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Fatimas Entführung

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Gewöhnlich ging Fatima abends kurz in den Garten und setzte sich auf die Bank unter dem Apfelbaum. Meist hatte sie noch ein Buch dabei. Dieser frühlingshafte Tag war besonders warm und Fatima atmete die frische Apfelduft ein. Der Abend klang mit einer in rotgoldenes Licht getauchten Dämmerung aus. Sie war in ihrem Buch vertieft, als sie plötzlich drei junge Männer neben sich sah.

„Nein“, konnte sie nur kurz aufschreien, bis eine Hand ihr den Mund zudrückte und sie an den Händen und Füssen ins Auto gezerrt wurde.

„Bitte lasst mich doch frei“, flehte sie ihre Entführer an.

„Es gibt sicherlich andere tolle Mädchen, die euch freiwillig heiraten würden.“ Doch die Männer ließen sich von ihr nicht ab. Sie fuhren mit dem Auto los.

Während des Fahrens schaute sie die Männer an: Wer hatte sich denn auf sie abgesehen? Sie fragte sich, ob sie sich nicht stärker hätte wehren können. Warum hatte sie denn nicht geübt, körperlich gegen Gewalt anzugehen? Aber bei drei Männern, war ihr klar, wäre es kaum möglich, sich aus den Fängen zu befreien. Warum saß sie nur im Garten? Wäre es ihr passiert, wenn sie in ihrem Zimmer geblieben wäre? Sie machte sich Vorwürfe, aber gleichzeitig war ihr klar, dass die Männer sie auch anderswo verschleppen konnten, auf dem Weg zur Schule, zum Beispiel.

Das Auto fuhr über mehrere Serpentinen. Sie saß eingeengt auf dem hinteren Sitz zwischen den Fremden. Mittlerweile befanden sie sich oben in der Gebirgskette. Fatima schaute nach links ins Fenster: Wenn sie die Tür öffnen und rausspringen könnte, würde sie ins tiefe Tal hineinfallen. Sollte sie so ihrem Leben das Ende setzten? Als ob ein Entführer ihre Gedanken lesen konnte, beugte er sich über Fatima zu der Autotür, neben der sie saß und hielt die Klinke fest. Die Serpentinen kreiselten jetzt mehr nach unten ins Tal, bis ein Dorf in die Aussicht kam.

Als sie aussteigen dürfte, sah sie ein stabiles gepflegtes Haus.

„Hier hinein“, meinte der Mann, der sich als Raynur vorgestellt hatte. Jetzt wusste sie nun, wem sie gehören würde.

Vor dem Haus stand Raynurs Mutter. Sie strich Fatima auf den Kopf und setzte ihr den jolook – traditionellen Brautschleier – auf.

„Herzlich willkommen in unsere Familie“, sagte sie. Die Tränen in Fatimas Augenwinkeln begannen zu brennen. Jedoch blieb sie still. Widerstandslos fügte sie sich ihrem Schicksal ein. Sie gingen in das Haus rein und Raynur brachte Fatima sofort in das Schlafzimmer. Schon in dem Augenblick fiel Fatima mehrere teure orientalische Teppiche in dem Haus auf; ein Zeichen des Wohlhabens. Auf der Schwelle blieb sie kurz stehen und fragte verängstigt:

„Warum ausgerechnet ich?“

„Du bist sehr schön … Du hast solch schöne Haare … “, sagte Raynur und ließ ihren Zopf durch seine Hände gleiten.

„Darf ich mich erst kurz frisch machen?“

Raynur begleitete sie in den Nebenraum, wo mehrere Kessel mit Wasser standen.

„Ich warte im Schlafzimmer auf dich“, sagte er und ging raus. Fatima schaute kurz aus dem Fenster raus: Die anderen Entführer standen neben dem Zaun. Hier würden sie die ganze Zeit stehen, bis es geschieht, dachte sie sich. Sie konnte ihrem Schicksal nicht entkommen.

Sie wusch sich sehr lange. Auch ihre Haare, die fast bis zum Knie reichten, wusch sie mit der Seife und trocknete sie mit einem Handtuch, der an der Wand an einem Hacken hing.

Schließlich trat sie in das Schlafzimmer ein, mit noch nassen Haaren und mit dem glühenden Gesicht. Die abendliche Sonne leuchtete schräg durch die Gardinen ins Zimmer hinein, tauchte den unvertrauten Raum spaltenbreit in das goldene Licht. Fatima seufzte tief. Sie wird ihrem Schicksal nicht entkommen können, das war ihr klar. Schon alleine die Tatsache, dass sie die Nacht mit einem Mann alleine in einem Zimmer verbringen würde, nahm ihr im Vorab die Ehre.

Raynur saß im Sessel. Er schwieg, Fatima schwieg auch. Sie wusste nicht, was man in solchen Situationen sagen und machen könnte.

Fatima warf ihren Blick auf die Bettwäsche. Sie schien nicht frisch zu sein.

„Gibt es hier andere Bettwäsche?“, fragte sie etwas verängstigt. In ihren Augen lag die Bitte, sie zu schützen, ihr beizustehen. Diese Hilflosigkeit erschüttere

Raynur am meisten.

Er stand auf und öffnete den Zimmerschrank.

„Hier kannst du schauen.“

Fatima ging zu dem Schrank und zog weiße Bettwäsche raus. Wenn es schon geschehen soll, dann bitte auf einer sauberen Wäsche. Sie überzog die Bettwäsche und legte sich hin.

