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One World Trade Center, Manhattan
ОглавлениеRückblick: Die ersten fünfzig Jahre
»Fortschritt ist nur die Verwirklichung von Utopien.«
Oscar Wilde
Jetztzeit
Im Wartebereich der Investmentfirma drängten sich unzählige Grüppchen junger Erwachsener, die Erprobten unter ihnen hatten Klappstühle mitgebracht. Aufgeregtes Getuschel erfüllte den Raum, durch den ein diffuser Duft von Aftershave waberte.
Seit Stunden schon standen Debby und Jay mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, doch die jungen Frauen waren froh, überhaupt noch einen Platz erobert zu haben. Debby presste die Lippen aufeinander, während ihre Augen immer wieder zu der Tür mit dem goldenen Schriftzug MVP wanderten. Nervös zupfte sie an ihrem Businesskostüm herum und entfernte imaginäre Flusen. Mit einem Lächeln legte Jay ihrer Freundin die Hände auf die Schultern und suchte deren Blick.
»Du siehst absolut spitze aus, Debby. Und es gibt überhaupt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Schließlich...«
Aus dem Deckenlautsprecher erklang ein Knarzen und wie auf Kommando wandten sich alle Köpfe nach oben.
»Dr. Austin, Dr. Sen.«
Während die Spannung im Raum einem enttäuschten Gemurmel wich, schlängelten sich Debby und Jay zur Tür, wo sie von einer blonden Assistentin in einem Etuikleid in Empfang genommen wurden. Entlang verglaster Einzelbüros führte sie die beiden Frauen in ein fensterloses Besprechungszimmer und begab sich umgehend zurück zum Empfang.
Die Mitte des Raumes füllte ein quadratischer Kunststofftisch, um den herum fünf unbequem anmutende Designerstühle angeordnet waren. Missbilligend musterte Jay das Ambiente, während sie in ihren Rucksack griff und vor jedem der Stühle eine kleine Schale mit einer roten und einer blauen Pille platzierte.
Wenige Augenblicke später kehrte die Empfangsdame zurück, gefolgt von einer attraktiven Frau mediterranen Typs und einem zierlichen Mann mit Geheimratsecken.
»Darf ich vorstellen? Miranda Lorenzo, Head of Marketing bei Malley Venture Partners, und Oleg Kasparow, Senior Expert Innovation. Bitte nehmen Sie doch schon Platz.«
Kaum hatte sich die Runde auf die Stühle verteilt, schon platzte ein Hüne von einem Mann in den Raum und steuerte mit kraftvollen Schritten auf den letzten freien Platz zu. Sein Körper glich dem eines Zehnkämpfers und war in einen geschmackvollen Anzug in der Farbe seiner grau melierten Haare gekleidet.
»Bleiben Sie sitzen«, bedeutete der Riese mit einer Bewegung seiner muskulösen Hände, während er einen teilnahmslosen Blick auf seinen Tabletcomputer warf.
»Ich bin Mike Malley und schmeiße den Laden hier. Sie sind also Wissenschaftler?«
»Mein Name ist Debby Austin, 29 Jahre alt, geboren in Babylon, Long Island. Ich bin Biotechnologin und arbeite am ...«
»Danke, das reicht«, fuhr Malley dazwischen und wandte sich wortlos Jay zu.
»Mein Name ist Jayashree Sen, Humangenetikerin, und wie meine Kollegin arbeite ich am Polytechnic Institute der New York University.«
»Liegt das nicht drüben in Brooklyn? Was verschlägt Sie denn zu uns in die große Stadt?« Ohne eine Antwort abzuwarten deutete Malley auf die Schale mit den farbigen Pillen vor sich. »Lassen Sie mich raten. Sie wollen uns einen Trip in die Matrix verkaufen?«
Wie auf ein Zeichen erhob sich Debby und aktivierte mit einem Klick auf den Laserpointer die Präsentation. Das Raumlicht wurde abgedunkelt und sie erhob ihre Stimme, in welcher der Stolz einer Wissenschaftlerin mitschwang.
»Während der letzten fünf Jahre haben meine Kollegin und ich das Bewegungsverhalten menschlicher Spermien erforscht. Diese sind bekanntlich blind und auf Signale angewiesen, ohne die sie den Weg zur Eizelle niemals finden würden.«
Auf der Projektionsfläche erschien eine animierte Sequenz, in der sich stilisierte Keimzellen in einer Flüssigkeit fortbewegten.
