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1 Pädagogik als praktische Wissenschaft
ОглавлениеPädagogik ist eine praktische Wissenschaft. Damit unterscheidet sie sich zum einen von theoretischen Wissenschaften und zum anderen von angewandten Wissenschaften. Die Pädagogik verfügt, wie auch die Medizin, die Jurisprudenz und die Theologie, als praktische Wissenschaft immer über eine korrespondierende Interventionspraxis, die sich auf die Bearbeitung von Zentralwerten bezieht. Diese werden von der Gesellschaft als relevant angesehen, da sie für die ontogenetische und phylogenetische Entwicklung des Menschen von grundlegender Relevanz sind. So liegt es zum Beispiel auf der Hand, dass Fragen von Krankheit und Gesundheit schon immer Fragen waren, die sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die ihn umgebende Gruppe eine existenzielle Bedeutung aufwiesen. So haben sich dann auch schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte Personen hervorgetan, die als heilkundig galten und denen man diesbezüglich ein entsprechendes Wissen sowie Können zugeschrieben hat. War dieses Wissen und die damit verbundene Könnerschaft zunächst ein reines Erfahrungswissen, das sich durch anschauliche Unterweisung tradierte, entwickelte es sich durch Systematisierung allmählich auch zu einem theoretischen Wissen weiter, das aber trotz der zunehmenden theoretischen Sättigung immer Bezug auf den Gegenstand nahm, von dem es seinen Ausgangspunkt genommen hat – nämlich dem leidenden Menschen (Patient). Kann damit Gesundheit als gesellschaftlicher Zentralwert angesehen werden, um den sich die medizinische Wissenschaft und die ärztliche Praxis kümmern, so lassen sich auch noch Gerechtigkeit, Wahrheit und Bildung als weitere gesellschaftliche Zentralwerte benennen. Für die Bearbeitung des Zentralwerts der Gerechtigkeit sind die Rechtswissenschaften und die richterliche Praxis zuständig, für den der Wahrheit traditionell die Theologie und die verkündende Praxis des Pfarrers. Bedingt durch die Aufklärung und den damit verbundenen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sind heute die Wissenschaften mit der Erforschung der Phänomene der Welt und ihrer Geltungsbegründung betraut. Bildung schließlich wird als bedeutsam angesehen, weil die biologische Ausstattung des Menschen nicht ausreicht, um diejenigen Kompetenzen auszubilden, die nötig sind, ein Leben in personaler Selbstbestimmung zu führen. Der Mensch muss sich eine Form geben, die nicht für alle detailliert vorbestimmt ist. Bei diesem Unterfangen ist er auf Lernen und auf Erziehung angewiesen, für die sich die Pädagogik und die erzieherische Praxis verantwortlich fühlen.
Tab. 1: Disziplin und Profession in der praktischen Wissenschaft
DisziplinMedizinTheologieJurisprudenzPädagogik
In Tabelle 1 werden die gesellschaftlichen Zentralwerte, also die Werte, von denen angenommen wird, dass sie für das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft von Relevanz sind, und deren Bearbeitung durch die jeweiligen Professionen noch einmal deutlich zur Darstellung gebracht. Die Professionen des Arztes, Pfarrers, Richters und Erziehers unterscheiden sich von anderen akademischen Berufen, wie zum Beispiel dem des Ingenieurs oder Historikers, hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Lebensgestaltung des einzelnen Menschen. Die professionell zu bearbeitenden Problemstellungen betreffen das Individuum in höchstem Maße und sind in den jeweiligen Antworten und Operationen in Ausprägung und Entwicklung ungewiss, nicht berechenbar und nicht standardisierbar. Der Professionelle muss also die in die Krise geratene Lebenspraxis als Einzelfall individuell vor dem Hintergrund des jeweiligen allgemeinen disziplinären Wissens deuten, um dafür zu sorgen, dass sich die Autonomie der Lebensführung des betroffenen Menschen wiederherstellt. Damit ist eine Vermittlungsleistung gefragt, die sich den akademischen Berufen außerhalb dieses professionellen Zuständigkeitsbereichs nicht stellt. Diese können vielmehr ihr allgemeines wissenschaftliches Wissen unvermittelt auf den Einzelfall anwenden. Deutlich wird weiterhin, dass die jeweiligen Disziplinen mit ihren korrespondierenden professionellen Praxen die unterschiedlichen Lebensprobleme der Menschen im Modus ihrer jeweiligen Expertise deuten. Der Arzt sieht die Lebensprobleme der Menschen, mit denen er zu tun hat, vordinglich als Gesundheitsprobleme, der Pfarrer sieht diese als Glaubensprobleme, der Richter als Rechtsprobleme und der Erzieher schließlich betrachtet die Lebensprobleme der Menschen als Lernprobleme. Dieser disziplin- und professionsspezifische Zugang zu den Lebensproblemen der Menschen trägt der Tatsache Rechnung, »daß es in