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Das Buch der Schandtaten
ОглавлениеEine Freundin war sie nicht. Ich traf sie auf dem Flughafen in Stockholm, dem einzigen Flughafen der Welt mit Holzfußboden, ein schönes dunkles Eichenparkett, gebohnerte, sorgfältig aufeinander abgestimmte Holzplättchen, man kann sich leicht vorstellen, dass ein paar Hektar nördlicher Wald darin stecken.
Sie saß neben mir, hatte die Beine ausgestreckt und auf ihren schwarzen Rucksack gelegt. Sie las nicht, hörte keine Musik, hatte die Hände über dem Bauch verschränkt und schaute vor sich hin. Mir gefiel diese Ruhe, diese völlige Hingabe ans Warten. Als ich sie etwas neugieriger musterte, bemerkte ich, dass ihr Blick über den gebohnerten Boden glitt.
Ich wollte sie ansprechen und murmelte deshalb etwas wie: »Schade um so viel Wald für einen Fußboden im Flughafen.«
»Wahrscheinlich muss beim Bau eines Flughafens ein Lebewesen zum Opfer gebracht werden. Damit keine Katastrophen passieren.«
Die Stewardessen am Pult hatten ein Problem. Leider hatte sich herausgestellt – wie sie uns, den Wartenden, durchs Mikrofon mitteilten –, dass unsere Maschine überbelegt war. Unerklärlicherweise waren zu viele Leute auf der Passagierliste. Ein Computerfehler – das Fatum unserer Tage. Wenn zwei Passagiere bereit wären, ihren Flug auf morgen zu verschieben, würden sie je zweihundert Euro bekommen, eine kostenlose Übernachtung im Flughafenhotel und einen Gutschein für ein Abendessen.
Die Leute wechselten nervöse Blicke. »Losen wir aus!«, schlug einer vor. Ein anderer lachte, aber dann trat ein unangenehmes Schweigen ein. Niemand will zurückbleiben, das ist verständlich, wir leben ja nicht in einem Vakuum, wir haben Verabredungen, morgen müssen wir zum Zahnarzt, und zum Abendessen sind Freunde eingeladen.
Ich betrachtete meine Schuhspitzen. Ich habe es nicht eilig. Ich muss nirgends zu einem festen Zeitpunkt sein. Soll die Zeit sich nach mir richten und nicht umgekehrt. Außerdem – man kann auf alle möglichen Weisen Geld verdienen, hier tut sich jetzt eine ganz neue Dimension von Arbeit auf, vielleicht ist das die Einkunftsquelle der Zukunft, die Rettung vor Arbeitslosigkeit und Überproduktion von Abfall. Vom Flug zurücktreten, mit der Übernachtung im Hotel ein Tageseinkommen verdienen, morgens vom großen schwedischen Frühstücksbuffet essen und die reiche Auswahl an Joghurt genießen. Warum nicht? Ich stand auf und trat auf die aufgeregte Stewardess zu. Die Frau, die neben mir gesessen hatte, folgte mir.
»Warum nicht?«, fragte sie.
Unser Gepäck musste leider ohne uns abfliegen. Der leere Autobus brachte uns zum Hotel, wir bekamen zwei nette kleine Zimmer nebeneinander. Es gab nichts auszupacken, Zahnbürste und frische Unterwäsche waren im Handgepäck, ebenso wie die Gesichtscreme und ein dickes Buch. Ein Notizbuch. Ich werde Zeit haben, alles aufzuschreiben, auch diese Frau zu beschreiben:
Sie ist groß, hat eine gute Figur, ziemlich breite Hüften und kleine Hände. Ihr volles gewelltes Haar trägt sie in einem Knoten, aber weil es nicht so leicht zu bändigen ist, schwebt es wie eine silberne Aureole um ihren Kopf, ganz ergraut. Aber ihr Gesicht ist jung, hellhäutig, sommersprossig. Bestimmt ist sie Schwedin, die färben nicht die Haare.
Wir hatten verabredet, dass wir uns am Abend unten in der Bar treffen würden, nach einer ausgiebigen Dusche und einem Blick in die verschiedenen Fernsehsender.
Wir bestellten Weißwein, und nach anfänglichen Höflichkeiten und den Drei Fragen der Reisenden kamen wir zur Sache. Ich erzählte ihr zuerst von meinem Wanderleben, aber hatte bald den Eindruck, dass sie nur höflichkeitshalber zuhörte. Deshalb verlor ich den Schwung, ich wusste, dass sie eine viel interessantere Geschichte haben würde.
Sie sammelte Beweise, dafür hatte sie ein Stipendium der eu, aber das reichte nicht für ihre Reisen, sie hatte zusätzlich etwas von ihrem Vater leihen müssen, der in der Zwischenzeit gestorben war. Sie strich sich eine graue Korkenzieherlocke aus der Stirn (dabei konnte ich mich vergewissern, dass sie bestimmt nicht älter als fünfundvierzig war), und für die Gutscheine der Fluggesellschaft bestellten wir uns einen Salat. Griechischer Salat war das Einzige, was wir uns dafür leisten konnten.
Beim Sprechen hielt sie die Augen halb geschlossen, das verlieh ihren Worten eine leichte Ironie. Deshalb war ich in den ersten Minuten nicht ganz sicher, ob sie ernst meinte, was sie sagte. Sie behauptete, die Welt wirke nur auf den ersten Blick so vielfältig. Wohin man auch fahre, man stoße auf verschiedene Menschen, ihre exotischen Kulturen, nach verschiedensten Plänen erbaute Städte, aus allen möglichen Materialien. Dächer, Fenster, Höfe – überall anders. Mit der Gabel spießte sie ein Stück Feta auf und beschrieb damit einen Kreis in der Luft.
