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Scharfes Zuckerrohr
ОглавлениеDrei Tage später ging er zu ihnen. Sie residierten nur wenige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Er musste nur hinauf auf die nach LKW-Dieselabgasen stinkende Stresemannstraße, vorbei an den rußgeschwärzten neoklassischen Altbauten mit ihren Wintergärten und antiken Büsten und Säulen, unter der Sternbrücke hindurch, über die ICEs und S-Bahnen im Minutentakt dröhnten und quietschten, bis er das Apartmenthotel erreicht hatte, das zurückgesetzt an der Spitze zweier auf die Stresemannstraße mündender Nebenstraßen wie ein Flagschiff thronte. Er klingelte im vierten Stock, und als er das kühle mit großen Steinquadern geflieste Treppenhaus betrat, tauchte der Lärm der großen Durchgangsstraße ab und machte lauer Hintergrundmusik Platz, die aus den Wänden auszutreten schien.
Oben erwarteten ihn die Sugarcanes. Sie lächelten freundlich und boten ihm einen Kaffee an. Das Geschäftliche regelten sie gleich.
„Dann belastet das niemanden mehr“, erklärte Sheila, während sie seine Visa Card durch die kleine Apparatur zog, um vierhundert Euro abzubuchen.
„Übrigens stellen wir Euch die Visa-Gebühren ab sofort in Rechnung. Schließlich wollt Ihr ja damit bezahlen. Wir nehmen viel lieber US-Dollar in bar.“
Deseo nickte nur, dachte aber, dass die Kreditkarte ja deshalb erfunden wurde, um die Zahlungsmöglichkeiten zu erweitern, was schließlich im Sinne der Verkäufer war. Denn so kamen sie an ihr Geld, selbst wenn ihr Kunde nichts dabei hatte. Na ja, wie auch immer, Deseo war gespannt und warf sein Jackett der Bequemlichkeit wegen auf das Bett.
„Oh nein, bitte nicht“, rief Sheila, hob es sofort wieder hoch, weit weg von sich und reichte es ihrem Mann, der es an die Garderobe hängte.
„Ich bin allergisch gegen Parfüm.“
„Ich habe gar keines benutzt“, sagte Deseo verwundert.
„Dann vielleicht gestern oder du hast den Geruch von anderen angenommen“, reagierte Alvin kurz.
Deseo fragte sich, wie empfindlich wohl ihre Nasen wären, dass sie etwas rochen und dagegen auch noch allergisch waren, was er nie wahrgenommen hätte. Sie setzten sich an einen runden Tisch und Sheila eröffnete die Sitzung.
„Was möchtest du von uns wissen?“, fragte sie freundlich.
Deseo legte los: „Ihr wisst, ich bin Firmenchef. Ich stehe vor einigen grundsätzlichen Entscheidungen, um mein Unternehmen voranzubringen und zu expandieren. Darüber möchte ich gerne mit euch sprechen.“
„Was versprichst du dir von deinem Unternehmen?“, fragte Alvin.
Deseo überlegte nicht lange: „Ich will erfolgreich sein, Geld verdienen, glücklich sein.“
Wieder machte Alvin eine bedeutungsvolle Pause, in der er ihn fixierte. „Ich glaube, du bist auf der Suche nach deinem Vater“, sagte er völlig ruhig.
Deseo verstand nicht richtig, was er meinte, und begann sich unwohl zu fühlen. Wiederholte sich jetzt wieder diese Nummer vom Wochenendseminar? „Wieso das? Der ist schon lange tot.“
Alvin sah ihm direkt in die Augen. „Ja, deshalb vielleicht.“
Er wusste nicht, was er antworten sollte. Sein Herz schlug schneller. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, wusste er nicht. Sie spürten seine Unsicherheit und sahen ihn fest an.
