Читать книгу Drop-outs - Oliver Koppel - Страница 5
Canarsie
ОглавлениеZeitgleich
Jay hatte die Kapuze ihres Sweatshirts tief in das Gesicht gezogen, während sie auf ihrem Mountainbike die Glenwood Road hinunterfuhr. Es regnete wie aus Kübeln und der kalte Wind peitschte die Tropfen gegen ihre Kleidung. Auf den Straßen Brooklyns hatten sich Wasserlachen gebildet und das Kanalisationssystem arbeitete bereits jenseits der Belastungsgrenze. Zur Rechten passierte Jay ihre alte Schule, deren betonierte Basketballfelder von hohen Metallzäunen umschlossen wurden. Ein Stück die Straße herunter parkte ein Lowrider mit abgetönten Scheiben, aus dem das monotone Wummern eines Basses drang. Unter dem Vordach einer Bushaltestelle wenige Meter weiter standen zwei junge Männer in Hip-Hop-Outfits und diskutierten gestenreich miteinander.
Als sich Jay der Szenerie näherte, heulte hinter ihr eine Polizeisirene auf. Die Reflexionen des rot-weiß-blauen Alarmlichts verwandelten die nasse Straße in einen flackernden Lichtteppich. Einen Augenblick später preschte ein Streifenwagen des 69. Reviers an ihr vorbei und entschwand hinter der nächsten Kreuzung.
Die jungen Männer hatten kaum Notiz genommen, beendeten ihr Zwiegespräch und tauschten einige Geldscheine gegen ein Plastiktütchen. Jay wandte ihren Blick wieder der Straße zu. Sie kannte den Dealer seit ihrer Kindheit und es fiel ihr nicht schwer sich vorzustellen, welche seiner Kumpels in dem Auto saßen. Canarsie war ihr Viertel. Hier hatte sie den größten Teil ihres Lebens verbracht und war erst weggezogen, als sie vor fünf Jahren ihre Postdoc-Stelle angetreten hatte.
Kurze Zeit später erreichte sie den siebenstöckigen Sozialbau, in dem ihre Tante ein kleines Apartment bewohnte. Auf einer überdachten Bank vor dem baufälligen Gebäude lungerten einige Halbstarke in Baggy Pants herum und bedachten Jay mit aufreizenden Pfiffen. Der Anführer der Gruppe musterte sie kurz, wandte seinen Blick jedoch betont desinteressiert wieder ab.
Trotz ihrer wenig einschüchternden Statur hatte sich Jay einen gewissen Ruf der Wehrhaftigkeit erworben, der sie vor weitergehenden Belästigungen schützte. Als 14-Jährige hatte sie einem Zwei-Zentner-Rüpel aus der Nachbarschaft zwei Rippen gebrochen, als dieser versucht hatte, sie in sein Auto zu drängen.
Jay drückte auf eine der zahlreichen Klingeln und betrat mit dem Summen des Öffners das Treppenhaus. Sie setzte erst gar keine Hoffnungen auf den chronisch defekten Fahrstuhl, schulterte ihr tropfendes Fahrrad und hievte es in die vierte Etage. Eine zierliche Frau in den Sechzigern öffnete ihr die Tür. Sie war in einen grasgrünen Sari gehüllt, der ihre grauen, zu einem Knoten gesteckten Haare unbedeckt ließ. Jay fiel ihrer Tante in die Arme und drückte sie innig.
»Mashi!«
»Mein Liebes! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich für dich freue.«
Im Flur der kleinen Wohnung empfing Jay ein vertrautes Potpourri aus Safran, Gewürznelken und schwarzem Kardamom. Sie folgte dem Duft in den Wohnraum, vorbei an ihrem alten Zimmer, das ihre Tante inzwischen als Schlafraum nutzte. Auf einem durchgesessenen Sofa, neben dem ein üppiger Benjamini gedieh, ließen sich die Frauen nieder. Sogleich fiel Jays Blick auf die gegenüberliegende Wand, von der aus mindestens ein Dutzend blühender Pflanzen um die Gunst des Betrachters buhlten. Dazwischen prangten großformatige Fotos: Ihr erster Schultag an der Canarsie High School – Als Teenagerin beim Musti-yuddha, einer dem Boxen verwandten Kampfsportart mit indischen Wurzeln – Hinter einem Mikrofonpult bei der Rede als Jahrgangsbeste – In kurzen Hosen vor der Golden Gate Bridge – In schwarzem Talar und mit quadratischem Hut bei der Abschlussfeier ihrer Universität – Mit Debby und Kasparow bei der Unterzeichnung des Beteiligungsvertrags.
Ungläubig runzelte Jay die Stirn.