der Realität keine wirtschaftlichen, soziologischen oder psychologischen Probleme, sondern eben nur Probleme, und in der Regel sehr komplexe«, gibt (Myrdal 1971, 15), und erweist sich durch die Fokussierung als in höchstem Maße komplexitätsreduzierend. Nur so können professionelle Praxen wirksam werden. Eine Super-Disziplin mit ihrer Super-Profession, die den Menschen allumfassend zu greifen vermögen, ist bisher nicht in Sicht. Manchmal tut sich eine Disziplin hervor und stellt den Anspruch auf alleinige Deutungsmacht. Aktuell scheint dies auf die sogenannten Biowissenschaften zuzutreffen. Doch es zeigt sich immer wieder, dass sich die leibseelische Existenz des Menschen einem solchen Zugriff entzieht und sich, wenn überhaupt, nur partiell fassen lässt. Die Deutung der Lebensprobleme des Menschen im Modus der jeweiligen Disziplin und Profession bringt auch auf Seiten der professionellen Praxis nicht selten eine Differenzierung mit sich. Zwar kann sowohl in menschheitsgeschichtlicher als auch in vor-professioneller und vor-disziplinärer Perspektive prinzipiell von einer funktionellen Herausbildung von Heilkundigen (heute: Ärzte), Heilskundigen (heute: Pfarrer), Rechtskundigen (heute: Richter) und Erziehungskundigen (heute: Erzieher) ausgegangen werden, doch differenzierten sich diese archaischen Prototypen professionellen Handelns im Laufe der Entwicklung weiter aus. So ist unstrittig, dass spezifische Fachbereiche innerhalb der disziplinären und professionellen Zuständigkeit mit unterschiedlichen Fachkunden und Fachbezeichnungen zu versehen sind. Bei den Ärzten liegt dieser Sachverhalt auf der Hand und ist auch leicht nachzuvollziehen. Die medizinische Wissenschaft und die ärztliche Praxis differenzieren sich bis heute immer weiter aus. Der approbierte Arzt bildet sich zum Facharzt (zum Beispiel: Facharzt für Innere Medizin) weiter und erlangt noch eine weitere Zusatzbezeichnung (zum Beispiel: Kardiologie). Gleiches lässt sich auch bei den Pfarrern erkennen, wenn einzelne Tätigkeiten spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern und so zu einem alleinigen Betätigungsfeld, wie zum Beispiel die Krankenhausseelsorge oder die Pastoralpsychologie, werden. Im Bereich der Jurisprudenz und der Pädagogik sind im Laufe der historischen Herausbildung der jeweiligen professionellen Praxen gewissermaßen noch zwei weitere Berufe entstanden. Zwar bleiben der Richter und der Erzieher die grundlegenden Professionen ihrer jeweiligen Disziplin (Jurisprudenz und Pädagogik) – in anthropologischer Perspektive ging es zunächst um die Herstellung von Recht und Gerechtigkeit und um die Unterstützung von Lernen –, doch hat sich im Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gezeigt, dass für ein funktionales Rechts- und Erziehungssystem spezialisierte juristische und pädagogische Berufsgruppen notwendig geworden sind. Auf Seiten der Jurisprudenz hat sich die spezialisierte juristische Berufsgruppe der Anwälte und in der Folge auch die der Fachanwälte und auf Seiten der Pädagogik die spezialisierte pädagogische Berufsgruppe der Lehrer herausgebildet. Entsprechend der systematisch-begrifflichen Ausdifferenzierung, die hier zu Grunde gelegt wird, ist der Lehrer demnach ein unterrichtender Erzieher. Ähnlich der Systematik im Bereich der ärztlichen Praxisfelder wird beim Lehrer eine Form pädagogischen Handelns, nämlich das Unterrichten, zum Hauptbetätigungsfeld, das auch durch institutionelle Rahmenbedingungen (Schule und Schulsystem) abgesichert ist. Genau genommen wäre ein Lehrer ein Facherzieher für Schulpädagogik mit entsprechendem Tätigkeitsschwerpunkt (Grund-, Mittel-, Real-, Förderschule, Gymnasium und Berufsschule). Wenn also im Folgenden von Erzieher gesprochen wird, dann in diesem skizzierten Sinne und in dem Verständnis, dass diese Begrifflichkeit die Ausdifferenzierungen der pädagogischen Berufe (Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Sonder- und Heilpädagogik u. a.) miteinschließt. So wie es üblich ist, vom Arzt zu sprechen und dann auch die Orthopäden, Neurologen, Dermatologen usw. mit zu meinen, so sprechen wir allgemein vom Erzieher und beziehen die Lehrer, die Sozialpädagogen, die Sonder- und Heilpädagogen usw. mit ein. Dass dieser Zugang prinzipiell möglich ist, liegt unter anderem auch in dem Sachverhalt begründet, dass die erzieherisch-professionelle Grundoperation, nämlich das Zeigen, in allen pädagogischen Handlungsfeldern zum Ausdruck kommt und damit das Pädagogische der Interaktionsfigur abbildet (Berdelmann/Fuhr 2020). Der diesbezüglich häufig »erhobene Einwand, das Erziehen sei so vielfältig und unabsehbar reich in seinen Gestaltungen und Besonderheiten, wird hinfällig, wenn die operative Basis überall dieselbe ist« (Prange 2000, 233). Fehlen aber die zeigenden Bemühungen des Erziehers, um Themen so zur Darstellung zu bringen, dass sie auch von den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen angeeignet werden können, kann auch nicht mehr von Erziehung gesprochen werden. Die Zeigegeste ist in der Lage, die unterschiedlichen Bereichspädagogiken und Subdisziplinen der Pädagogik im Kern zu vereinen und deutlich zu machen, was genau erzieherisches Handeln ausmacht.