„Du suchst deinen Vater. Das ist klar. In allem, was du tust, bist du von dem Wunsch getrieben, einmal deinem Vater zu begegnen. Du musst lernen, dass er tot ist.“ Sheila hatte gesprochen.
„Ich dachte immer, dass ich das wüsste“, gab Deseo zur Antwort und fragte sich dabei, in welchem Film er war.
„Ja, das ist, was du denkst. Du denkst vieles. Das macht diese Apparatur in deinem Kopf, die Gehirn heißt. Sie funktioniert nicht anders als die Festplatte auf deinem Computer. Sie speichert Daten und ruft sie auf Knopfdruck ab. Kennst du das Problem, dass Computer manchmal spinnen und Daten erscheinen und miteinander verknüpft werden, die keinen Sinn ergeben, und ohne dass der Anwender es so gewollt hat?“ Deseo nickte schwach und war gebannt von Alvins Augen. „Das Gehirn ist nur ein Hilfsorgan, das sich aber zum heimlichen Herrscher aufgeschwungen hat. Es macht uns glauben, dass alles, was wir denken, wahr und unumstößlich sei. Natürlich brauchen wir unser Gehirn. Wir müssen Lösungen finden, logische Verknüpfungen erstellen. Wir müssen rechnen, lesen, Auto fahren. Ohne unser Gehirn ginge es nicht. Aber wir – unser Selbst – stehen darüber: Wir müssen das Gehirn steuern, sonst steuert es uns. Und es ist geprägt von alten Denkmustern unserer Eltern und anderer Erwachsener, Idolen, der Werbung und der Gesellschaft. Denk an ein Flugzeug! Würdest du wollen, dass es von einem Computer der Bodenstation oder via Satellit gesteuert wird oder dass ein Pilot im Cockpit die Verantwortung trägt?“
Alvin und Sheila sahen ihn erwartungsvoll an, so wie man ein Hündchen anblickt, das Männchen machen soll. Er fühlte sich genötigt zu antworten und war doch völlig verwirrt. Er hatte doch etwas ganz anderes wissen wollen.
Deseo gab sich einen Ruck: „Den Tod meines Vaters habe ich schon längst akzeptiert. Ich glaube nicht, dass ich auf der Suche nach ihm bin.“ Seine Stimme wurde fester: „Ich habe auch eigentlich eine andere Frage gestellt.“
Sheila stieß ihren Mann an. „Siehst du? Jetzt glaubt er, du bist sein Vater. Er will sich mit dir anlegen.“
„Wenn du unsere Meinung nicht annehmen willst, was tust du dann überhaupt hier?“, fragte Alvin kalt. „Dann kannst du in deine vorurteilsvolle Welt zurückkehren, in der du bestens über dich Bescheid weißt. Schau dich doch um, hier in Hamburg! So viele Menschen mit toten Gesichtern auf der Straße.“
Hier brach Alvin plötzlich ab. Die Sugarcanes sahen an ihm vorbei in eine undefinierbare Weite. Sie sind wie Zuckerrohr, dachte er mit einem Mal. Vor der süßen Botschaft kommt das scharfe Rohr. Er wollte ihnen eine Chance geben. Hatte er eine Wahl? Vielleicht glaubte er es.
„Du hast unsere Frage noch nicht beantwortet“, fuhren sie plötzlich fort, als sei nichts gewesen. „Wer soll steuern?“
„Natürlich der Pilot“, antwortete Deseo ruhig.
„Eben, natürlich. Deshalb brauchst auch du den deinen, der dich steuern muss. Und weil du damit Schwierigkeiten hast, suchst du unseren Rat. Das ist gut so, denn wir helfen dir, die Richtung zu finden.“
Deseo nahm einen Schluck Wasser. Er hatte sein geschäftliches Anliegen vergessen. „Was ist mit meinem Vater?“, fragte er fast wie ein Büßer.
