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Der Aschermittwochsschmaus
ОглавлениеNennt mich Eryk«, erklärte er jedes Mal anstatt eines Grußes, wenn er die kleine Bar betrat, die um diese Jahreszeit nur von einem Holzfeuer im Kamin beheizt wurde. Alle lachten ihm freundlich entgegen, manche winkten ihn sogar mit einer einladenden Geste herbei, die heißen sollte: Komm, setz dich zu uns. Denn im Großen und Ganzen war er ein guter Kumpel und trotz seiner Absonderlichkeiten beliebt. Doch anfangs, bis er eine entsprechende Menge getrunken hatte, machte er ein mürrisches Gesicht und setzte sich in eine Ecke, weit weg von der Wärme des Kaminfeuers. Er konnte sich das erlauben, er war kräftig gebaut und gegen Kälte gefeit, er heizte sich selbst.
»Diese Insel«, sagte er zuerst vor sich hin, aber so, dass die anderen ihn hören konnten, wie eine Herausforderung, während er sein erstes riesiges Bier bestellte. »Was für ein erbärmlicher Geisteszustand. Der Arsch der Welt.«
Die anderen schienen ihn nicht zu verstehen, aber grölten wie im Einvernehmen.
»He, Eryk, wann gehst du auf Walfang?«, riefen sie, und ihre Gesichter wurden rot vom Widerschein des Feuers und vom Alkohol.
Eryk antwortete mit barocken Flüchen, ein wahres Gedicht, niemand tat es ihm darin gleich – das war ein Teil des allabendlichen Rituals. So bewegte sich jeder Tag voran wie eine Seilfähre von einem Ufer zum anderen, unterwegs immer an denselben roten Bojen vorbei, deren Aufgabe es war, das Monopol des Wassers auf Unermesslichkeit zu brechen und es messbar zu machen und damit den täuschenden Eindruck von Kontrolle zu erwecken.
Nach dem nächsten Bier war Eryk schon so weit, dass er sich zu den anderen setzen konnte, und meistens tat er das auch, doch in der letzten Zeit wurde seine Laune schlechter, je mehr er trank. Er saß da mit spöttischer Miene. Er spann auch nicht mehr Seemannsgarn über seine Reisen auf fernen Meeren – wenn man ihn lang genug kannte, wusste man, dass er nie dieselbe Geschichte zweimal erzählte, zumindest in den Einzelheiten wichen sie stark voneinander ab. Jetzt jedoch erzählte er immer seltener, stichelte nur gegen die anderen. Der bösartige Eryk.
Es gab aber auch Abende, da ließ er sich hinreißen, wurde unausstehlich, und mehr als einmal musste Hendrik, der Wirt der kleinen Bar, eingreifen.
»Ihr seid alle angemustert!«, schrie Eryk und zeigte auf jeden mit dem Finger. »Jeder Einzelne. Oh Gott! zu se-geln mit solch heidnischer Mannschaft, welche wenig von menschlichen Müttern hat. Geworfen irgendwo von der haifischigen See. Oh Leben! in einer Stund wie dieser ist’s, die Seele niedergestreckt und dem Wissen hingegeben, – wie wilde ungebildete Dinge gezwungen werden, zu fressen.«
Hendrik zog ihn freundlich zur Seite und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schultern, während die Jüngeren über diese seltsame Ansprache vor Lachen grölten.
»Lass gut sein, Eryk. Du willst dich doch nicht in Schwierigkeiten bringen«, wollten ihn die Älteren beruhigen, die ihn schon länger kannten, aber Erik ließ sich nicht beschwichtigen.
»Hoppla, Bruder, weg mit dir! Ich würd die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt.«
In einer solchen Situation konnte man nur beten, dass er keinen zufälligen Gast beleidigte – die Einheimischen nahmen es ihm nicht übel. Was konnte man schon von ihm erwarten, er schaute ja bereits wie durch einen trüben Vorhang auf die Theke. Dieser geistesabwesende Blick deutete darauf hin, dass Eryk jetzt die Meere in seinem Innern befuhr, sein Focksegel war schon gehisst, und man konnte ihn nur noch mitleidig nach Hause bringen.
»Hör zu, du Kleinmütiger«, stammelte Eryk noch und richtete den Finger auf die Brust seines Kollegen, »hör zu, denn ich rede mit dir.«
»Komm Eryk, ist gut jetzt.«
»Habt angemustert, nicht wahr? Namen in den Papieren? Nun ja, nun ja, unterschrieben ist unterschrieben; und wie’s kommen soll, wird’s kommen …«, stammelte er und kehrte von der Tür wieder zurück zur Theke und verlangte eine letzte Runde, »für den Steigbügel«, wie er sagte, aber keiner wusste, was er damit meinte.