»Wie Sie vielleicht wissen«, fuhr Debby synchron zu der Animation fort, »unterstützt der weibliche Körper diese Suche, indem er Botenstoffe wie Progesteron verströmt. Einige davon kontrollieren die Geschwindigkeit des Spermiums, andere steuern dessen Bewegungsrichtung, indem sie das Öffnen molekularer Schleusen in der Geißel bewirken.«
In der Animation traf eine bunte Molekülkette auf den Rezeptor eines Spermiums, das in der Folge eine zuckende Linkskurve beschrieb.
»In der Fachwelt sind diese Zusammenhänge bereits seit Beginn des Jahrtausends bekannt. Uns ist es nun jedoch nach intensiver Grundlagenforschung gelungen, unter Einbindung der Aldehyde Cyclamal und Bourgeonal ...«
»Stopp!«, fuhr Malleys dröhnende Stimme dazwischen. »Wissen Sie, wir bekommen hier dutzende solcher Präsentationen. Jeden Tag. Wundermaterialien, Onlineplattformen – suchen Sie sich was aus. Und die Erfinder sehen sich alle schon als zweiten Mr. Google. Ich gebe Ihnen beiden einen Tipp frei Haus: Verwechseln Sie nicht technische Eleganz mit Marktpotenzial. Selbst wenn Sie die verdammte Weltformel entdeckt hätten, würde mich das nicht interessieren. Es sei denn, Sie verraten mir, wie man damit Geld verdient. Also kommen Sie endlich auf den Punkt und langweilen Sie mich nicht mit diesem Gequatsche!«
Debby rang nach Luft. Konsterniert starrte sie Malley an, der seine letzten Worte mit stechenden Bewegungen der Zeigefinger untermalt hatte. In diesem Moment erhob sich Jay und setzte die Präsentation mit einem Klick wieder in Gang.
»Wir haben sämtliche Botenstoffe entschlüsselt, die im Rahmen der Fortpflanzung relevant sind – und wir können sie nutzbar machen. Stellen Sie sich nun bitte ein Leitsystem vor, das Sie nach Ihren Wünschen steuern können.«
Die Animation zeigte Ampeln und Verkehrszeichen, deren Zusammenspiel den Fluss der stilisierten Keimzellen regelte.
»Unser Präparat ermöglicht, dass nur bestimmte Spermien den Weg zur Eizelle finden. Diese erhalten freien Lauf und werden zusätzlich stimuliert, so dass sie sich schneller fortbewegen. Die übrigen werden durch eine rote Ampel gestoppt und in eine Sackgasse umgeleitet.«
Jay registrierte, wie Malleys Augen Oleg Kasparow fixierten, dessen Mimik eine Mischung aus Ungläubigkeit und Aufregung verriet.
»Für den abschließenden Teil der Präsentation übergebe ich zurück an Dr. Austin, die für den Durchbruch bei unseren Forschungsarbeiten verantwortlich zeichnet.«
Debbies Körper straffte sich und sie erhob ihre Stimme.
»Wir haben einen Cocktail an Botenstoffen entwickelt, mit dem sich die zwei Spermientypen getrennt voneinander ansprechen und steuern lassen. Unsere Wirkstoffkombination lässt ausschließlich diejenigen zur Eizelle durch, die über das erwünschte Geschlechtschromosom verfügen.«
»Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen«, kommentierte Kasparow und Debby lächelte ihm dankbar zu.
»Zusammenfassend haben wir ein Präparat entwickelt, mit dessen Hilfe Eltern das Geschlecht ihres Nachwuchses auswählen können – und das kinderleicht.«
Zu Debbies Worten griff Jay in die kleine Schale vor sich und hielt abwechselnd die farbigen Pillen zwischen Daumen und Zeigefinger hoch.
»Blaue Pille: Junge – rote Pille: Mädchen.«
In der Runde herrschte gespannte Ruhe. Miranda Lorenzo versuchte, eine Reaktion ihrer beiden Kollegen aufzufangen. Kasparow nahm einen Schluck Wasser und räusperte sich.
»Wer weiß bisher davon?«
»Nun, einige der peripheren Forschungsergebnisse haben wir in Fachzeitschriften publiziert, aber für den Kern der Erfindung ...« Jay griff in eine Dokumentenmappe und zog ein Blatt Papier mit goldenem Siegel und roter Schleife heraus. »... haben wir vor zwei Wochen dieses Patent erhalten – und damit die Eintrittskarte in die exklusive Vermarktung. Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist einen Investor, der uns das entsprechende Startkapital zur Verfügung stellt.«
Malley tauschte einen kurzen Blick mit Kasparow und übergab das Wort mit einem kurzen Nicken an Lorenzo.
