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Deseo

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Deseo lebte allein. Kein Hund, kein Vogel, nur die üblichen Spinnentiere in der Wohnung; im Sommer ein paar Insekten mehr und die unzähligen mikroskopisch kleinen Organismen, die mit dem Menschen weitgehend friedlich in Koexistenz leben. Insofern war Deseo zwar nicht das einzige lebendige Wesen in seiner Wohnung, dafür aber das einzige mit Ehrgeiz und Ambitionen.

Seine Firma stellte er über alles. Sie sollte wachsen, blühen und Früchte tragen für seine finanziellen und mentalen Konten. Wachstumspfad, Wachstumsstory, Wachstumsfantasie: Diese drei religiösen Begriffe des Neoliberalismus benutzte er wiederholend, wenn er irgendwo sein Unternehmen anpries, bei Banken, Geschäftspartnern oder Freunden. Deseo glaubte an die Verheißungen der Expansion. Er war überzeugt davon, dass seine Zufriedenheit mit dem Wachstum seiner Firma zunehmen würde. Je größer sein Laden desto besser, dachte er.

Sein Partner war da ganz anders – so wie die andere Seite einer Medaille, die unwichtigere, die man seltener betrachtete, weil die Ziffern auf der ersten eingeprägt waren. Er hatte es sich in seiner Nische bequem gemacht und profitierte von seinem genialen Wissen in allen Fragen der Informationstechnologie. Seine technische Kompetenz war für Deseo unbestritten. Dafür mangelte es ihm erheblich an unternehmerischen Fähigkeiten, fand er. Eigentlich hatte er gar keine.

Deshalb zog es Deseo vor, die elementaren Geschäftskontakte allein zu pflegen und mit Akquisitionen für Neukunden zu sorgen. Doch bisweilen hemmte ihn Leons Lethargie.

Vor wenigen Wochen hatte Deseo Leon vorgeschlagen, das Kapital, das als Rücklage auf dem Festgeldkonto schlummerte, in die Hand zu nehmen, um die Firma weiter zu vergrößern. Er wollte einen kleinen Laden für Computerspiele im Internet übernehmen, von dem er überzeugt war, dass er in Zukunft groß rauskommen würde. Die Firma stellte eine ideale Ergänzung zu ihren Geschäften dar und wäre zu günstigen Konditionen zu haben. Seine Banken hatten bereits grünes Licht für die Finanzierung des Kaufs gegeben. Für Deseo stand fest, dass die Übernahme ein Meilenstein auf dem Weg aufs Börsenparkett gewesen würde. Es fehlte allein das O.K. von Leon. Doch der war davon alles andere als begeistert. Für ihn war der Börsengang eine Schnapsidee und Computerspiele für ihre Firma zu banal.

Deseo hatte zwar nicht mit dem harten Widerstand seines Partners gerechnet, ließ sich aber noch lange nicht von seinen Plänen abbringen. Im Notfall, glaubte er, könne er das Geschäft auch mit anderen Partnern und einer neuen Firma realisieren. Deseo war aber überzeugt davon, dass Leon früher oder später vor seinem genialen Geschäftssinn werde kapitulieren müssen.

Denn es war seine Aufgabe, erfolgreich zu sein, fand er, und anderen zu beweisen, dass er wusste, wo es langgeht. Das war er seinem Vater schuldig, der mehr als zwanzig Jahre tot war und auch im Leben nicht nur eine, sondern zwei bis unendlich viele Generationen von ihm entfernt war.

Deseo war das Produkt eines heftigen Abenteuers seiner Mutter gewesen, die an der spanischen Mittelmeerküste für ein deutsches Reisebüro tätig war, mit einem Herrn, der in Girona einen Tabakwarenladen unterhielt und zur Sommerfrische nach L’Escala an die Costa Brava gereist war. Der Flirt, anfangs unverfänglich, nahm in den zwei Wochen seines Aufenthalts wie die Sonne an Intensität zu, die der alleinstehende Mann und die junge Frau auch danach nicht mehr missen wollten.

Josep, so hieß sein Vater, hatte seine Jugend auf dem Land an den Hängen der katalanischen Pyrenäen verbracht und war als dreißigjähriger Mann nach Girona gekommen, um einen Tabakladen aufzumachen, wie seine Mutter ihm später erzählte. Deseo verbrachte die ersten Jahre seines Lebens in Barcelona zumeist im dritten Stock eines bürgerlichen Freskenbaus unweit des Krankenhauses Sant Pau im Stadtteil Sagrada Familia, in dem seine Mutter ihn unter Schmerzen entbunden hatte. Neben seiner Mutter lebten auf den mehr als hundert Quadratmetern die Schwester seines Vaters, die bis zu ihrem Einzug über Jahre allein gewohnt hatte. Anfangs verbrachte der Vater nur die Wochenenden in Barcelona. Den Rest der Woche lebte er für sein Tabakgeschäft in Girona.