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist für praktische Wissenschaften neben der Zentralwertbezogenheit bereits ein weiteres charakteristisches Merkmal angeklungen: Die Disziplinentwicklung – also die Entwicklung hin zu einer Wissenschaft – folgt der Praxis nach. Das heißt für das hier in Rede stehende Beispiel, dass lange bevor systematische Kenntnisse vom kranken Menschen zur Verfügung standen, schon mehr oder weniger erfolgreiche Bemühungen um die Kranken und Verletzten praktiziert wurden. Die Krisenhaftigkeit des menschlichen Lebens zwingt zur Handlung, was bedeutet, dass ein kranker oder verletzter Mensch in der Frühzeit unserer Menschheitsgeschichte nicht warten konnte, bis evidenzbasiertes medizinisches Wissen und ärztliches Können zur Verfügung standen – er musste versorgt werden. Erst durch das aufgrund der Krise erzwungene Tätig-Sein entwickelte sich dieses allmählich zu einer professionellen Praxis: Man wusste dann durch Erfahrung so langsam, was wirkt. Zudem entstand ebenso allmählich ein systematisches Wissen über den Gegenstand und seine kunstfertige Behandlung, die als Theorie der Praxis begriffen werden kann. Für praktische Wissenschaften gilt also, dass die Praxis immer älter ist als die Theorie. Mit Bezug auf unser Beispiel bedeuten diese Ausführungen, dass die professionelle ärztliche Praxis (Profession) und die korrespondierende medizinische Wissenschaft (Disziplin), wie wir sie heute kennen, ihren Ursprung in den vor-professionellen und vor-disziplinären heilkundlichen Bemühungen um den leidenden Menschen (Patienten) haben. Das Primat der Praxis (vor der Theorie) ist damit konstitutiv für praktische Wissenschaften und deren professionelle Praxen. Dieser Sachverhalt ist auch für die Rechtswissenschaften und die Theologie mit ihren auf ihre eigentümlichen Zentralwerte bezogenen Interventionspraxen evident: Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit sowie die Frage nach Sinn und letztendlicher Wahrheit sind Fragen, die das Wesen des Menschen ausmachen. Sie hatten lange vor einem Rechtsstaat, vor der Etablierung von Religionen und der Wissenschaften zentrale Bedeutung für die Lebenspraxis der Menschen. Gleiches gilt auch für die Pädagogik als Disziplin, die in gewisser Weise das die Erziehung begleitende systematische Bewusstsein darstellt. Die Praxis des Erziehens ist allerdings ebenso immer älter als deren Reflexion.
Damit kommen wir zu einem weiteren Merkmal praktischer Wissenschaften: das der Kunstfertigkeit ihrer professionellen Praxis. Das spezielle Können einer praktischen Wissenschaft gleicht mehr einer Kunstfertigkeit und das diesbezügliche Wissen mehr einer Kunstlehre als einer standardisierbaren Tätigkeit mit entsprechend eindeutiger Wissensbasis. Dieser Tatbestand findet sich auch schon in der Bezeichnung »Praxis« repräsentiert. Die Begriffe von Theorie und Praxis bezogen sich ursprünglich auf die Gestaltung unterschiedlicher Lebensweisen. Für Aristoteles (vgl. 2006) existierten drei gleichberechtigte Wissenschaftsarten, die er als die praktische, die poietische und die theoretische Wissenschaft benannte. Im Blick auf die praktische Wissenschaft ist ihre Abgrenzung zur Poiesis bedeutend. Poietisches lässt sich als »Machen« beschreiben, das seinen Sinn durch das Ergebnis erfährt. Poiesis beschreibt ein Wissen und ein Können, das eindeutig zu vermitteln ist und gewissermaßen in einem Meister-Schüler-Verhältnis weitergegeben werden kann. Wenn ich zum Beispiel tanzen lernen will, dann werde ich mir sicherlich jemanden suchen, der gut tanzt und mir diese Fertigkeit so zeigt, dass ich sie mir ebenfalls aneignen kann. So spricht man ja auch von einem Gesellenstück als ein herzustellendes Werkstück im Rahmen der Gesellenprüfung am Ende der Ausbildung. Gleiches gilt auch für das so genannte Meisterstück als Ausweis dafür, dass man es zu einem Meister in seinem Fach bzw. in seinem Handwerk gebracht hat. Poietisches Wissen und Können zeichnen sich also durch ein hohes Maß an Standardisierbarkeit, Eindeutigkeit und Berechenbarkeit mit Blick auf den zu behandelnden Gegenstand ab – sei es nun die Installation von Wasserleitungen, das Tapezieren von Wänden, der Anschluss der Telefonanlage oder die Reparatur des Autos.