»Erzählen Sie uns noch ein bisschen mehr über das Produkt. Wen sehen Sie als Zielgruppe?«
»Sieben von zehn Akademikerfamilien hierzulande haben Einzelkinder«, konstatierte Debby. »In China ist die Ein-Kind-Politik sogar gang und gäbe. Insbesondere in Familien mit gebildeten und beruflich erfolgreichen Frauen sollte das erste Kind daher auch direkt das gewünschte Geschlecht haben, denn zu einer zweiten Chance kommt es – statistisch betrachtet – nur selten. Als weitere Zielgruppe sehen wir Mehr-Kind-Familien, denen wir einen Wunsch nach Family Balancing erfüllen können.«
»Was können Sie uns über konkurrierende Produkte erzählen?«, erkundigte sich Kasparow bei Jay.
»Die einzige Alternative besteht in einer künstlichen Befruchtung mit Präimplantationsdiagnostik. Diese Prozedur ist jedoch nicht nur in den meisten Ländern verboten, sondern mit unangenehmen Eingriffen in den weiblichen Körper verbunden. Im Gegensatz dazu funktioniert unser Produkt ohne Aufwand – und zu einem Bruchteil der Kosten.«
Malley verschränkte die Hände hinter dem Kopf und zog eine Augenbraue hoch.
»Apropos Kosten. Wie steht es damit?«
»Wir haben für unser Präparat eine Depotkapsel entwickelt, deren Wirkung sechs Monate lang anhält«, erwiderte Debby. »Die reinen Materialkosten dafür liegen bei etwa fünfzig Cent.«
»Peanuts«, schnaubte Malley mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Und machen Sie sich bitte bewusst, dass unser Präparat noch eine weitere Verwendungsmöglichkeit bietet. Werden die blaue und die rote Pille gleichzeitig eingenommen, so resultiert eine maximal zuverlässige Empfängnisverhütung, denn in diesem Fall werden sämtliche Spermien von ihrem Weg zur Eizelle abgelenkt.«
»Und all das, ohne in den Zyklus der Frau einzugreifen und ohne sonstige Nebenwirkungen«, ergänzte Jay. »Unsere Vision ist es, mit nur einem einzigen Produkt die Marktführerschaft in sämtlichen Phasen der Familienplanung zu erobern. Das Motto lautet: Blau und Rot: sichere Verhütung – Blau oder Rot: Wunschkind-Schwangerschaft«
Debby tauschte einen kurzen Blick mit Jay und räusperte sich dezent.
»Und hier ist unser Vorschlag, Mr. Malley. Sie übernehmen die Finanzierung bis zur Markteinführung und erhalten im Gegenzug eine Beteiligung von fünfzig Prozent minus einer Aktie. Nachdem die Zulassung des Präparats erfolgt ist, initiieren wir einen Börsengang und Sie können Ihre Anteile verkaufen.«
»Immer langsam, meine Damen«, unterbrach Malley mit einer beschwichtigenden Geste. »Meine Kollegen und ich werden uns Ihre Idee erst mal genauer ansehen. Wir informieren Sie dann beizeiten.«
Zu Malleys letzten Worten hatte die blonde Assistentin bereits die Tür des Raums geöffnet und geleitete Debby und Jay zu den Fahrstühlen. Kaum, dass die beiden Frauen außer Sichtweite waren, berief Malley mit kreisenden Bewegungen seiner Zeigefinger eine Besprechung ein. Gefolgt von Lorenzo und Kasparow betrat er sein Büro und schlug die schalldichten Türflügel hinter sich zu.
»Heilige Scheiße!«, platzte es aus ihm heraus, während er sich mit beiden Händen durch die eisgrauen Haare strich. »Das wird der nächste Blockbuster. Kategorie Viagra.«
Lorenzo runzelte die Stirn und es gelang ihr nicht, den skeptischen Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.
»Ob die Leute eine ähnlich hohe Zahlungsbereitschaft dafür haben werden?«
»Ich erkenne ein Geschäft, wenn ich eins sehe«, polterte Malley. »Was probieren Eltern nicht seit jeher alles, damit der eigene Nachwuchs auch ja das richtige Geschlecht bekommt? Die einen haben nur an bestimmten Tagen Sex, die anderen nur in bestimmten Stellungen. Bloß hat ihnen das bislang nicht das Geringste genutzt.«
»Ein Vorteil des Präparats ist natürlich, dass es einem die freie Auswahl lässt«, warf Kasparow ein, der im Stillen recherchiert hatte. »In einem Großteil der Welt, insbesondere in Asien und Afrika, werden ganz klar Söhne bevorzugt, in Skandinavien dagegen Töchter. Und auch bei uns haben viele Eltern eindeutige Präferenzen. Die einen so, die anderen so.«
»Ein Freund von mir hat sogar seine gesamte Ernährung umgestellt, nur weil er unbedingt einen Jungen haben wollte«, pflichtete Malley bei. »Er hat jeden Tag Unmengen von diesen Proteindrinks in sich reingeschüttet, die ihm sein Arzt verkauft hat. Drei Jahre lang, der Idiot!«
Unvermittelt schlug er auf seine Oberschenkel und lachte lauthals auf.
