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2.3 Ziel der Erziehung
ОглавлениеErziehung gibt sich als eine Notwendigkeit zu erkennen. Sie antwortet auf den Tatbestand der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, knüpft an dessen Bildsamkeit an und ermöglicht Lernprozesse in unterschiedlichen Lerndimensionen und in verschiedenen Lebensaltern, die letztendlich ganz unspektakulär dazu führen sollen, »die Probleme der Wirklichkeit selbst zu bewältigen« (Heitger 1961, 111). Sicherlich ist hier noch nichts darüber gesagt, wie die Probleme der Wirklichkeit bewältigt werden können. Reicht es aus, einfach genügend entsprechend funktionale Kompetenzen additiv und spezifisch auf die jeweiligen, im Laufe des Lebens sich stellenden Herausforderungen zu erwerben – im Sinne: Neue Herausforderung/neue Kompetenz? Oder zielen wir mit der Erziehung auf die so genannte Bildung, die letztendlich das schnöde Geschäft der Erziehung, die mitunter auch als Zumutung aufgefasst wird, adelt und den Menschen zum Wahren, Schönen und Guten emporbildet? Ziel der Erziehung, um noch einmal auf Wolfgang Sünkel (2011) zurückzukommen, ist die Vermittlung von Tätigkeitsdispositionen. Hierzu gehören Fertigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen und Haltungen, die sich beim Menschen nicht als Ergebnis genetisch vorgegebener Reifungsprozesse ergeben, sondern durch Lernen erworben werden müssen. Diese zu erwerbenden Tätigkeitsdispositionen werden als geeignet und brauchbar angesehen, um das eigene Leben führen zu können, also die Probleme der Welt, wie Marian Heitger sagt, selbst bewältigen zu können. Zwar kommt diese Auffassung ohne »die üblichen Pathosformeln« (Prange 2010, 23) aus, doch bleibt der Verweis auf die Funktionalität etwas blass und blutleer. Es scheint so zu sein, dass die funktionalistische Zieldimension um eine ethisch-moralische Zieldimension erweitert werden muss. In diesem Sinne können wir das Ziel der Erziehung probeweise auch darin sehen, ein Leben in personaler Selbstbestimmung führen zu können. Dieser Begriff erweitert nun die Operationen von Zeigen/Vermitteln und Lernen/Aneignen um eine ethisch-moralische Perspektive. Personale Selbstbestimmung meint zunächst nicht Selbstverwirklichung, die es gewissermaßen auf größtmögliche (Gewinn-)Maximierung der eigenen Vorteile abgesehen hat und die ihrem Wesen nach nicht selten selbstbezogen in Erscheinung tritt. Gedacht ist hier also nicht an den so genannten »Amerikanischen Traum«, demzufolge »jeder seines Glückes Schmied« ist und mit Erfolg belohnt wird, wenn er sich nur gut genug anstrengt. Selbstverwirklichung mag dann gut klingen, wenn das Leben überwiegend als Erfolgsgeschichte geschrieben werden kann. Problematisch wird die selbstbezogene Selbstverwirklichung dann, wenn das Leben strauchelt, in die Krise gerät oder gar vom Scheitern bedroht ist. Dann entsteht nicht selten der Eindruck, man sei für diese Misere selbst verantwortlich. Wenn alles im Leben auf Selbstverwirklichung gesetzt ist, kann Misserfolg einsam machen und Verzweiflung hervorrufen – ganz zu schweigen von den Zeitgenossen, die das Mantra der Selbstverwirklichung teilen und für die nun das Scheitern auf eigenes, ganz individuelles Versagen zurückzuführen ist. Von besonderen und erschwerenden Bedingungen der eigenen Lebenspraxis, die nicht unbedingt im Einflussbereich des Individuums liegen, ist hierbei keine Rede. Diesem Verständnis nach erscheint uns Selbstverwirklichung als Ziel der Erziehung als eine Sackgasse, die eher nicht zu einem »glückenden« und »guten« Leben führt (Platon 1960).