»Das Foto habe ich dir doch gerade erst geschickt.«
»Du kennst mich doch«, gluckste ihre Tante und wackelte entschuldigend mit dem Kopf. »Magst du etwas essen? Ich habe frische Samosas gemacht.«
»Danke, aber wir kochen heute Abend noch für Kollegen.«
Jays Blicke wanderten die Aufnahmen entlang und blieben an einem leicht vergilbten Polaroid hängen. Auf ihm war eine junge Inderin zu erkennen, die auf einer Bank aus weißem Marmor saß, im Hintergrund das majestätische Taj Mahal. In ihren Armen hielt die Frau ein kleines Mädchen und strahlte aus fröhlichen Augen in die Kamera. Bei genauerem Hinsehen wirkte das Foto seltsam asymmetrisch, ganz so, als sei ein Teil nachträglich abgetrennt worden. Jay fühlte das bekannte Gefühl von Beklemmung und ohnmächtiger Wut in sich aufsteigen. Gleich darauf legte sich eine beruhigende Hand auf ihre Schulter und die Stimme ihrer Tante drang wie durch einen Wattebausch zu ihr durch.
»Deine Mutter wäre heute unendlich stolz auf dich.«
»Das wäre sie«, murmelte Jay mit brüchiger Stimme und biss sich auf die Unterlippe. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich von dem Bild ab. Einige Zeit lang herrschte Stille, ehe ihre Tante duftenden Chai aus einer silbernen Kanne einschenkte. Jay nahm einen großen Schluck und spürte, wie sich ihre Sinne wieder schärften. Mit einem tapferen Lächeln blickte sie ihre Tante an und stellte die Tasse auf dem Tisch ab.
»Ich muss mit dir reden, Mashi.«
»Immer heraus damit. Was hast du auf dem Herzen, Liebes?«
Jay zögerte und suchte nach den richtigen Worten.
»Du weißt doch, dass wir jetzt einen Investor für unsere Erfindung haben. Na ja, der Beteiligungsvertrag hat natürlich auch uns einiges Geld eingebracht. Und damit konnte ich mir gestern endlich einen lang gehegten Wunsch erfüllen.«
Jay kramte in ihrem Rucksack herum und fischte eine Hochglanzbroschüre heraus.
»Ich habe eine Wohnung gekauft.«
Ihre Tante schlug die Hände zusammen.
»Wie schön. Du hast mir ja gar nicht erzählt, dass du nach einer suchst. Wo bist du denn fündig geworden?«
»Gerade einmal drei Blocks von unserer WG entfernt. Nichts Großartiges, aber gut geschnitten. Zwei Zimmer plus Wohnküche. Erdgeschoss. Tageslichtbad mit bodenebener Dusche. Und nach hinten heraus sogar ein kleiner Garten. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit immer daran vorbei gekommen und die Tage habe ich zufällig das Schild im Fenster gesehen.«
»Die sieht ja wirklich wunderschön aus.«
Ihre Tante blätterte aufmerksam durch das Exposé und hob plötzlich den Kopf.
»Was sagt denn Debby dazu?«
»Oh, sie freut sich sehr darüber.«
»Aber ihr habt euch doch so gut verstanden in eurer WG.«
»Und das werden wir auch weiterhin. Denn die Wohnung ist ja nicht für mich – sondern für meine Lieblingstante.«
»Bitte … Was?!«
»Sieh mal, meine neue Arbeit wird mir nur noch wenig Zeit lassen und ich hätte meine Lieblingstante einfach gerne in der Nähe. So könnte ich sie viel leichter besuchen und ab und zu auch mal nach dem Rechten schauen.«
»Hält mein Liebes seine Tante etwa für einen Pflegefall?«
»Das hat doch keiner behauptet. Aber auch meine Lieblingstante wird nicht jünger. Und sie soll bitte daran denken, was ihr der Arzt gesagt hat. Die vielen Treppen sind Gift für ihre Gelenke.«
»Mein Liebes braucht sich keine Sorgen zu machen. Die Hausverwaltung hat gestern geschrieben, dass der Aufzug bald repariert wird.«
»Hinter den Ohren scheint meine Lieblingstante noch grüner zu sein als ihr Sari. Aber da wir gerade bei Grün sind: Seit ich denken kann, hat sich meine Lieblingstante einen eigenen Garten gewünscht.«
»Aber mein Liebes ...«
Ihre Tante schlug die Hände vor das Gesicht.
»Du warst immer für mich da, Mashi, und hast so unendlich viel für mich getan. Jetzt habe ich endlich die Möglichkeit, dir ein wenig davon zurückzugeben.«
»Bist du sicher, dass du das wirklich möchtest?«, brachte ihre Tante mit belegter Stimme hervor.
Jay nickte heftig und umarmte sie.
»Und wie ich mir sicher bin!«