»Doch lass dich von dieser oberflächlichen Vielfalt, von diesem Pfauenschweif nicht täuschen«, sagte sie. »Überall ist es dasselbe: die Tiere. Das, was der Mensch den Tieren antut.«
Ruhig, als hielte sie einen auswendig gelernten Vortrag, begann sie aufzuzählen: »Hunde reißen in brütender Hitze an zu kurzen Ketten, warten auf Wasser wie auf den Heiland, Welpen liegen an Ketten von einem halben Meter Länge, im zweiten Lebensmonat können sie noch nicht laufen; Schafe werfen im Winter auf offenem Feld, die Bauern unternehmen nichts, organisieren höchstens Lieferwagen, die die erfrorenen Lämmer abtransportieren. In Restaurants kann der Gast mit dem Finger auf den lebenden Hummer im Aquarium zeigen, den er damit zum Tod im siedenden Wasser verurteilt; andere Restaurants halten heimlich im Hinterhof Hunde, denn Speisen aus Hundefleisch sollen Männern die Potenz wiedergeben; Käfighühner werden nach der Anzahl der gelegten Eier definiert und in ihrem kurzen Leben mit Chemie vollgepumpt; Hunde richtet man zum Kampf ab, Affen werden ansteckende Krankheiten gespritzt, auf der Haut von Kaninchen werden Kosmetika getestet; ungeborene Lämmer werden zu Pelzmänteln verarbeitet.« Das alles sagte sie ganz gleichgültig, während sie sich die Oliven in den Mund schob.
Ich protestierte. Nein, das werde ich mir nicht anhören.
Sie zog einen Stapel Unterlagen aus ihrer Patchworktasche, die sie über den Stuhl gehängt hatte. Die Blätter steckten in zusammengehefteten Plastikhüllen, dicht beschriebene Fotokopien, die sie mir über den Tisch reichte. Ich blätterte sie unwillig durch. Auf den dunklen Seiten waren jeweils zwei Spalten Text wie in einer Enzyklopädie oder in der Bibel. Kleingedrucktes, Anmerkungen. »Berichte über Schandtaten«, ihre Internetadresse. Beim ersten Blick darauf wusste ich schon, dass ich sie nicht lesen würde. Trotzdem steckte ich sie später sorgfältig in meinen Rucksack.
»Damit beschäftige ich mich«, sagte sie.
Als wir bei der zweiten Flasche Wein waren, erzählte sie mir, wie sie auf einer Reise in Tibet die Höhenkrankheit bekommen hatte und fast daran gestorben wäre. Eine Frau dort hatte sie geheilt, indem sie auf Trommeln schlug und ihr Heilkräutersud einflößte.
Wir gingen spät zu Bett, unsere Zungen hatten sich am Abend gelöst, vom Wein geölt und voll Verlangen nach langen Sätzen und Fabeln.
Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, beugte sich Alexandra – so hieß nämlich die zornige Frau – über die Croissants zu mir.
»Der wahre Gott ist ein Tier«, erklärte sie. »Er ist in den Tieren, so nah, dass wir ihn nicht erkennen. Tagtäglich opfert er sich für uns, stirbt unzählige Male, ernährt uns mit seinem Körper, kleidet uns in seine Haut, lässt zu, dass man Medikamente an ihm testet, damit wir länger und besser leben können. So zeigt er uns seine Zuneigung, beschenkt uns mit Liebe und Freundschaft.«
Ich erstarrte, schaute fassungslos auf ihren Mund. Was mich entsetzte, war weniger die Äußerung selbst als der ganz ruhige Ton, in dem sie sprach. Und das Messer, mit dem sie gelassen eine Schicht Butter auf dem weichen Inneren des Hörnchens verteilte.
»Der Beweis befindet sich in Gent.«
Sie kramte eine Postkarte aus ihrer Patchworktasche und warf sie mir auf den Teller.
Ich nahm sie in die Hand und versuchte, in der Fülle von Einzelheiten einen sinnvollen Zusammenhang zu erkennen, dazu hätte man eine Lupe gebraucht.
»Jeder kann es sehen«, sagte Alexandra. »Mitten in der Stadt steht eine Kathedrale, und im Altar dort ist ein großes schönes Bild. Darauf sieht man Felder, eine grüne Ebene vor der Stadt, und auf dieser Wiese befindet sich eine einfache Erhebung. Genau hier« – sie zeigte mit der Messerspitze auf die Stelle –, »hier ist Das Tier in Gestalt eines weißen Lammes, auf der Erhebung.«
Ja, ich erkannte das Bild. »Die Anbetung des Lamms«, ich hatte es oft auf Reproduktionen gesehen.
»Seine wahre Identität hat sich hier offenbart. Seine leuchtende Gestalt zieht den Blick an, jeder Kopf beugt sich vor seiner göttlichen Majestät«, erzählte sie und deutete mit dem Messer auf das Lamm. »Und wir sehen, wie fast von überallher Prozessionen zu ihm strömen, alle Menschen wollen ihm huldigen, diesen Gott in seiner bescheidensten, niedrigsten Form sehen. Schau, hier kommen die Herrscher der Länder, Kaiser und Könige, Kirchen, Parlamente, politische Parteien, Handwerkszünfte, Mütter kommen mit ihren Kindern, Greise und junges Volk …«
»Warum tust du das?«, fragte ich.
»Das liegt doch auf der Hand! Ich will ein großes Buch schreiben, in dem keine Schandtat vom Anfang der Welt bis zum heutigen Tag unerwähnt bleiben soll. Das wird die Beichte der Menschheit.«
Auszüge aus der antiken Literatur hatte sie schon niedergeschrieben.