So wurde er lästig, bis endlich jemand den Moment gekommen sah, ihn am Frack zu packen und festzuhalten, bis ein Taxi kam.
Es ging aber nicht immer so streitlustig zu. Meistens ging er ziemlich früh, er hatte einen Fußweg von vier Kilometern vor sich und hasste diesen Marsch nach Hause, wie er sagte. Die Strecke war eintönig, immer an der Landstraße entlang, zu beiden Seiten Brachland, ehemalige Viehweiden, wo jetzt Unkraut und Krummkiefern standen. In hellen Nächten konnte er manchmal in der Ferne die Umrisse einer Windmühle ausmachen, die schon lange nicht mehr in Betrieb war und nur noch den Touristen als Hintergrund für ihre Fotos diente.
Die Heizung schaltete sich erst etwa eine Stunde vor seiner Heimkehr ein, so hatte er sie eingestellt, um Strom zu sparen, und in den beiden dunklen Zimmern ballte sich noch die feuchte, von Meersalz durchsetzte Kälte.
Er aß immer das gleiche einfache Gericht, das war das Einzige, was ihm noch nicht langweilig geworden war. In Scheiben geschnittene Kartoffeln, mit Speck und Zwiebeln in einen Topf geschichtet. Mit Majoran und Pfeffer bestreut, gut gesalzen. Ein ideales Gericht mit ausgewogenem Nährstoffgehalt: Fett, Kohlehydrate, Ballaststoffe, Eiweiß und Vitamin C. Er aß vor dem Fernseher, obwohl der ihn noch mehr als alles andere anwiderte, deshalb öffnete er zu guter Letzt eine Flasche Wodka und leerte sie. Dann ging er schlafen.
Was für ein schrecklicher Ort, diese Insel! In den Norden gesteckt wie in eine dunkle Schublade, windig und nass. Aus irgendwelchen Gründen blieben die Leute hier wohnen und hatten keineswegs vor, in warme, helle Städte auszuwandern. Sie steckten in ihren kleinen Holzhäuschen längs der wieder neu asphaltierten Landstraße, die bergan führte und sie zu ewiger Kümmerlichkeit verurteilte.
Wandert einmal an der Landstraße entlang, über die Bankette auf den kleinen Hafen zu, der aus ein paar undefinierbaren Gebäuden besteht, eine Plastikbude, wo es die Fahrscheine für die Fähre gibt, ist auch noch da, und ein kläglicher Yachthafen, um diese Jahreszeit ganz leer. Im Sommer kommt vielleicht die eine oder andere Yacht mit exzentrischen Touristen, die des Trubels in den südlichen Gewässern, der Rivieren, des Azur und der heißen Strände überdrüssig sind. Oder Leute wie wir geraten durch Zufall an diesen trostlosen Ort, Ruhelose, stets nach neuen Abenteuern hungernd, mit ihren Rucksäcken voll chinesischer Instantsuppen. Und was seht ihr? Den Rand der Welt, wo die Zeit, die von der leeren Küste in See gestochen ist, enttäuscht ans Land zurückkehrt und diesen Ort gnadenlos dem hartnäckigen Stillstand aussetzt. Worin unterscheidet sich denn hier das Jahr 1946 von 1976 und dieses wiederum vom Jahr 2000?
Eryk war hier vor Jahren nach einer langen Reihe schöner und weniger schöner Abenteuer hängen geblieben. Ganz am Anfang jedoch, vor sehr langer Zeit, ist er aus seinem Land – seinerzeit eins von diesen unansehnlichen flachen kommunistischen Ländern – geflüchtet und heuerte als junger Emigrant auf einem Walfängerschiff an. Er hatte damals ein paar englische Worte zwischen »yes« und »no« zur Verfügung, gerade genug für das einsilbige Geknurre, das die harten Jungs auf dem Schiff miteinander wechseln. »Nimm«, »zieh«, »schneid«. »Schnell« und »fest«. »Fang auf« und »knote«. »Scheiße« und »verfickt«. Für den Anfang reichte es. Es reichte auch, den eigenen Namen gegen einen einfachen, allgemein bekannten einzutauschen – Eryk. Sich des zischenden Leichnams zu entledigen, den niemand richtig aussprechen konnte. Und es reichte auch, die Mappe mit allen Papieren ins Wasser zu werfen – Schulzeugnisse, Diplome, Studienscheine und Impfbescheinigungen –, das alles taugte hier zu nichts, konnte höchstens die anderen Matrosen beschämen, deren Biographie aus ein paar langen Reisen und Abenteuern in Hafenkneipen bestand.