Raynur saß immer noch im Sessel. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er es nicht tun könnte, das, was die andere für normal hielten und auch von ihm erwarteten. Aber er konnte keinen Rückwärtsgang mehr einschalten. Immerhin begriff er, dass er kleinmütig geworden war. Er hatte keine Selbstachtung vor sich selbst verloren, denn sein Beschützerinstinkt überwog in dem Moment die Erwartung der anderen, davon war er überzeugt. Die Reue stand in seinem Gesicht geschrieben, obwohl seine Tat eine Tradition war. Er versuchte, sein Gewissen zu beschwichtigen: Raynur war zwanzig, er brauchte dringend eine Frau, die ihm Essen vorbereiten würde, seine Wäsche wusch und einfach für ihn da sein wird. Fatima hatte er ausgesucht, weil sie so schön war. Er wusste über ihre berufliche Pläne Bescheid und wagte sie zu entführen, bevor sie ihren Abschluss machte.

Hatte er ein schlechtes Gewissen? Ja, sicherlich, aber er wuchs in einer Kultur auf, wo so etwas normal war. Das geschah überall in Kirgisien, es war die Normalität. Doch er konnte in dieser Nacht Fatima nicht anrühren, obwohl er sich dies in seinen Gedanken abgespielt hatte. Plötzlich strahlte sie etwas Verletzliches und Zerbrechliches aus, etwas, was ihn daran hinderte, dies zu tun.

„Ich werde hier im Sessel schlafen“, kündigte er an und holte sich eine Decke.

Später war sich Fatima nicht sicher, ob sie in dieser Nacht überhaupt geschlafen hatte. Verzweifelt wartete sie auf den Sonnenaufgang. Irgendwo im Dunklen tickte eine Uhr. Fatima verspürte den Wunsch, aufzustehen und die Uhr nach vorne zu drehen. Jedoch ließ sich die Zeit nicht vorspulen.

Endlich kam der Morgen. Fatima zog sich an und schaute auf die Bettwäsche, die immer noch arktisch weiß, geblieben war. Nach solchen Nächten war es Tradition, den Bettlacken mit sichtbaren Spuren zur Schau für alle draußen aufzuhängen. Fatima blickte verängstigt Raynur an. Er las ihre Angst aus ihrem Blick heraus, sagte: „Ich komme gleich“ und ging raus. Zurück kam er mit ein paar Beeren. Er beugte sich über das Bettlacken, drückte den Saft der Beere auf das arktische Weiß.

„So sieht es gut aus“, meinte Raynur und Fatima seufzte erleichtert.

„Deine Eltern haben dir das Kleid mitgebracht“, fügte Raynur hinzu und gab ihr ihr rotes Kleid.

Die stillschweigende Duldung ihrer Familie, wie auch der Familien, der anderen entführten Mädchen, war nichts Untypisches. Fatima zog sich um und kämmte ihre Haare glatt. Sie setzte den jolook auf ihren Kopf und schaute sich in dem Spiegel an.

„Der jolook steht dir sehr gut“, sagte Raynur und lächelte sie vertraut an. Fatima lächelte ihm auch entgegen, obwohl sie immer noch Angst hatte. Gemeinsam gingen sie raus, wo schon alle, auch Fatimas Eltern, auf das Brautpaar warteten. Viele Frauen stürzten auf das Brautpaar sofort zu und warfen ihre prüfenden Blicke.

Die Tische waren festlich gedeckt und die Gäste warteten ungeduldig darauf, die Gerichte verzehren zu dürfen. Inmitten eines Tisches stand ein großer Lammbraten in einer dunklen Soße, weitere Teller mit marinierten Heringen, gekochten Kartoffeln und Obstschalen standen auch an den Tischen geordnet. Mehrere Frauen standen vor dem Tisch. Fatima strich mit ihrer Hand über ihren Kopf: War ungewöhnlich, das weiße Tuch auf ihrem Kopf zu spüren und zu verstehen. Von nun an hatte sie noch weniger Freiheit, ab nun gehörte sie einer anderen Familie. Dennoch konnte sie nicht umhin, das zarte Tuch zu bewundern, in welches sie gehüllt war. Die glitzernden Steinchen auf dem zarten Stoff brachten die Braut zum Leuchten.

„Du kannst dich glücklich schätzen, so eine hübsche Frau zu heiraten, Raynur“, sagten die Gäste zu dem Bräutigam.

Laut Tradition bereitete, und servierte, Fatima den Gästen den Tee vor. Dabei kullerte die ein oder andere Tränen von ihrem Gesicht runter. Sie wusste: Die Jahre, die vor ihr lagen, sollten sie lehren, sich zu mäßigen. Fast schien es, dass der Faden ihres Schicksals durch einen anderen ausgewechselt wurde und sie, nun ein ihr unbekanntes Muster weben musste. Die Erde hatte aufgehört, sich zu drehen und begann die Drehungen in die entgegengesetzte Richtung an, so fühle es sich an.

Jetzt spürte sie deutlicher, dass es immer noch Orte in dieser Welt gibt, in der eine junge Frau gar kein Recht hat; an denen ihre Tränen, wenn sie überhaupt bemerkt werden, nichts bedeuten. Orte, in denen fremde Männer über dein Leben bestimmen.

Die Schule beendete sie nicht, sie verließ sie, ohne einen Schulabschluss zu bekommen. Ab nun musste sie die Arbeiten verrichten.

Drei Kraniche im Himmel

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