Die Praxis dagegen ist kein Agieren oder Machen, sondern ein Handeln, das seinen Sinn schon in sich trägt und daher eher prozesshaft ist. Selbstverantwortliche Menschen handeln sinnvoll und sozial – also auf andere Menschen hin ausgerichtet. In diesem Verständnis stellen Praxis und Theorie ergänzende Aspekte der Wissenschaft dar. Wir sprechen deshalb im Blick auf die Pädagogik von einer praktischen Wissenschaft. Wissen und Können, das sich im Rahmen einer Praxis vollzieht, ist eher mehrdeutig und weniger standardisierbar und berechenbar. Ein solches Wissen und Können bezieht sich auf einen Gegenstand, der im Grunde erst durch den Menschen selbst hervorgebracht und durch ihn veränderbar wird. Immer wenn Menschen handelnd in Erscheinung treten, erweisen sich ihre Ausdrucksgestalten als mehrdeutig, weniger klar bestimmt und in vielen Fällen interpretationsbedürftig. So kann zum Beispiel die gefühlsmäßige Reaktion auf ein gleiches Ereignis bei den beteiligten Personen ganz unterschiedlich ausfallen. Oder, wir kennen das alle, was uns heute ärgert, lässt uns morgen vielleicht völlig kalt. Da der Mensch seiner Lebenspraxis fortwährend gewollt und bewusst oder ungewollt und unbewusst Sinn oder gar Bedeutung unterstellt, gestaltet sich das Unterfangen, den Gründen des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns nachzugehen, als ein außerordentlich ungewisses. Dies gilt zumindest dann, wenn man von einem Reiz direkt auf eine Reaktion schließen will, ohne die höchst individuelle, von der lebensgeschichtlichen Erfahrung abhängige, sinn- und bedeutungsstiftende Modulation des Reizes durch den Menschen zu berücksichtigen. Und es gilt sowohl für den Menschen selbst als auch für diejenigen, die in einem professionellen Verhältnis zu diesem stehen. So wissen wir nie, auch wenn wir den Tag gut geplant haben, was uns so erwartet und welchen Verlauf dieser nehmen wird. Wenn es gut geht, können wir am Ende des Tages Auskunft darüber geben, wie es gelaufen ist. Als Menschen sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wir in eine ungewisse Zukunft hineinleben müssen. Und für die professionellen Praktiker stellt sich dieses konstitutive Merkmal menschlicher Lebenspraxis noch einmal in einer verschärften Form dar.
Als professionelle Praktiker sind wir herausgefordert, den jeweiligen Einzelfall, mit dem wir in einem professionellen Verhältnis stehen, vor dem Hintergrund unseres disziplinären wissenschaftlichen Wissens zu deuten und hieraus Interventionsstrategien abzuleiten. Das macht den Kern interventionspraktischen Wissens und Könnens aus: die konstitutive Vermittlungsleistung zwischen Einzelfall und allgemeinem Wissen. Eine solche Vermittlungsleistung ist nicht standardisiert zu Wege zu bringen, weil sie, falls man es doch versuchen sollte, gewissermaßen nach dem Motto: »Kenne ich einen, kenne ich alle«, die Eigenart des jeweiligen Einzelfalls verfehlen würde. Die Bauchschmerzen, die uns zum Arzt führen, die Lernbeeinträchtigungen, die uns das schulische Lernen erschweren, die mit der Trennungsentscheidung einhergehenden moralischen Nöte oder die arbeitsrechtliche Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber – alle diese lebenspraktischen Krisen stellen sich zwar bei vielen Menschen im Laufe ihres Lebens ein, haben aber ganz unterschiedliche Hintergründe, die dann auch erst den Rahmen für eine hilfreiche Unterstützung abgeben. So schaut der Arzt genau nach den je spezifischen Ursachen der Bauchschmerzen, der Lehrer erkundet die je individuellen Bedingungen des beeinträchtigten Lernens, der Pfarrer fragt nach den individuellen Dispositionen im Blick auf Schuld, Scham und Sühne und der Richter entscheidet den strittigen Einzelfall vor dem Hintergrund der Beweislage mit Bezug auf geltendes Recht. Hier wird klar, Wissen und Können im Modus der Praxis müssen Allgemeines auslegen, um es auf den Einzelfall spezifisch anwenden zu können. Professionelles Handeln ist interventionspraktisches Handeln und damit prinzipiell ein Handeln unter Ungewissheit. Damit müssen die professionellen Akteure umgehen – im günstigsten Fall entwickeln sie professionelles Wissen, Können und auch professionelle Einstellungen und Haltungen, die sich aus drei Quellen speisen: 1. aus systematischem wissenschaftlichen Wissen und Können, 2. aus intuitivem Wissen und Können und 3. aus einem Wissen und Können, das sich in der Praxis bewährt hat. Auf diesem Wege entsteht das, was man als Kunstfertigkeit bezeichnen kann und das dafür sorgt, dass die professionelle Vermittlungsaufgabe nicht zu einem Dauerproblem wird.