Getauft wurde er auf den Namen Jordi Ferrer (der Familienname seines Vaters) Stern (der Name seiner Mutter). Doch alle nannten ihn Deseo, was auf Deutsch Wunsch bedeutet. Denn für den alten und bis dato kinderlosen Mann symbolisierte der Junge seinen Wunsch und seine Hoffnung für eine neue Zeit. Denn wie in seiner Familie erzählt wurde, war Deseos Großvater im Bürgerkrieg von einem besoffenen Nachbarn unter dem Vorwand erschossen worden, Kommunisten zu bekämpfen; in Wahrheit aber weil er ihn hasste. Der Mann wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Der gewaltsame Tod seines Vaters trieb Josep in die Arme der Verteidiger der Republik und ließ ihn nach deren Niederlage in den Jahrzehnten des Franco-Regimes grau werden. Seinen so überraschend auftauchenden Sohn sah er als ein Symbol für bessere Zeiten, als einen Hoffnungsträger einer neuen Welt, in der Freiheit und Frieden herrschen sollten. Deseos Tante Lucía sagte immer wieder zu ihm: „Dein Vater weiß, dass du ein Held bist.“

Das war zu der Zeit, als Josep schon krank war, Deseo aber noch gar nicht wusste, was ein Held machen musste, außer als Pirat Schiffe zu räubern. Sein Vater hatte eine angeschlagene Gesundheit von dem vielen Tabakqualm und der zugigen Bude, die er in Girona bewohnte. Er gab den Laden auf, als Deseo sieben war, und zog vollständig nach Barcelona. Der Kranke wurde von seiner Schwester gepflegt, während Deseo zunächst nicht verstehen konnte, warum sein Vater dauernd das Bett hütete, anstatt lustige Dinge mit ihm zu unternehmen. Kurz vor seinem elften Geburtstag starb Josep.

Der Vater war kaum unter der Erde, da zog die Mutter mit Deseo nach Deutschland. Sie hatte sich nie wirklich der Familie zugehörig gefühlt. Tante Lucía, mit der er einst zusammenwohnte, schickte ihm regelmäßig Päckchen, die mit der Demokratisierung und dem wirtschaftlichen Aufschwung Kataloniens immer größer wurden und Spielsachen und Süßigkeiten enthielten. Er telefonierte anfangs einmal pro Monat mit ihr und seinem gleichaltrigen Cousin David, mit dem er in Barcelona viel Zeit verbracht hatte. Mit seinen regelmäßigen Kontakten pflegte er das Katalanisch, dieses merkwürdig nuschelige romanische Idiom, das jenseits der Pyrenäen zu Hause war und kein Mensch im modernen Europa des 21. Jahrhunderts sprechen wollte außer diesem alten Handels- und Bauernvolk von der Mittelmeerküste. Wenn er die damals zwar verbotene, aber hinter verschlossenen Türen trotzdem gepflegte Sprache seines Vaters benutzte, dann erinnerte er seine Mutter sofort an ihn, denn sofort veränderten sich auch seine Gesichtszüge, nahm er den ernsten Ausdruck seines Vaters an. Ohnehin hatte er von Josep die dunklen Augen wie aus schwarzem Stein, die schmalen Lippen und die kräftige Statur geerbt.

Deseo war immer der starke Mann zu Hause, denn es gab nur ihn. Seine Mutter heiratete nie, und von den Männern, die sie manchmal mit nach Hause brachte, blieb niemand für länger. Deseo war ein zufriedener Junge, der keine Kämpfe mit seinem Vater austragen musste und der kaum merkte, dass er ihn vermisste. So war er es gewohnt, alles selbst zu entscheiden, und Schwäche war für ihn nicht männlich, denn die hatte seine Mutter gezeigt und deshalb war sie weiblich.

In gewisser Weise war er aber stolz, Nachfahre eines getöteten Revolutionärs zu sein. Solch familiärer Linie zu folgen, bedeutete, stark und mutig und – wie sein Vater es gewollt hatte – ein Held zu sein. Wenn er als Jugendlicher seiner Mutter gegenüber von solchen männlichen Überzeugungen gesprochen hatte, hatte sie ihn milde angelächelt und gesagt: „Du neigst zu großen Gesten wie viele Spanier. Das Männliche alleine hält aber den Lauf der Welt nicht in Gang.“

Den Sinn dieser Worte hatte er bis heute kaum verstanden, doch dass er dem Wunsch seines Vaters verpflichtet war, glaubte er immer noch. Und dazu zählte in Deseos Interpretation, reich und mächtig zu werden.

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