreiche Landschaft. Mit strahlenden Augen und freudig geröteten Wangen gingen sie nach dem Baden zurück nach Hause.
Im Herbst gingen die Mädchen in den Nusswald, in kleinen Körben landeten genussvolle Walnüsse, die sich im Schatten der hundertjährigen Nussbäume verstreckten.
Der Winter in Kirgisien war dagegen kalt, sodass die Kinder zu Hause saßen. Blickte man aus den Fenstern, sah man die weißen Mützen auf den Gipfeln der Berge. Manche Schneekristalle glitzerten im Sonnenlicht wie weiße Diamanten. Besonders interessant war es, wenn eine Lawine begann, den Gipfel entlang zu gleiten. Dann klebten die Kinder an den Fensterscheiben und beobachteten dieses Naturphänomen. Sie malten mit ihren Fingern, an den zugefrorenen Fenstern, kreative Bilder und waren wunschlos glücklich, bis der Abend die bevorstehende Schneenacht mit noch stärkerem Wind ankündigte.
Jedes Jahr, im Frühjahr und im Herbst, kündigten sich die Kraniche durch ihre Rufe schon aus der Ferne an. Die Mädchen standen fasziniert da, den Blick in den Himmel gerichtet und empfangen mit Freude die Kranichzüge. Sie sahen den Kranichen fasziniert zu, wie sie in Scharen durch den Himmel schwebten.
„Wir haben vor kurzem bei uns in der Klasse eine Geschichte über Kraniche gehört“, sagte Lena. „In Japan wird der Kranich als ein Symbol des Glücks und der Langlebigkeit angesehen. Ein Mädchen, sie hieß Sadako, welches nach der Atombombe auf Nagasaki schwer erkrankte, bekam im Krankenhaus Besuch von ihrer Freundin. Ihre Freundin brachte ihr Origami-Papier mit und zeigte ihr, wie man die Kraniche faltet. Laut der Legende, können Kraniche tausend Jahr alt werden. Wenn man tausend Kraniche faltet, dann wird man gesund, hieß es damals in den Zeiten. Sadako glaubte daran und faltete die Kraniche. Ihre Freundin half ihr mit und später kamen auch andere Kinder hinzu … Sie glaubte fest daran, mithilfe der Kraniche ihre Krankheit besiegen zu können.“
„Hatte sie überlebt?“
„Nein. Sie schaffte es, nur 644 Kraniche zu falten, laut der Legende … Aber der Glaube an ihre Genesung und die Unterstützung ihrer Freundin und der Mitschüler gaben ihr Mut und Kraft. Viel mehr: Sie bewegten etwas Gutes in Menschen und nun dient diese Legende über die Kraniche als Friedenslegende. Die Kraniche mahnen jeden, alles für den Frieden zu tun, an ihn zu glauben und für ihn zu kämpfen.“
Die Mädchen schauten genauer dem Zugvogel zu; drei Kraniche flogen zum Schluss nebeneinander.
„Wir sind auch wie diese drei Kraniche“, meinte Irina. „Wir sollen auch zusammenhalten und uns gegenseitig im Leben unterstützen, wo wir nur können.“
Alle drei Mädchen stellten sich im Kreis, streckten ihre Hände aus und legten sie aufeinander.
„Versprochen“, hörte man die drei laut sagen.
In der Schule bestanden die Klassen aus den Kindern mehreren Nationalitäten: Lena und Irina waren Deutsche. Es gab russische Mädchen und mehrere kirgisische Kinder. Die Kinder spürten manchmal die Andersartigkeit ihrer Kulturen, jedoch hatten sie ihre kulturellen Unterschiede toleriert. Sie lernten Kirgisisch und Russisch; asiatische Schrift vermischte sich oft mit kyrillischen Buchstaben, zudem lernten Lena und Irina zu Hause manchmal Deutsch.
Das eine hatten alle Mädchen gemeinsam: Ihre braunen Schuluniformen waren stets gebügelt und ihre weißen Kragen und Manschetten strahlten in der Farbe der Apfelblüte. Die Schuluniform ergänzte ein rotes Halstuch und ihre Schuhe wurden blitzblank geputzt. Ihre Haare wurden seidig und glatt gebürstet und zu zwei Zöpfen geflochten. Sie saßen zu zweit an der Holzschulbank; Lena saß mit Fatima; Irina war ein Jahr älter und besuchte eine andere Klasse.