„Du hast erzählt, dass er starb, als du noch ein Kind warst. Das ist nicht einfach. Jedes Kind braucht seinen Vater und sucht nach ihm, wenn er verschwindet. Kein Kind findet sich einfach damit ab. Denn er ist für die Kleinen der wichtigste Pilot, hab ich recht? Wonach sollen wir uns richten, wenn wir ihn nicht haben?“, fragten sie rhetorisch.
Deseo fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Teil des Gehirns rausgesaugt. Als würde seine Stimme weit weg erzeugt, räumte er ein: „Es stimmt schon, manchmal bin ich traurig, dass ich meinen Vater nicht gekannt habe.“
„Ja, jetzt zeigst du Gefühle. Jetzt lässt du zu, dass es dich aufwühlt. Darum geht es doch. Keine Sorge, wir helfen dir. Jetzt, wo du uns gefunden hast, kannst du mit uns dem Pfad der Erneuerung folgen – zusammen mit den anderen Mitgliedern unserer Gemeinschaft. Willkommen.“
Sie boten ihm einen Kaffee an. Er fühlte sich plötzlich wie zu Hause, nicht wie in seinem heutigen, sondern wie in seinem früheren als Kind. Es war doch schön, dort zu sein. Er vertraute ihnen. Jetzt hatten sie ihn. Nun kamen sie auf seine eigentlichen Fragen zu sprechen. „Wenn du effizienter sein willst, dann lebe im Moment. Schau dir an, was die Situation, die vor dir liegt, erfordert. Vergleiche sie nicht mit Erfahrungen und Reaktionen aus der Vergangenheit. Sie sind nie angemessen, denn jede Situation entsteht neu, mit all ihren Schattierungen der teilnehmenden Personen, ihren Beklemmungen und unbewussten Programmen. Bist du aber klar, dann kannst du die optimale Entscheidung treffen. Nutze diesen Vorteil: Denn jeder ist seines Glückes Schmied. Wer sich im Labyrinth seiner Gedanken verrennt, ist wie ein Blinder im Sonnenschein. Er sieht seine Chancen nicht. Mit Bewusstheit erlangst du im Geschäftsleben Vorteile gegenüber anderen. Das bringt dich weiter.“
Dann erzählte Deseo von seinem Partner. „Leon gehört zu denen, die sich in ihrem Labyrinth verirren und im Leben nichts riskieren, weil sie Angst haben. Ich mag Leon und brauche ihn. Er ist ein exzellenter Spezialist. Aber geschäftlich komme ich nicht so voran, wie ich es mir vorstelle. Um zu expandieren, brauche ich Kapital.“
Alvin fragte genauer nach. Deseo erzählte ihm von seinen Börsenplänen und fügte hinzu: „Und eure Seminare möchte ich auch weiter besuchen. Die kosten Geld.“
Alvin nickte: „Das stimmt. Das sind Investitionen in deine Zukunft und die deiner Firma. Wir stellen dir gerne entsprechende Rechnungen für Beratungshonorare aus.“
Deseo fuhr fort: „Es ist ja nicht so, dass wir kein Kapital hätten. Ohne Eigenkapital gäbe uns auch keine Bank Kredite für einen solchen Unternehmenskauf, wie ich ihn mir vorstelle. Es liegt in den Rücklagen. Doch Leon will nicht ran an die Kohle.“
Alvin wollte mehr wissen: „Aber es sind doch eure gemeinsamen Mittel. Kannst du nicht deinen Teil für dein Vorhaben nehmen?“
Deseo ereiferte sich: „Das geht nicht. Mein Partner müsste zustimmen. Außerdem reicht die Hälfte nicht aus.“
Alvin dachte nach: „Es scheint so zu sein, dass dein Partner Probleme hat, in sein Leben zu investieren. Davon darfst du dich nicht behindern lassen. Du solltest deinen Partner unbedingt zu unserem nächsten Seminar mitnehmen.“
„Klar werde ich versuchen ihn mitzubringen. Aber bis dahin dauert es noch ein halbes Jahr“, drängte Deseo. „So lange möchte ich nicht warten.“
„Du bist auf persönlichem Wachstumskurs“, schmeichelte ihm Alvin. „Wenn wir auf unserem Weg sind, kann es vorkommen, dass alte Gefährten die Richtung hinterfragen und andere Wege vorschlagen. Das kann und darf aber kein Grund dafür sein, stehen zu bleiben. Du kannst sagen: ‚Komm Leon, das ist der Weg, der uns beide voranbringt. Er sorgt für den wahren Reichtum der Zufriedenheit, aber auch für finanziellen Erfolg, Unabhängigkeit und geschäftliche Expansion.’ Bring ihn zu unseren Kursen mit, damit er verstehen lernt. Aber beachte: Zwingen kannst du ihn nicht. Wenn einer den Weg nicht mitgehen will, ist das seine Angelegenheit. Dann ist es Zeit, sich zu verabschieden.“
„In diesem Falle müsste man eine Regelung für die Rücklagen finden“, sinnierte Deseo.