Personale Selbstbestimmung als Ziel der Erziehung hat also nichts mit Selbstverwirklichung zu tun, sondern zielt auf die Ausbildung dreier unterschiedlicher, aber doch aufeinander bezogener Verhältnisse, die auch schon in den prominenten Bildungsentwürfen anklingen, und die es erlauben, die Grundfragen des Menschen näher zu bestimmen. Wenn wir mit dem amerikanischen Philosophen Donald Davidson (2004) davon ausgehen, dass der Mensch erstens wissen will, was da draußen mit der Welt los ist, dass er zweitens wissen will, was die anderen denken, und dass er drittens wissen will, was er selber denkt, muss Erziehung Bedingungen hervorbringen, die es möglich machen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Es geht also um Bedingungen, die einen reflektierten Bezug zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst ermöglichen: »Sachbezug, Sozialbezug und Selbstbezug; mehr nicht« (Prange 2010, 28). Personale Selbstbestimmung, verstanden als ein »innerer Halt« (Moor 1960), der uns durch das Leben trägt und den es auszubilden gilt, vereint objektive (Sachbezug), intersubjektive (Sozialbezug) und subjektive (Selbstbezug) Verhältnisbestimmungen. Um diese zentralen Verhältnisbestimmungen reflexiv gestalten zu können, muss sich Erziehung an den ethischen Prinzipien der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, der Achtung und Anerkennung und der Freiheit und Freiheitlichkeit orientieren. Wie unschwer zu erkennen ist, stehen diese ethischen Prinzipien für die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen: Wahrheit und Wahrhaftigkeit für den (objektiven) Sachbezug, Achtung und Anerkennung für den (intersubjektiven) Sozialbezug und Freiheit und Freiheitlichkeit für den (subjektiven) Selbstbezug. Sowohl der Prozess der Erziehung als auch das Ziel der Erziehung haben sich nach diesen ethischen Prinzipien zu richten. Fokussieren wir den Prozess und damit auf die didaktische Seite der Erziehung, dann realisieren sich die ethischen Prinzipien durch ein Zeigen, das prinzipiell verständlich, anschlussfähig und zumutbar ist (Prange 2005; 2010). Erst durch die Orientierung an diesen ethischen Prinzipien und der hieraus abgeleiteten Moral des Zeigens (Verständlichkeit, Zumutbarkeit und Anschlussfähigkeit) gibt sich Erziehung als das zu erkennen, was sie ihrem Wesen nach ist und sie grundlegend von Dressur, Konditionierung und anderen Formen missverstandener »Erziehung« kategorial unterscheidet. Zwar lassen sich die Formen pädagogischen Handelns auch für manipulative Zwecke in Dienst nehmen, wenn jedoch die Bezugnahme auf Wahrheit, Achtung und Freiheit wegfällt – und z. B. durch erzielte Effekte, Ergebnisse und Funktionalisierung ersetzt wird –, verbietet es sich, von Erziehung zu sprechen. Die didaktische Seite der Erziehung muss immer als ein Mittel zum Zweck angesehen werden und ergibt sich in Form und Inhalt aus der anthropologisch begründeten Notwendigkeit des Lernens des Menschen. Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Anerkennung und Achtung und Freiheit und Freiheitlichkeit als Ziele der Erziehung und als Grundlage personaler Verfasstheit sind substantiell auf Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen und Einstellungen angewiesen und schließen von Beginn an den Aufbau der Selbstbestimmtheit des Edukanten ein.
Im Wesentlichen geht es darum, Wissensbestände, Fertigkeiten und Willenseinstellungen zu vermitteln, die dazu beitragen, wahrhaftiges, freiheitliches und anerkennendes Handeln, Denken und Fühlen zu befördern. Personale Selbstbestimmung als Ziel der Erziehung vereint ein reflexives Verhältnis zur gegenständlichen Umwelt, zur personalen Mitwelt und zur eigenen Person. Personale Selbstbestimmung ermöglicht es dem Menschen, sich selbst zum Gegenstand des eigenen Nachdenkens zu machen, sich kritisch der eigenen Motivlagen zu vergewissern, Handlungsaufschübe realisieren und Reflexionsräume entstehen lassen zu können. Sie lässt den Menschen in kritische Distanz zu sich selbst treten und ermöglicht es ihm, sich gewissermaßen von außen zu betrachten und einen fürsorglichen Umgang mit sich selbst (Selbstsorge) zu gestalten. Dieser Perspektivwechsel ist dann auch die Grundlage dafür, dass es dem Menschen weiterhin möglich wird, sich in die Innenwelt seiner Mitmenschen einzufühlen und deren lebenspraktischen Ausdrucksgestalten Intentionalität, Sinn und Bedeutung zuzuschreiben. Er kann dann mitfühlen und gelegentlich auch mitleiden. Und er kann sich mit seinen Mitmenschen freuen und gemeinsam mit diesen deren Emotionalität teilen. Prinzipiell kann sich auf diesem Wege ein Verständnis für die Mitmenschen ergeben, das auch von Nachsicht und Fürsorge geprägt ist und mehr die Kooperation, denn die Konkurrenz im Blick hat. Mittlerweile kann aus paläoanthropologischer Sicht gesichert festgehalten werden, dass »wir heute von einer viel größeren Bedeutung des kooperativen Sozialverhaltens bei der Evolution der Vormenschen« (Schrenk 2019, 58) ausgehen müssen. Es sind der Zusammenschluss zu einer Gruppe und die Erfahrung der Zugehörigkeit und der Zusammengehörigkeit, die den Menschen das biopsychosoziale Überleben sichern. Im Kleinen wie im Großen. Damals wie heute. Entscheidend sind die Möglichkeit, Erfahrungen und Informationen weiterzugeben und daraus zu lernen, die Entwicklung einer sprachlichen Kommunikationsstruktur, die in der Lage ist, Kognitives, Affektives und Soziales miteinander zu verbinden, und die fortwährende Suche nach den letzten Gründen, die den Menschen auszeichnen und auf die ihn Erziehung vorbereiten muss. Schließlich erstreckt sich die differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Person und der Mitmenschen auch auf die ihn umgebende Umwelt, und durch immer fortschreitende Erkenntnisse lässt sich die Welt, in der er lebt, immer besser verstehen und erklären und fördert, wenn es gut geht, auch einen von Nachhaltigkeit getragenen Umgang mit seiner Umwelt. Denn eines ist klar, auch wenn sich der Mensch vermeintlich über die Natur erhoben hat und diese ebenso vermeintlich beherrschen und entsprechend dem eigenen Ansinnen manipulieren kann, bleibt doch die unaufhebbare Abhängigkeit von der Umwelt bestehen.
Personale Selbstbestimmung als Ziel der Erziehung hebt also auf die Ausbildung der Möglichkeit zur reflexiven Gestaltung der Verhältnisse des Menschen zur Umwelt, zu den Mitmenschen und zu sich selbst unter den Bedingungen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, von Achtung und Anerkennung und von Freiheit und Freiheitlichkeit ab. Und um diese Verhältnisse reflexiv ausbilden und gestalten zu können, bedarf es eines gehörigen Maßes an Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen und Haltungen, die erzieherisch vermittelt werden müssen.