Damit erscheint der Rahmen hinreichend umrissen, in dem sich unsere folgenden Ausführungen bewegen sollen. Im Mittelpunkt steht die Explikation einer Entwicklungspädagogik, die die menschliche Entwicklung unter den Bedingungen des Lernens und des Erziehens fasst und sich damit auf den genuinen Gegenstand der Pädagogik als praktische Wissenschaft bezieht. In diesem Sinne möchten wir eine Theorie der pädagogischen Praxis entfalten, die in der Lage ist, in höchstem Maße interventionspraktisch wirksam zu werden, weil sie den sogenannten »pädagogischen Blick«, der der professionellen Kunstfertigkeit und der Kunstlehre zuzurechnen ist, pädagogisch begründet. Unserem Verständnis nach kann dieser pädagogische Blick auch als das verstanden werden, was Johann Friedrich Herbart (1964) bereits 1802 mit dem Begriff des pädagogischen Takts umrissen hat: »Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er seine Theorie ausübt und nur mit den vorkommenden Fällen nicht etwa in pedantischer Langsamkeit wie ein Schüler mit seinem Rechenexempeln verfährt, zwischen die Theorie und die Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie der Schlendrian ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie (…) sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel zugleich die wahre Forderung des individuellen Falls ganz und gerade zu treffen« (Herbart 1964, 126). Nimmt man Herbarts Aufforderung, die den Überlegungen zum pädagogischen Takt vorangestellt ist, noch hinzu: »Unterscheiden Sie zuvörderst die Pädagogik als Wissenschaft von der Kunst der Erziehung« (ebd., 124), dann kann Herbart mit Fug und Recht als ein Vordenker einer pädagogischen Professionalisierungstheorie gelten. Er beschreibt hier den Professionellen, der über allgemeines Wissen verfügt und im Blick auf die Forderungen des individuellen Falles für die notwendige Vermittlungsoperation auf den pädagogischen Takt angewiesen ist, im Vergleich zum ewig gleich Vorgehenden, den er als Schlendrian auffasst, und zu einer ingenieurialen Praxis, die willens und in der Lage ist, in völliger Besonnenheit jeden Einzelfall den allgemeinen Regeln unterzuordnen.
So wird für das hier in Rede stehende Thema eine ganz besondere Gattung wissenschaftlicher Darstellung nötig. Um unsere Thematik in gegenstandsangemessener Form entfalten zu können, müssen wir uns in zwei Richtungen abgrenzen. Zum einen wird hier keine theoretisch-erziehungswissenschaftliche Abhandlung zum Thema »menschliche Entwicklung« gegeben. Das ist sicherlich möglich und von herausragenden Vertretern unseres Fachs mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auch schon geleistet worden, würde aber unsere Zielrichtung verfehlen. Wir möchten weniger ein erziehungswissenschaftliches als ein pädagogisches Buch vorlegen, eines, das für die Praxis des Erziehens Relevanz hat, eines, das sich mehr auf den oben genannten Takt bzw. auf dessen berufswissenschaftliche Basis bezieht. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass theoretisch-erziehungswissenschaftliche Wissensbestände keine Praxisrelevanz haben, dienen sie doch der so wichtigen wissenschaftlichen Fundierung des in der Wissenschaft begründeten Berufs des Pädagogen, den Christian Lüders (1989) damit ja zu Recht als wissenschaftlich ausgebildeten Praktiker bezeichnet hat. Selbstverständlich kann man als Pädagoge auch in Zusammenhängen arbeiten, die entweder mit Pädagogik nichts mehr zu tun haben oder die sich nicht mehr auf die Praxis des Erziehens beziehen. Ähnliche berufliche Verläufe finden sich ja auch bei Ärzten, die als Mediziner, bei Pfarrern, die als Theologen, oder bei Richtern, die als Juristen in ganz unterschiedlichen Feldern tätig werden können. Das ist durchaus möglich, sind doch die entsprechenden Studiengänge im Allgemeinen relevant, weil sie sich grundlegend mit den Facetten des Mensch-Sein beschäftigen. So verständlich es allerdings ist, aus allgemeinem Interesse Medizin, Pädagogik, Theologie oder Rechtswissenschaften zu studieren, so sind diese Disziplinen im Kern auf eine Tätigkeit in ihrer jeweiligen professionellen Praxis als Arzt, Erzieher, Pfarrer und Richter ausgerichtet. Darum geht es in den Ausführungen zur Entwicklungspädagogik: um die Explikation einer pädagogischen Theorie für die erzieherische Praxis. Als wissenschaftlich ausgebildeter Erzieher bezieht sich der Praktiker auf die pädagogische Wissenschaft. Damit kommen wir zur zweiten Differenzlinie unserer notwendigen Abgrenzungsbemühungen. Zielt die erste gewissermaßen auf eine als strukturell zu benennende Binnendifferenzierung der pädagogischen Disziplin, so hebt die zweite Abgrenzung auf die Verhältnisbestimmung der pädagogischen Disziplin und Profession zu ihren Nachbardisziplinen, die sich ebenfalls als Humanwissenschaften verstehen, ab. Um es kurz zu machen: Die hier versuchte Explikation einer Entwicklungspädagogik ist nicht das Resultat einer Anwendung psychologischer, soziologischer oder neurobiologischer Grundlagenforschung auf die Praxis des Erziehens, sondern Ergebnis pädagogischer Studien.