Lena und ihre Schwester waren mit Fatima, die gleich neben ihnen wohnte, seit ihrer frühen Kindheit befreundet. Es gibt Menschen, die von der Natur mit einer außergewöhnlichen Schönheit ausgestattet waren, zu denen auch Fatima gehörte. Fatima war sehr hübsch, sie hatte dunklen Teint, mandelförmige Augen und lange dunkle Haare, die sie manchmal in mehrere Zöpfe flocht. Es gab in ihrer Schule viele äußerlich schöne Mädchen, aber Fatimas Schönheit reichte bis nach innen. Sie war sehr bescheiden und hielt sich von allen Kosmetikartikeln fern. Alle, die Fatima kannten, bestaunten ihre Geduld und ihre Sanftheit. Ihr Lachen war so klangvoll, dass es jeden Raum ausfüllte.
Bis in das Jugendalter fragten sich die Mädchen nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde. Sie erschien ihnen als ein schöner, angenehmer Traum. Allmählich wurde Fatima immer trauriger.
„Ich wünschte mir“, sagte sie, als die Mädchen abends neben dem Zaun saßen, ,,ich wäre eine von euch. Ihr dürft selbst entscheiden, was ihr werden möchtet, ihr dürft selbst eure Zukunft gestalten. Ich dagegen habe Angst, dass meine Träume nicht in Erfüllung gehen werden.“
„Welche Träume hast du denn?“, fragte Irina.
„Ich möchte Journalistin werden. Ich würde gerne studieren und an die Menschen die Wahrheit, mit meinen Worten und Gedanken übermitteln wollen.“
„Warum meinst du, du wirst es nicht können?“
„Höchstwahrscheinlich würde mich das gleiche Schicksal erwarten, wie die anderen kirgisischen Mädchen auch. Nur wenige von uns dürfen weiterlernen, die meisten werden zwangsverheiratet. Mein Vater äußerte sich schon über die Heirat.“
„Kannst du dem nicht entgegenstemmen? Dich weigern? Weglaufen? Oder was ist, wenn du dich selbst in jemanden verliebst?“
„Selbst wenn ich mich in jemanden verlieben würde, müsste ich hierbleiben. Ich möchte jedoch in eine große Stadt.“
Lena und Irina zuckten mit den Schultern. Ihnen war die große Stadt nämlich egal, sie waren dort mehrmals mit ihren Eltern. Fatima war jedoch noch nie außerhalb ihres Wohnortes.
„Lasst uns doch Kraniche falten“, schlug Lena vor. „Für den Frieden, für unsere Träume, für unsere Zukunft.“
Sie falteten Origami und beschrieben sie nicht nur mit ihren eigenen Träumen, sondern auch mit den Glückwünschen an die anderen. Sie tauschten ihre Kraniche untereinander aus und behielten einige für sich selbst.
„Wir sollen unsere Faltarbeit sorgfältig aufbewahren“, meinte Fatima und fügte hinzu: „Nach zehn Jahren können wir uns mal treffen und unsere Kraniche noch einmal ansehen und mit dem realen Leben vergleichen. Ob unsere Träume in Erfüllung gehen?“
Als die beiden Schwestern am nächsten Tag mit ihrer Mutter zusammen Teigtaschen machten, erzählten sie ihr über Fatimas Befürchtungen und über ihre Träume.
„Warum muss sie immer auf ihren Vater hören? Warum?“, fragte Lena.
„Es ist asiatische Kultur, es läuft seit mehreren Jahrhunderten so … Die Frömmigkeit des Mädchens ist ein Talisman ihrer Eltern, in der kirgisischen Kultur. Und gut, wenn sie freiwillig heiraten wird, viel schlimmer wird es, wenn sie entführt wird.“
„Ala Kachuu?“, fragte Irina. Alle wussten, dass darunter eine Zwangsverschleppung gemeint wurde, mit dem Ziel, das Mädchen zu beflecken. Diese Tradition nahm ihren Anfang in den nomadischen Zeiten, wird jedoch auch in der modernen Gesellschaft ausgeführt. Viele Männer in Kirgisien sehen den Brautraub als Tradition und rechtfertigen sich damit. Der ursprünglich gute Wunsch, eine Familie zu gründen, äußert sich auf solch einer unwürdigen und ungesunden Art und Weise. Sie denken gar nicht dabei an die Gefühle der Mädchen und der Frauen. Wenn so etwas einem Mädchen passierte, sie verschleppt werden würde und eine Nacht außerhalb ihres Elternhauses verbringen müsste, ist ihre Ehre beschmutzt, selbst wenn es nicht zu dem körperlichen Kontakt mit ihrem Entführer käme. Dann müsste sie ihn gleich danach heiraten, sonst droht ihr die gesellschaftliche Ausgrenzung. Entführung passiert manchmal auch freiwillig, wenn der Bräutigam kein Geld hat, um Kalym zu bezahlen, meist jedoch spielen sich brutale Szenen ab. Auf diesen Wegen geschlossene Ehen werden unter dem Deckmantel der Tradition schöngeredet, sodass es zur Normalität wird. Der Brautraub ist nichts Ehrenrühriges. Solche Situationen hatten die Mädchen als Zeuginnen schon miterlebt, das nahmen sie still und wortlos an: Zu unehrenhaft war dann das soziale Stigma, hätten sie andere Entscheidungen getroffen oder sich anders darüber geäußert. Lenas Familie tolerierte den Lebensstil der kirgisischen Menschen meist, jedoch war sie mit der Gewalt gegenüber den jungen Frauen und Mädchen nicht einverstanden.