Das Leben auf dem Schiff ist nicht mit Salzwasser getränkt und auch nicht mit dem süßen Regen der Nordmeere, nicht einmal mit Sonne, sondern mit Adrenalin. Man hat keine Zeit zum Nachdenken oder zum Grübeln über Fehler der Vergangenheit. Das Land, aus dem Eryk stammte, war fern und nicht sehr maritim, ans Meer war er nur ganz gelegentlich gekommen. In Häfen genierte er sich. Lieber waren ihm Städte an einem ungefährlichen Fluss, über den sich verbindende Brücken spannten. Eryk hatte keineswegs Heimweh, hier im Norden gefiel es ihm viel besser. Er hatte vor, ein paar Jahre auf dem Schiff zu arbeiten und Geld zu verdienen. Dann würde er ein Holzhaus bauen, eine flachsblonde Emma oder Ingrid ehelichen und Söhne zeugen. Sein Beitrag zu ihrer Erziehung würde darin bestehen, dass er mit ihnen Schwimmer bastelte und Meeresforellen zubereitete. Irgendwann einmal, wenn seine Abenteuer ein entsprechend handliches Paket abgäben, würde er seine Memoiren schreiben.
Er wusste selbst nicht, wie es gekommen war, dass die Jahre einfach durch sein Leben hindurchrannen, schwerelos, flüchtig, ohne Spuren zu hinterlassen. Höchstens in seinen Körper schrieben sie sich ein, vor allem in seine Leber. Das war später. Aber gleich am Anfang, nach seiner ersten Seefahrt, verschlug es ihn für drei Jahre ins Gefängnis, weil ein böser Kapitän seine ganze Besatzung zu Handlangern beim Schmuggel eines ganzen Containers mit Zigaretten und einem großen Paket Kokain gemacht hatte. Doch sogar im Gefängnis dieses fremden Landes blieb Eryk dem Meer und den Walen verfallen. In der Gefängnisbibliothek befand sich nämlich nur ein englischsprachiges Buch, wahrscheinlich hatte ein anderer Sträfling es vor Jahren dort gelassen. Es war eine alte Ausgabe vom Anfang des Jahrhunderts, die Seiten waren brüchig und vergilbt, von zahlreichen Spuren des täglichen Lebens gezeichnet.
So sicherte sich Eryk drei Jahre lang (eigentlich keine zu strenge Strafe, bedenkt man, dass tausend Seemeilen weiter nach geltendem Recht auf dieses Vergehen der Tod durch den Strick gestanden hätte) eine kostenlose Perfektionierung seiner Sprache, Englisch für Fortgeschrittene, einen Kurs in Literatur- und Walkunde sowie Psychologie und Reisewissenschaft – alles aus einem Lehrbuch. Eine gute, konzentrierte Methode. Nach fünf Monaten konnte er Ishmaels Abenteuer schon stellenweise auswendig vortragen und wie Ahab reden, was ihm besonderen Spaß machte, weil das die Eryk genehmste Ausdrucksweise war, in der er sich wie in bequemer Kleidung fühlte, ganz egal wie altmodisch und wunderlich sie war. Und was für ein Glück, dass es dieses Buch gerade dorthin und in die Hände dieses Menschen verschlagen hatte. Das ist ein den Reisepsychologen unter dem Namen Synchronizität bekanntes Phänomen, ein Beweis für den Sinn der Welt. Ein Beweis dafür, dass sich in diesem schönen Chaos in alle Richtungen Fäden entspinnen, die eine Bedeutung haben, Netze seltsamer Logik, und wenn man an Gott glaubt, sind das die verschlungenen Spuren seines Fingerabdrucks. Das dachte Eryk.