Abb. 1: Verhältnis von pädagogischer Theorie und Praxis zu den Nachbarwissenschaften
Es versteht sich von selbst, dass für die pädagogische Theorie und Praxis die Erkenntnisse anderer Humanwissenschaften von prinzipieller Relevanz sind, nur müssen sie, wie das der Tübinger Pädagoge Klaus Prange (2014) mit Bezug auf Johann Friedrich Herbart (1806/1965) kategorisch feststellt, in das System der einheimischen Begriffe der Pädagogik transformiert werden: »Der Einbau auswärtiger Begriffe in die Systematik der Pädagogik hat unter dem Primat ihrer einheimischen Operationen zu erfolgen« (Prange 2014, 21). Das heißt ganz konkret, dass die Methoden und Ergebnisse der Humanwissenschaften darauf hin geprüft werden müssen, welche Relevanz sie für die Bearbeitung des Gegenstands der Pädagogik in Theorie und Praxis haben. Und es ist die der Pädagogik eigentümliche Systematik, die darüber entscheidet, und nicht beispielsweise die Psychologie, die die Praxis des Erziehens oder gar die Themen der pädagogischen Forschung bestimmen sollte. So wird auch eine mit der Gegenüberstellung von qualitativer und quantitativer Forschung zusammenhängende Vorstellung, nur hypothesenprüfende, subsumtionslogische Forschung und deren Anwendung könne in der Pädagogik als empirisch und evidenzbasiert angesehen werden, obsolet. Insbesondere im Blick auf pädagogische Forschung hat die grundlegende Kritik des Nobelpreisträgers Peter Brian Medawar an hypothesenprüfenden empirischen Untersuchungen Gültigkeit. Im BBC wurde 1963 ein Vortrag des Biologen ausgestrahlt, in dem der Wissenschaftler zu dem Ergebnis gelangt, dass hypothesenprüfende Untersuchungen und die schriftlichen Berichte davon tendenziell ein Betrug seien. Medawar bejaht die Frage »Is the scientific paper a fraud?« und begründet dies u. a. mit der Beobachtung, dass die Grundstruktur der hypothesenprüfenden Untersuchung darauf angelegt sei, solche Ergebnisse zu zeitigen, wie sie bereits vorher angenommen würden. Die Theorie veranlasse den Forscher, Erwartungen zu formulieren, und lasse ihn ausschließlich in diesem Rahmen Entdeckungen machen. Dabei entstünde dann fälschlicherweise der Eindruck, hier seien objektive Wirklichkeiten zum Abdruck gekommen (vgl. Medawar 1963).
Neben den in der wissenschaftlichen Diskussion jeweils präferierten Forschungsmethoden müssen auch die inhaltlichen Schwerpunkte und Begrifflichkeiten der Nachbarwissenschaften auf ihre Relevanz für die Bearbeitung pädagogischer Fragestellungen hin überprüft werden. Diesbezüglich hat Martinus Langeveld, ein niederländischer Lehrer und Professor für Pädagogik, Klarheit geschaffen, indem er bereits 1968 feststellte, »daß die Psychologie nie und nirgends die Erziehung leiten und richten kann. Daß aber (…) die Psychologie im Gegenteil nach Ursprung, Bedeutung und Gegenstand vom pädagogischen Denken abhängig ist« (Langeveld 1968, 71). Und ebenso ist es auch nicht die Soziologie, die Erziehung überwiegend als Element des Sozialisationsprozesses versteht und dementsprechend der pädagogischen Theorie und Praxis aus soziologischer Sicht nahelegt, was unter Erziehung zu verstehen und wie mit dieser umzugehen ist (vgl. Hechler 2013). Mit Blick auf den Symbolischen Interaktionismus schreibt der Pädagoge Gerhard Hey bereits 1978: »Es ist fatal, wie Pädagogen unkritisch einer Theorie wie der des Symbolischen Interaktionismus anheimfallen, die zwar einen für die Erziehung bedeutsamen Zusammenhang erkannt hat (…), die aber ein in vielen Dingen amputiertes Bild des Menschen vermittelt« (Hey 1978, 48). Und es dürfte sich an der von Hey dargelegten Situation aktuell wenig geändert haben – wahrscheinlich ist nur der Symbolische Interaktionismus von scheinbar moderneren Theorien, wie zum Beispiel dem vielzitierten, aber doch häufig missverstandenen oder auch in weiten Teilen unverstandenen Konstruktivismus abgelöst worden (vgl. Fertsch-Röver 2017). Gleiches gilt auch für die Biologie. Selbst wenn diese in der Pädagogik momentan hoch im Kurs steht – fast noch höher als der Konstruktivismus –, muss doch die »Neurobiologie der Schule« (Bauer 2008, 9) noch durch das Nadelöhr der pädagogischen Disziplin und Profession. So verhält sich die Pädagogik zu ihren humanwissenschaftlichen Nachbardisziplinen wie die Medizin zur Biologie, Chemie oder Physik. Diese Wissenschaften liefern grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Organismus, doch wird dadurch die Medizin nicht zu einer lediglich anwendenden Disziplin – also zu einer angewandten Wissenschaft –, denn die biologischen, chemischen oder physikalischen Einsichten können den kranken Menschen niemals in seiner leibseelischen Gesamtverfasstheit begreifen und ihm deshalb auch nicht gerecht werden. Hierfür bedarf es zunächst der Aufarbeitung dieser Wissensbestände durch die medizinische Wissenschaft und deren interventionspraktischer Vermittlung im Rahmen des Arzt-Patient-Verhältnisses. Insofern versteht es sich auch von selbst, dass niemand auf die Idee käme, dem Biologen, Chemiker oder Physiker die Behandlung eines Kranken oder einer Krankenstation zu übertragen.