Irina regte sich auf: „Wenn mir so etwas passieren würde, wenn mich jemand verschleppen will, würde ich beißen und kratzen und alles Mögliche dafür tun, um mich zu befreien.“
Lena schwieg. Sie konnte ihren Familienmitgliedern nicht offenbaren, dass sie sich in den Timur verliebt hatte. Plötzlich kam sie auf die Idee, eine Frage zu stellen, die sie seit einiger Zeit quälte.
„Wie ist es, wenn ein deutsches oder russisches Mädchen sich in einen Kirgisen verlieben würde? Was würde dann geschehen?“
Lenas Mutter schaute sie aufmerksam an, ein leises Alarmglöckchen begann jedoch, in ihrer Seele zu klingeln.
„Das würde ich niemandem empfehlen … Freundschaften schließen dürft ihr mit allen, die anständig sind, aber heiraten muss man jemanden aus seiner eigenen Kultur“, antwortete ihre Mutter mit einer ernsten Stimme, beinahe so, als ob sie ihrer Tochter eine wichtige Lektion fürs Leben erteilen würde. Lena fiel in dem Moment der Löffel verräterisch klirrend aus der Hand auf die Tischplatte.
„Warum? Es ist doch egal, welcher Nationalität der Mensch ist“, begehrte sie auf.
„Es ist nicht leicht, in einer Kultur aufzuwachsen und gleich danach in die andere Kultur einzutauchen und ein Teil davon zu werden. Die Werte, die euch in ihrer Kindheit beigebracht werden, werden überwiegen.“
Lena nickte. Sie hatte jedoch trotzdem Hoffnung, dass sie glücklich mit Timur sein könnte, falls er sich in sie verlieben würde. Außerdem war sie der Meinung, dass man mit der wahren Liebe alle Hürden überwiegen könnte.
„Bei der Liebe gibt es keine juristische und kulturelle Größe oder Maße“, meinte sie stur und fügte hinzu: „Liebe ist Liebe“.
In der Schule schielte sie öfters mal zu Timur hin. In den Pausen nahm sie häufig einen kleinen Spiegel aus ihrer Schultasche raus und schaute sich an. Sieht sie nicht schön aus? Ist mit ihren Haaren alles in Ordnung? Sind ihre weiße Spitzen an dem Oberteil des Kleides, die sie angenäht hatte, immer noch sauber?
Einmal wurde sie bei der Selbstbetrachtung in den Handspiegel von ihrer Lehrerin erwischt.
„Du hast früh angefangen, dir Gedanken um dein Äußeres zu machen“, sagte sie. „Du solltest lieber mehr an deine Schulnoten denken.“
Lena wurde purpurrot und schämte sich. Zugleich fühlte sie sich aus unerfindlichem Grund gekränkt. Die Lehrerin konnte auch etwas sensibler mit ihrer Bemerkung sein, dachte sie sich. Ihre Noten … ja, sie hatte in letzter Zeit viele dicke rote Dreier erwischt, mit langen Unterschriften der Lehrer und mehreren Ausrufezeichen dahinter, was Gefahr bedeutete. Aber was ist, wenn sie im Unterricht stets an Timur denkt, anstatt an den Unterrichtsstoff?
Außerdem hatte sie ja auch andere Sorgen. Ihre Familie traf die Entscheidung, die das ganze Leben auf den Kopf stellen könnte: Lenas Eltern stellten den Antrag für die Ausreise nach Deutschland.