In dem fernen exotischen Gefängnis nun, wo man abends vor tropischer Schwüle kaum Luft bekam und wo Sehnsucht und Furcht das Gehirn marterten, da versenkte sich Eryk nun in die Lektüre dieses Buches, verschwor sich ihm und empfand dabei ein eigenartiges Glück. Ohne dieses Buch hätte er das Gefängnis wahrscheinlich nicht durchgestanden. Seine Zellengenossen, lauter Schmuggler wie er, wurden oft Zeuge, wenn er laut las, und erlagen bald auch dem Zauber der Abenteuer, die die Walfänger erlebten. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn sie sich nach der Rückkehr in die Freiheit in der Geschichte des Walfangs weitergebildet hätten, wenn sie Dissertationen über Harpunen und die Ausrüstung von Segelschiffen geschrieben hätten. Und wenn die Begabtesten von ihnen die höchste Stufe der Einweihung erklommen hätten, indem sie sich auf Ausdauer als Fachgebiet spezialisiert hätten. So kam es jedenfalls, dass die drei Zellenkameraden, ein Matrose von den Azoren, ein Matrose aus Portugal und Eryk, in ihrem speziellen Rotwelsch kommunizierten. Sogar über ihre kleinen schlitzäugigen Wärter redeten sie in diesem Jargon:
»Zum Teufel! Dieser Alte, das ist vielleicht ein famoser Kerl!«, rief beispielsweise der Azorenmatrose aus, wenn einer ihnen ein Päckchen durchweichter Zigaretten in die Zelle geschmuggelt hatte.
»Bei meiner Seel, ich bin beinah derselbigen Meinung, also sprich den Segen!«
Ihnen war es nur recht, wenn jeder Neue, der zu ihnen in die Zelle kam, anfangs kaum etwas verstand, er wurde ihr Fremder, den sie für ihr soziales Ersatzleben brauchten.
Jeder von ihnen hatte seine Lieblingsabschnitte, die er abends bei ihrem Leseritual vortrug, bis die anderen gegen Schluss im Chor einfielen.
Doch die Hauptthemen der Gespräche in ihrem immer besseren Englisch waren das Meer, die Seereisen, das Ablegen vom Ufer, das Vertrauen auf das Wasser, das – wie sie nach einer mehrtägigen Diskussion, die den Vorsokratikern alle Ehre gemacht hätte, feststellten – das wichtigste Element auf dem Erdenrund war. Sie planten schon die Strecken für die Heimreise, bereiteten sich auf die Anblicke vor, die sich ihnen unterwegs bieten würden, formulierten in Gedanken das Telegramm an die Familie. Wovon würden sie leben? Sie überboten sich gegenseitig an Einfällen, doch ehrlich gesagt kreisten sie immer um ein und dasselbe Thema, ohne sich dessen bewusst zu sein, waren sie bereits angesteckt, hatten sich infiziert: Was ihr Denken beherrschte, war die bloße Möglichkeit, dass so etwas wie ein weißer Wal existierte. Jeder wusste, dass es noch Länder gab, in denen Walfang betrieben wurde, und auch wenn diese Arbeit heute nicht mehr so romantisch war, wie Ishmael es beschrieben hatte, würde man doch schwerlich eine bessere finden. Angeblich suchte man in Japan Leute für den Walfang. Was waren Dorsche und Heringe schon gegen Wale … Wie ein Handwerk gegen die Kunst …
In sechsunddreißig Monaten hat man viel Zeit, sich die Einzelheiten des zukünftigen Lebens zu überlegen, Punkt für Punkt, und sie mit den Kameraden zu besprechen. Meinungsverschiedenheiten spielten keine Rolle.
»Jetzt mal schnell Schluss damit! Denk dran, was ich dir sage von wegen Handelsmarine – mach mich nicht wild – das mag ich nicht. Aber wir wollen uns recht verstehen. Ich hab dir einen Wink gegeben, von wegen, was es mit dem Walfang auf sich hat; habest du trotzdem noch Lust drauf?«
»Was hast du schon von der Welt gesehen!«, fuhr der portugiesische Matrose erwidernd auf.
»Die Nordsee hab ich der Länge und Breite nach durchschifft, die Ostsee ist mir nicht fremd. Die Strömungen im Atlantik kenne ich so gut wie meine eigenen Adern …«
»Du bist dir etwas zu gewiss, mein Brüderchen.«
Dazu muss man etwas wissen.
Zehn Jahre – so lange dauerte Eryks Reise nach Hause, und wahrscheinlich schaffte er es noch schneller als seine Kameraden. Er kehrte auf Umwegen zurück, über abgelegene Meere, durch die engsten Meerengen und die breitesten Buchten. Kaum leckte das offene Meer an einer Flussmündung, kaum hatte er auf einem Schiff nach Hause angeheuert, da bot sich plötzlich eine neue Gelegenheit, die ihn meistens in die entgegengesetzte Richtung führte, und wenn er einen Augenblick überlegte, kam er immer wieder zu dem Schluss, dass die größte Wahrheit doch in dem alten Argument liege, das heißt: Die Erde ist rund, legen wir uns nicht auf eine Richtung fest! Das war auch irgendwie verständlich – für jemanden, der von nirgendwo kommt, wird jede Bewegung zur Rückkehr, denn nichts hat eine solche Anziehungskraft wie die Leere.