»Und seine Alte hat es ihm mit zwei Mädchen gedankt!«
Lorenzo überspielte ihren Schrecken mit einem erprobten Lächeln.
»Was war das eigentlich mit den Mehr-Kind-Familien, die angeblich als Zielgruppe in Frage kommen sollen? Dieses Family ... Family ...«
»Family Balancing«, erläuterte Kasparow. »Nimm meine Frau und mich zum Beispiel. Wir haben schon zwei Jungs und Nadya wünscht sich nichts sehnlicher als endlich ein Mädchen. Aber ihre Sorge vor einem dritten Jungen ist einfach zu groß. Sie würde ohne mit der Wimper zu zucken ihr heißgeliebtes Cabrio gegen die Garantie eintauschen, beim nächsten Mal ein Mädchen zu bekommen.«
»Vielleicht sollten wir das Zeug exklusiv an Königshäuser verkaufen«, grübelte Malley vor sich hin. »Fünfzig Millionen für einen Thronfolger auf Bestellung. Ganz diskret.«
Kasparow tippte auf seinem Tabletcomputer herum und runzelte die Stirn.
»Wenn ich es richtig sehe, gibt es gerade einmal zwanzig gekrönte Häupter weltweit. Das ist eine arg kleine Nische. Und nachdem dann der Kronprinz geboren wurde, erlischt der Bedarf auch erst mal wieder bis zur nächsten Generation. Ich denke, der Massenmarkt wäre deutlich lukrativer für uns, Mike. Immerhin werden jedes Jahr rund 120 Millionen Kinder geboren.«
Malley wiegte den Kopf hin und her und nickte schließlich.
»In Ordnung, lasst uns die Finanzdaten durchgehen. Sind die Angaben der Ladies plausibel, Oleg?«
»Das sind sie. An einigen Stellen sieht unser Benchmark-Programm sogar noch Einsparpotenzial. Für die klinische Prüfung kalkulieren die beiden zum Beispiel eine Milliarde Dollar, aber in Asien bekämen wir die Studien natürlich für ein Viertel. Auch könnte die Produktion an einem einzigen Standort erfolgen, denn die Kapseln sind so klein, dass die Kosten für Lager und Logistik zu vernachlässigen sind. Wenn ich mal einen branchenüblichen Produktlebenszyklus unterstelle, liegen die Gesamtkosten pro Pille bei gerade einmal fünf Dollar. Und die Zahlungsbereitschaft der Kunden dürfte ein Vielfaches davon betragen.«
Lorenzo stütze ihren Kopf in die Hände.
»Aber sprengen die Investitionen nicht unseren Rahmen?«
Malley lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Die Pharmabranche ist nun mal ein verdammtes Monaco. Der Eintritt bringt dich fast um, aber wenn du einmal drin bist, fließen Milch und Honig wie im Schlaraffenland.«
Kasparow grinste zustimmend.
»Zur Not holen wir noch ein oder zwei Partner ins Boot, aber die Finanzierung dürfte ein Selbstläufer werden. Nicht zuletzt befindet sich der Wirkstoff ja bereits an der Schwelle zur Marktreife. Und das Wort Pharma ist für Investoren schließlich ein liebgewonnenes Synonym für Rendite.«
Es klopfte an der Tür und die blonde Assistentin steckte ihren Kopf herein.
»Sir, als nächstes warten da draußen die drei jungen Harvard-Absolventen in der Sache ...«
»Nicht jetzt!«, unterbrach Malley. »Die sollen irgendwann wiederkommen. Sag die restlichen Termine für heute ab. Und reservier einen Tisch für fünf Personen bei diesem neuen Edeljapaner Broadway Ecke Grand«, rief er ihr nach, bevor er sich mit einem breiten Grinsen Kasparow zuwandte. »Und du bereitest den Beteiligungsvertrag vor, Oleg. Nicht, dass uns die beiden Goldfische noch vom Haken springen.«
Mit einem krachenden Schlag auf die Tischplatte besiegelte Malley seine Entscheidung. Lorenzos erschrockenes Gesicht verriet, dass sie einen Moment zu lange gebraucht hatte, um ihre Fassung wiederzugewinnen.
»Alles in Ordnung, Miranda?«
»Alles bestens, Mike. Unter Marketing-Aspekten empfehle ich jedoch, die Mädchenpille rosa zu färben anstatt rot.«