In diesem Sinne folgt die hier in Angriff zu nehmende Entwicklungspädagogik grundlegend einer anthropologischen Betrachtungsweise (vgl. Bollnow 1965). Diese Sichtweise verhindert sowohl eine unzulässige triviale Summierung der Erkenntnisse der benachbarten Humanwissenschaften mit Blick auf den Gegenstand der Pädagogik als auch dessen Subsumtion unter das vorherrschende Paradigma einer benachbarten Humanwissenschaft. Vielmehr ermöglicht die hier zu entfaltende Entwicklungspädagogik, »daß sich die Pädagogik ihres unmittelbaren (kursiv im Original) Zugangs zum Menschen gewiß wird und nicht mehr glaubt, sich von anderen Wissenschaften (…) sagen lassen zu müssen, wie der Mensch beschaffen ist, mit dem sie es zu tun hat, um daraus sekundär die pädagogischen Begriffe abzuleiten, sondern den Menschen in allen seinen Lebensbezügen (…) unmittelbar sub specie educationis zu erforschen« (Loch 1963, 79).
Diesem Verständnis folgend heben die Ausführungen zur Entwicklungspädagogik auf die Entfaltung eines personagenetischen Entwurfs der menschlichen Entwicklung unter den Bedingungen des Lernens und des Erziehens ab. Im Zentrum steht die Personwerdung des Menschen durch Lernen und Erziehung. Damit beziehen wir uns auf die Faktizität und die gattungsspezifische Notwendigkeit von Erziehung, die die anthropologische Grundlage der Pädagogik abgeben und die bereits früh in der pädagogischen Reflexion zum Gegenstand wurden. Letztendlich heben wesentliche pädagogische Aussagen – von Erasmus von Rotterdam über Johann Amos Comenius bis hin zu Immanuel Kant – auf den Tatbestand ab, dass der »Mensch nur Mensch werden (kann) durch Erziehung« (Kant 1878, 63). Diese Aussage bedarf allerdings einer kleinen Erweiterung und nicht unwesentlichen Korrektur, ist sie doch eher in einem historischen Kontext zu verstehen. Demzufolge fassen wir Mensch-Sein nicht als Resultat von Erziehung auf, denn der Mensch ist jenseits von Erziehung qua Geburt Mensch, sondern knüpfen an die Tradition einer personalistischen Erziehungstheorie an, wie sie der italienische Pädagoge Guiseppe Flores d´Arcais (1991) entworfen und der Würzburger Pädagoge Winfried Böhm (1997) weitergeführt und in Deutschland bekannt gemacht hat. Dieser pädagogischen Denkrichtung zufolge wird – stark vereinfacht – der Mensch als Mensch geboren, aber erst durch Erziehung, die maßgeblich für den individuellen Bildungsprozess ist, zur Person. Wir haben also die Person, die »gereift für sich selber entscheiden und in solchen Entscheidungen zur Persönlichkeit werden (kann)«, im Blick. So muss die Erziehung, wie wir sie denken, sowohl als »Freigabe des Heranwachsenden, nicht als seine Unterwerfung« als auch als notwendiger »Beistand (für) die Aktualisierung der Personalität« (Speck 1970, 323) des Menschen verstanden werden, indem erzieherisches Handeln prinzipiell jene Bedingungen zu ermöglichen hat, unter denen der Mensch sein Person-Sein aktualisieren kann. Außer Acht lassen wir hierbei die philosophisch-anthropologischen und phänomenologischen Entwürfe zur Person und zur Personalität, die zwar die Grundlage für die Bestimmung der Begriffe »Person« und »Personalität« als pädagogische Grundbegriffe abgeben, die hier aber nicht weiter diskutiert werden sollen. Es geht uns damit, wie gezeigt wurde, weder um die Explikation der Psychogenese, der Soziogenese oder der Biogenese mit Blick auf die menschliche Entwicklung, um hieraus etwa die pädagogische Fragestellung und diesbezügliche pädagogische Handlungsentwürfe abzuleiten, sondern um den, wie Werner Loch (1963) meint, unmittelbaren spezifisch-pädagogischen, das heißt, personagenetischen Zugang zum Menschen unter den Bedingungen der Erziehung im Rahmen eines erzieherischen Verhältnisses. Dieser markiert das Alleinstellungsmerkmal der Pädagogik als Disziplin und Profession und macht deutlich, »was ein Pädagoge und nur ein Pädagoge wirklich kann im Unterschied zum Psychologen oder Arzt oder Therapeuten« (Prange 1987, 357).