In jenen Jahren arbeitete er unter panamaischer, australischer und indonesischer Flagge. Auf einem chilenischen Frachter brachte er japanische Autos in die Vereinigten Staaten. Auf einem südafrikanischen Tanker erlebte er eine Katastrophe an der Küste von Liberia. Er brachte Arbeiter von Java nach Singapur. Er bekam Gelbsucht und lag in Kairo im Krankenhaus. Als ihm in Marseille bei einer betrunkenen Prügelei eine Hand gebrochen wurde, trank er monatelang keinen Tropfen Alkohol, um sich in dann in Malaga bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen und die andere zu brechen.
Wir wollen nicht ins Detail gehen. Eryks wechselvolles Schicksal auf den Meeren interessiert uns nicht. Lieber wenden wir uns ihm zu dem Zeitpunkt zu, als er endlich am Ufer jener ihm später so verhassten Insel ankommt und auf einer kleinen primitiven Fähre zwischen den Schären Arbeit bekommt. Bei der Ausübung dieser – seiner Meinung nach erniedrigenden – Arbeit magerte Eryk ab, ja auf gewisse Weise bleichte er aus. Die tiefe Bräune wich für immer aus seinem Gesicht und hinterließ dunkle Flecken. Die Schläfen ergrauten, kleine Falten ließen seinen Blick durchdringend und scharf erscheinen. Nach dieser Einführung, die schmerzlich in sein Seelenleben eingriff, wurde er auf eine verantwortungsvollere Strecke versetzt: Jetzt steuerte er eine Fähre, die die Insel mit dem Festland verband, sie fuhr nicht an einem Seil, und das breite Deck konnte sechzehn PKW aufnehmen. Die Arbeit garantierte ihm ein festes Einkommen, Krankenversicherung und ein ruhiges Leben auf dieser Insel im Norden.
Jeden Morgen nach dem Aufstehen wusch er sich mit kaltem Wasser und kämmte mit den Fingern seinen grauen Bart. Dann zog er die dunkelgrüne Uniform der Fährgesellschaft »Vereinigte Fähren des Nordens« an und marschierte zum Hafen, wo er seine Fähre am Vorabend vertäut hatte. Kurz darauf öffnete einer vom Landpersonal – Robert oder Adam – die Pforte, und die ersten Autos standen schon in einer Reihe, um über die Eisenrampe auf Eryks Fähre zu fahren. Es war immer genug Platz, manchmal kam es sogar vor, dass die Fähre leer war, sauber, leicht, schwebend. Dann setzte sich Eryk in seine Kabine in der Höhe, hockte in seinem verglasten Krähennest, und das Ufer auf der anderen Seite erschien ihm nah. Wäre es nicht besser, eine Brücke zu bauen, als von den Leuten zu erwarten, dass sie sich mit der Hin- und Herfahrerei abplagten?
Die Gemütsverfassung war wichtig. Jeden Tag konnte er zwischen zweien auswählen. In der einen – penetrant und aufdringlich – war er schlechter als andere, ihm fehlte das, was jeder hatte, auf eine gewisse Weise war er abnorm und wusste zum Teufel noch nicht mal, was ihm fehlte. Er fühlte sich isoliert, einsam, wie ein zur Strafe eingesperrtes Kind, das aus dem Fenster den Spielen seiner glücklichen Altersgenossen zuschaut. Das Schicksal hatte ihm eine nichtssagende Rolle in den chaotischen Wanderungen der Menschheit zu Lande und zur See zugeteilt, und jetzt, seit er sich auf der Insel niedergelassen hatte, erwies sich seine Rolle auch in dieser Episode als die eines Statisten.
Die andere Gemütsverfassung hingegen bekräftigte in ihm die Überzeugung, dass er der Bessere war, einzigartig und außerordentlich. Dass er allein die Wahrheit fühlte und verstand, dass nur ihm ein außergewöhnliches Dasein zuteilgeworden war. Dieses gute Selbstwertgefühl konnte manchmal ganze Stunden, ja Tage anhalten, und dann fühlte er sich sozusagen fast glücklich. Aber das verging wie ein Alkoholrausch. Als Katzenjammer stellte sich der erschreckende Gedanke ein, dass er, wollte er in seinen eigenen Augen ein achtenswerter Mensch sein, unentwegt auf diese zwei Arten Betrug begehen müsste, und – was am schrecklichsten war – eines Tages würde die Wahrheit ans Licht kommen, und es würde sich herausstellen, dass er niemand war.
