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Fatimas Sorge
ОглавлениеEines Tages, als Fatima und Lena sechzehn waren und Irina schon siebzehn war, gingen sie gemeinsam von der Schule nach Hause. Irina hatte bald Abschlussprüfungen, die andere Mädchen erst nach einem Jahr und sie redeten über ihre Zukunft. Plötzlich wurde Fatima blass und schaute auf die gegenüberliegende Straßenseite. Irina folgte ihrem Blick nach: Dort standen drei junge Männer und beobachteten die Schülerinnen. Was hatte nun Fatima falsch gemacht? Sie benahm sich immer so, um keinesfalls die Blicke der Jungs auf sich zu ziehen. Warum stehen die kirgisische Jungs da und beäugen sie?
„Diese jungen Männer sehe ich schon zum zweiten Mal. Wisst ihr, was das bedeuten könnte?“
„Ach was, Fatima“, versuchte Irina sie zu beruhigen. „Die stehen doch nur zufällig da. Und wir sind bei dir, wir werden nicht zulassen, dass es dir etwas geschehen würde.“
Aber auch die beiden Schwestern waren besorgt.
„Fatima“, sagte auch Lena, „ab nun darfst du nicht mehr alleine auf die Straße gehen, warte immer auf uns. Wir werden dich beschützen.“
Fatima ließ sich beruhigen. Sie hoffte inständig, dass ihre Sorge unbegründet ist und sich nur auf ihren Angstgefühlen fußt. Sie sprach ihre Eltern nicht darauf an. Sie waren eher der Meinung, je früher das geschehen würde, desto besser würde es für sie sein, sie hatten keine Lust auf ständige Gespräche über das Studium und den Journalismus. Und wenn Fatima keinen Schulabschluss bekäme, umso besser wäre es, dann wird sie auch keine Möglichkeit haben, sich bei der Uni anzumelden.
Noch bis zu Ende des Schuljahres begleiteten beide Schwestern Fatima zur Schule. Junge Männer, die ihnen so viel Angst eingejagt hatten, ließen sich nirgendwo mehr blicken.
Doch in Raynurs Haus liefen die Vorbereitungen für eine Hochzeit auf Hochtouren. Seine Mutter hatte schon vor einigen Monaten damit begonnen, ihm einige Mädchen als Ehefrau anzupreisen.
„Es ist Zeit, dass du endlich heiratest, mein Sohn“, sagte Raynurs Mutter. „Allmählich werde ich schwach und kann mich nicht so viel um deine Belange, wie das Essen und frische Kleidung, kümmern. Ich weiß, dass du dich nach einem Mädchen schon umgeschaut hast. Spätestens sonntags muss es geschehen, bevor ein anderer dein Mädchen entführt.“
Das war natürlich ein Argument. Raynur hatte schon längst ein Auge auf Fatima geworfen, schon seit der Grundschulzeit. Bei allen gesellschaftlichen Treffs schaute er sie aufmerksam an. Sie schien ihn jedoch nicht zu bemerken, sie war stets immer mit anderen Sachen beschäftigt. Raynur konnte abwarten, bis Fatima die Schule beendet, aber er war nicht damit einverstanden, wenn jemand anderer das Mädchen seines Herzens entführt. Also war das der Zeitpunkt, dass es endlich geschehen sollte. Seine Mutter hatte Recht.
Die Mutter ging einkaufen und brachte aus einem Laden ein weißes Tuch für die Braut mit. Der jolook – das weiße Tuch – reichte vom Kopf bis zum Fuß und war mit Strassteinen verziert. Sie stellte sich an den Ofen, um Gerichte für die Hochzeit vorzubereiten.
Am Montag kam Fatima nicht wie gewöhnlich raus, als ihre Nachbarinnen auf sie vor dem Zaun warteten. Die Schwestern warteten noch lange auf sie, in der Hoffnung, dass Fatima sich verspäten würde. Vergeblich. Als sie nach zehn Minuten immer noch nicht rauskam, ging Irina zu ihr nach Hause rein.
„Ist Fatima krank?“, fragte sie ihre Mutter.
„Geht nur mal zur Schule! Sie kommt heute nicht!“, war die Antwort der Fatimas Mutter. Was die Höflichkeit anging, so war dies nicht ihre Stärke. Fatimas Mutter wurde in ihrer Jugend auch entführt. Sie fügte sich in ihr Schicksal ein und erwartete dies auch von ihrer Tochter.
Irina ging raus. Beide Mädchen saßen in der Schule daraufhin unruhig auf ihren Plätzen und nahmen kaum noch Anteil am Unterricht.
Nach dem Unterricht liefen sie schnell nach Hause und schauten sich um: Schaut ihre Freundin nun mal zum Fenster raus und gibt sie ihnen ein Zeichen, dass es ihr gut geht?
Doch es gab keine Spur von Fatima.
Sie wussten nicht, dass sie noch abends davor verschleppt wurde.