Dieser Zugriff hat auch zur Folge, dass wir uns nur an den Stellen auf einschlägige Entwicklungstheorien beziehen, wo diese dazu dienen, die Sache der Entwicklungspädagogik zu verdeutlichen. Eine systematische Aufarbeitung psychologischer, soziologischer oder biologischer Entwicklungstheorien wird hier nicht angestrebt. Ebenso bleiben die zumeist anhand und entlang soziologischer Sozialisationstheorien beeinflussten entwicklungspädagogischen Entwürfe (z. B. Aufenanger 1992) hier weitgehend unberücksichtigt, was selbstverständlich nicht heißt, dass wir diesen keine Relevanz zusprechen, doch meinen wir, dass diese Entwürfe nur bedingt aus den »einheimischen Begriffen« der Pädagogik und deren Systematik hervorgegangen sind. Selbstverständlich haben grundlegende Arbeiten zum Gedanken einer Entwicklungspädagogik, wie sie zum Beispiel auch Heinrich Roth im zweiten Band seiner Pädagogischen Anthropologie entworfen hat (Roth 1971), Eingang in unsere Überlegungen gefunden. Allerdings versuchen wir an dieser Stelle, weniger einen systematischen Überblick oder vielleicht gar eine Theoriegeschichte der Entwicklungspädagogik zu schreiben als vielmehr »nach vorne« einen Entwurf zu formulieren, der sich, und dieser Sachverhalt ist völlig unstrittig, zwar im Kontext der einschlägigen Bemühungen verorten lässt, dabei aber möglicherweise etwas »Neues« in die Diskussion einzubringen vermag. So können wir vielleicht, in Anlehnung an Klaus Prange, abschließend festhalten: Die Entwicklungspädagogik »ist von Anfang bis Ende bei sich selbst und braucht nicht erst den Umweg über anderes Wissen, das nachträglich pädagogisiert wird« (Prange 2000, 242).
Entsprechend den Forderungen des Themas entfalten wir unsere Gedanken zur Entwicklungspädagogik in zweifacher Hinsicht. Zum einen werden wir die pädagogischen Grundlagen der Entwicklungspädagogik kurz skizzieren, um den Rahmen abzustecken, in dem wir unser entwicklungspädagogisches Modell verorten. Denn es scheint ja mittlerweile nicht mehr klar, was im Allgemeinen unter Pädagogik und im Besonderen unter Erziehung zu verstehen ist bzw. verstanden werden soll. Die Entwicklungspädagogik ist eingebettet in ein Verständnis von Pädagogik als eine praktische Wissenschaft, dessen Grundbegriff die Erziehung darstellt. Diese Bestimmung findet sicherlich nicht ungeteilten Zuspruch – das muss sie auch nicht. Doch lässt sich erzieherisches Sehen, Denken und Handeln ohne einen grundlegenden, weitestgehend kohärenten Entwurf von Pädagogik schlichtweg nicht realisieren, wenn man es mit der Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis ernst meint.
Zum anderen wird dann die Explikation dessen, was wir unter Lernen und Erziehen über den Lebenslauf verstehen, entfaltet. Hier finden sich genaue Darstellungen von Entwicklungsthemen und Lernaufgaben, die sich dem Menschen über seinen gesamten Lebenslauf in den unterschiedlichen Lerndimensionen stellen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Lernen, seinen Themen und seinen Hemmungen. Dieser Schwerpunkt ergibt sich daraus, dass das Lernen gewissermaßen die »Betriebsprämisse« (Prange 2011, 35) erzieherischen Handelns abgibt. Das Lernen ist dem Erziehen vorangestellt und soziales Handeln wird dann zu Erziehung, wenn es sich auf das Lernen bezieht mit dem Ziel, Themen so zu vermitteln, dass sie sich vom Gegenüber auch aneignen lassen. Insofern ergeben sich die Formen pädagogischen Handelns aus den Lernanforderungen. Wie noch ersichtlich werden wird, fokussieren wir also mehr auf die anthropologische Seite der Erziehung und weniger auf die didaktische. Diese wird dann thematisch, insofern sie Lernhilfen für anstehende Lernaufgaben mit den damit einhergehenden Lernhemmungen bereitstellt. In diesem Sinne verstehen wir die Formen pädagogischen Handelns immer als Mittel zum Zweck des Lernens – nie als Selbstzweck. Der Fokus auf die Lernaufgaben, die Lerndimensionen und auf deren Entfaltung über den Lebenslauf bringt es mit sich, gelegentlich auch die besonderen und erschwerenden Bedingungen zu thematisieren, die aus Lernhemmung durchaus auch umfängliche Beeinträchtigungen, Störungen oder Gefährdungen entstehen lassen und damit massiv auf die Bewältigung von Lernaufgaben Einfluss nehmen können.