Er saß in der verglasten Kabine und sah zu, wie sich die erste Morgenfähre füllte. Er sah die alten Bekannten aus dem Städtchen. Da war die Familie R. in ihrem grauen Opel, der Vater arbeitete im Hafen, die Mutter in der Bibliothek, die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, gingen zur Schule. Und da waren die vier Teenager, Gymnasiasten, die auf der anderen Seite mit dem Autobus weiterfuhren. Und Eliza war da, die Kindergärtnerin, mit ihrer kleinen Tochter, die sie natürlich mit zur Arbeit nahm. Der Vater der Kleinen war vor zwei Jahren plötzlich verschwunden und hatte seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Eryk hatte den Verdacht, dass er irgendwo auf Walfang war. Und der alte S. kam, er hatte es an den Nieren, dreimal in der Woche musste er zur Dialyse ins Krankenhaus. Er und seine Frau hatten versucht, ihr kümmerliches Holzhäuschen zu verkaufen und näher ans Krankenhaus zu ziehen, aber es hatte nicht geklappt. Der Lieferwagen des Bioladens fuhr aufs Festland, um Ware einzukaufen. Ein schwarzes fremdes Fahrzeug, bestimmt Gäste des Regisseurs. Der gelbe Lastwagen der Brüder Albert und Albrecht, die mit der Hartnäckigkeit von Junggesellen Schafe hielten. Zwei verfrorene Fahrradfahrer. Der Kombi von der Autowerkstatt – wahrscheinlich sollte er Ersatzteile holen. Edwin winkte Eryk mit der Hand. Man hätte ihn auf jeder Insel der Welt erkennen können – er trug gern karierte Hemden mit Kunstpelzbesatz. Eryk kannte sie alle, sogar diejenigen, die er zum ersten Mal sah – er wusste, warum sie hier hergekommen waren, und wenn man das Ziel der Reise kennt, weiß man schon ausreichend viel über Menschen.
Es gab drei Gründe, auf die Insel überzusetzen. Der erste war, dass man einfach hier wohnte, der zweite, dass man beim Regisseur zu Besuch war, der dritte, dass man wegen der Windmühle gekommen war, um sich gegenseitig davor zu fotografieren.
Die Fähre brauchte zwanzig Minuten. Während dieser Zeit stiegen einige Passagiere aus den Autos und rauchten eine Zigarette, obwohl das verboten war. Andere standen an die Reling gelehnt und starrten einfach ins Wasser, bis sich ihr schaukelnder Blick endlich am anderen Ufer wieder festmachen konnte. Gleich werden sie, vom Geruch des Festlands und ihren ungeheuer wichtigen Pflichten und Aufgaben erregt, in den Gassen am anderen Ufer verschwinden, sich verlaufen wie die neunte Welle, die am weitesten reicht, in die Erde versickert und nie mehr ins Meer zurückkehrt. Doch andere kommen an ihrer Stelle. Der Tierarzt im eleganten Geländewagen, den hat er sich mit dem Sterilisieren von Katzen verdient. Eine Schulklasse auf Ausflug, die im Rahmen einer Biologieexkursion Flora und Fauna der Insel untersuchen wird. Ein Lieferwagen mit einer Ladung Bananen und Kiwi. Ein Fernsehteam, das zu einem Interview zum Regisseur fährt. Familie G., die gerade vom Besuch bei der Großmutter heimkehrt. Zwei erhitzte Fahrradfahrer anstelle der beiden anderen.
Das Ent- und Beladen der Fähre dauerte fast eine Stunde. In dieser Zeit rauchte Eryk mehrere Zigaretten und versuchte, nicht zu verzweifeln. Dann kehrte die Fähre auf die Insel zurück. Und so ging es acht Mal am Tag, mit einer zweistündigen Pause zum Mittagessen, das Eryk jedes Mal in derselben Kneipe aß. Eine von drei Kneipen in der Gegend. Nach der Arbeit kaufte er Kartoffeln, Zwiebeln und Speck. Zigaretten und Alkohol. Er versuchte immer, bis zum Nachmittag nichts zu trinken, aber nach der sechsten Überfahrt war er schon voll.
Gerade Strecken – wie demütigend sie sind. Wie sie den Geist abtöten. Was für eine perfide Geometrie, die uns zu Idioten macht – hin und her, die Parodie einer Reise. Aufbrechen, um gleich darauf zurückzukehren. Beschleunigen, um sofort abzubremsen.
Eryks kurze stürmische Ehe war auch so gewesen. Maria war geschieden, sie arbeitete in einem Laden und hatte einen Sohn, der in der Stadt auf die Mittelschule ging und dort auch im Internat war. Eryk zog bei ihr ein, in ihr gemütliches hübsches Haus mit riesigem Fernseher. Sie hatte eine schlanke Taille, üppige Rundungen, helle Haut, und sie trug eng anliegende Leggings. Rasch lernte sie, Kartoffeln auf Speck zuzubereiten und gab noch Majoran und Muskatnuss dazu. Er hackte dafür an seinen freien Tagen mit Begeisterung Holz für den Kamin. Es hielt anderthalb Jahre, dann ging ihm alles auf die Nerven: das unablässige Murmeln des Fernsehers, das grelle Licht, der Lappen neben dem Aufwischtuch, auf den man die schmutzigen Schuhe stellen musste, und auch die Muskatnuss. Als er sich ein paarmal betrunken und den Matrosen mit erhobenem Finger Ansprachen gehalten hatte, warf sie ihn aus dem Haus und zog bald darauf zu ihrem Sohn aufs Festland.
*
Es war der 1. März, Aschermittwoch. Als Eryk die Augen aufschlug, sah er das graue Licht und Schneeregen, der auf den Scheiben schmierige Spuren hinterließ. Sein alter Name fiel ihm ein. Er hatte ihn fast vergessen. Er sprach ihn laut aus, und es hörte sich an, als hätte ein Fremder ihn gerufen. Im Kopf verspürte er den wohlbekannten Druck nach dem gestrigen Betrinken.
Wir müssen nun wissen, dass die Chinesen zwei Namen haben. Der eine wird von den Eltern gegeben, mit ihm wird das Kind gerufen, gerügt, zur Ordnung gemahnt und auch in zärtlichen Koseformen angesprochen. Doch wenn das Kind hinaus ins Leben geht, sucht es sich einen anderen Namen aus, einen äußeren, weltlichen Namen, eine Namen-Person. Diesen Namen legt es an wie eine Uniform, wie ein Chorhemd, einen Kampfgürtel, Kleidung für einen offiziellen Cocktailempfang. Dieser Name ist praktisch und leicht zu merken. Von nun an wird er von dem Menschen zeugen. Je weltweiter, universaler, leichter wiederzuerkennen er ist, umso besser. Fort mit der lokalen Begrenztheit unserer Namen. Fort mit Oldrzich, Sung Yin, Kazimierz und Jyrek, fort mit Blazen, Liu und Milica. Es lebe Michael, Judith, Anna, Jan, Samuel und Eryk!
Und heute antwortete Eryk auf den Ruf bei seinem alten Namen: Hier bin ich.
Niemand kennt ihn, deshalb werde ich ihn auch nicht nennen.
Der Mann namens Eryk zog seine grüne Uniform mit den Abzeichen der »Vereinigten Fähren des Nordens« an, kämmte sich mit den Fingern durch den Bart, schaltete in seinem verkümmerten Häuschen die Heizung aus und machte sich auf den Weg an der asphaltierten Straße entlang. Während er in seinem Glaskasten das Beladen der Fähre abwartete, trank er ein Bier aus der Dose und steckte sich die erste Zigarette an. Von oben winkte er Eliza und ihrer kleinen Tochter zu, ganz freundschaftlich, als wollte er sie dafür entschädigen, dass sie heute den Kindergarten nicht erreichen würden.
Als die Fähre vom Ufer abgelegt hatte und schon auf halbem Wege zwischen den beiden Anlegestellen war, zögerte er plötzlich und nahm dann Kurs aufs offene Meer.
Nicht jeder merkte, was los war. Manche waren so an die Routine der geraden Strecke gewöhnt, dass sie abgestumpft und gleichgültig auf den sich entfernenden Küstenstreifen blickten, was mit Sicherheit Eryks alkoholisierte Theorien bekräftigte, dass das Reisen auf Fähren die Gehirnwindungen geradebiegt. Andere merkten nach kurzer Zeit, was geschah.
»Eryk, was machst du da! Kehr sofort um!«, schrie Alfred ihm zu, und Eliza schaltete sich mit hoher kreischender Stimme ein: »Die Leute werden zu spät zur Arbeit kommen!«
Alfred wollte zu Eryk hinaufsteigen, doch der hatte die kleine Pforte vorsichtshalber geschlossen und den Schlüssel in seiner Kabine herumgedreht.
Er sah von oben, wie alle gleichzeitig ihre Mobiltelefone hervorholten und anriefen, empört etwas in den leeren Raum sprachen und dazu aufgeregt gestikulierten. Er konnte sich denken, was sie sagten. Dass sie sich zur Arbeit verspäten würden, dass sie gespannt sind, wer ihnen eine Entschädigung für den seelischen Schaden bezahlen wird, dass man nicht solche Trunkenbolde einstellen dürfte, dass alle wussten, dass es so enden würde, dass es nicht genug Arbeit für die Einheimischen gebe, während hier solche Immigranten eingestellt würden; egal wie gut so einer die Sprache gelernt hätte, es blieb doch immer ein …
Eryk kümmerte sich einfach nicht darum. Befriedigt stellte er fest, dass sie sich nach einiger Zeit beruhigten, sich auf ihre Plätze setzten und zuschauten, wie der Himmel aufklarte und zwischen den Wolken schöne Lichtgarben direkt ins Meer fallen ließ. Nur eines machte ihm Sorgen, und zwar das hellblaue Mäntelchen von Elizas Tochter, das war (wie jeder Seewolf wusste) auf einem Schiffsdeck ein schlechtes Omen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, nicht dran zu denken. Er nahm Kurs auf den Ozean und brachte den Fahrgästen eine Kiste Cola und Salzstangen hinunter, die er schon lange für diesen Anlass besorgt und bereitgestellt hatte. Offensichtlich tat ihnen dieser kleine Imbiss gut, denn die Kinder, den Blick auf die immer ferner entschwindende Küste der Insel geheftet, wurden still, und die Erwachsenen zeigten wachsendes Interesse an der Reise.
»Wohin hast du Kurs genommen?«, fragte der Jüngere der Brüder T. und musste von der Cola aufstoßen.
»Wie lange brauchen wir, bis wir aufs offene Meer kommen?«, fragte die Kindergärtnerin Eliza.
»Haben Sie auch an einen Vorrat an Treibstoff gedacht?«, erkundigte sich der alte Herr S. mit den kranken Nieren.
Zumindest kam es Eryk so vor, als sagten sie das und sonst nichts. Er bemühte sich, sie nicht anzuschauen und nicht nervös zu werden. Er hatte den Blick schon auf die Linie des Horizonts gerichtet, der bis jetzt seine Augen in zwei Hälften geschnitten hatte: eine, die vom Wasser dunkel, und die andere, die vom Wasser hell war. Die Passagiere hatten sich ja auch beruhigt. Sie drückten sich die Mützen in die Stirn, banden ihre Schals enger. Man könnte sagen, sie fuhren in völliger Stille dahin, bis das Knattern eines Hubschraubers und das Heulen von Polizeibooten diese durchschnitt.
»Es gibt Dinge, die geschehen von selbst, es gibt Reisen, die beginnen und enden im Traum, und es gibt Reisende, die antworten auf den gestammelten Ruf ihrer eigenen Unruhe. Ein solcher steht nun vor Ihnen …« Mit diesen Worten begann der Verteidiger seine Rede bei Eryks kurzem Prozess im Gericht. Leider hatte diese bewegende Rede des Verteidigers nicht die gewünschte Wirkung, und unser Held geriet wieder für eine gewisse Zeit ins Gefängnis, ich hoffe, zu seinem Vorteil. Denn für ihn gibt es ohnehin nichts anderes mehr als das dem Meer mit seinen unerforschten Gezeiten entlehnte wogende Auf und Ab.
Doch damit werden wir uns jetzt nicht befassen.
Doch was, wenn mich nun am Ende dieser Geschichte jemand fragen wollte, wenn dieser seine Zweifel ausführen wollte, ob diese die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist. Wenn er mich an der Schulter fasste, mich ungeduldig schüttelte und schrie: »Ich beschwöre dich, sag mir doch aus tiefster Überzeugung, ob diese Geschichte wirklich wahr ist? Bitte mir zu verzeihen, wenn ich zu aufdringlich bin –«, dann würde ich ihm verzeihen und antworten: »So wahr mir Gott helfe, und auf meine Ehr, die Geschichte, welche ich Euch erzählt, Meine Damen und Herren, ist im Kern und in ihren wesentlichen Punkten wahr. Ich weiß, dass sie wahr ist; es geschah auf diesem Erdenrund; ich selbst betrat diese Fähre«.