Die beiden blieben stumm. Deseo war zufrieden. Nach einem kurzen Epilog beendeten sie das Gespräch und verabschiedeten sich. Behände lenkte Deseo seine Schritte zurück ins Schanzenviertel und betrat eines der hippen Cafés auf dem oberen Teil des Schulterblattes gegenüber der Roten Flora.
Er wollte das Beratungsgespräch in Ruhe Revue passieren lassen, bevor er in sein Büro am Flughafen fuhr. Die beiden sahen die Dinge so klar. Man konnte sich keine besseren Berater wünschen. Sie waren keine von der Sorte, die nur ökonomische Lehrsätze nachplappern, in der Hoffnung, dass diese sich als richtig erweisen und die Welt sich nicht anders darstellen würde, als in ihren Theorien unterstellt. Leons Zögerlichkeit war ein Hindernis auf dem Weg nach oben. Man müsste ihn zu seinem Glück zwingen, dachte Deseo.
„Du darfst dich nicht behindern lassen.“ Dieser Satz fuhr Runde um Runde in seinem Gehirn wie auf einer Rennbahn. Für diese Erkenntnis war er dankbar. Er würde auch in Zukunft gerne sein Geld für die Sugarcanes ausgeben, der Benefit war einfach genial.
Er bestellte einen Latte macchiato und unterhielt sich mit dem Wirt, der ein Nachbar von ihm war. Sie sprachen über die Börse, denn der Wirt suchte stets nach Supergeheimtipps und vermutete, dass Deseo als Manager einiges davon verstand.
„Weißt du, John, Börse ist ein Glücksspiel. Sie ist das Knochengerüst des Kapitalismus“, sagte Deseo.
„Aber man kann damit viel Geld verdienen“, erwiderte der Wirt.
„Und verlieren“, gab Deseo zu bedenken.
„Vielleicht kannst du ja mal ein paar Kneipen zusammenfassen und den Laden als Gastro-AG im Schanzenviertel an die Börse bringen. Dann machst du wirklich Geld.“
John lachte: „Da brauche ich aber einen neuen Geschäftsführer“, und zeigte auf sich. „Meiner ist zu oft Gast ihn meinen Bars. Dem wäre das zu stressig.“
„Deshalb sitzt du ja auch hier und nicht in einem x-beliebigen Office mit künstlichem Licht in der Innenstadt. Alles hat seine Vorteile.“
„Aber dann müsste ich nicht mehr auf meine Kellnerinnen, Kellner und den Steuerberater achten, damit der Laden hier rund läuft. Dann könnte ich mich irgendwann zur Ruhe setzen und nur noch eine Strandbar in Andalusien betreiben.“
„Du bist der Schmied deines Glücks“, sagte Deseo. „Was dir im Weg ist, musst du beiseite schaffen.“
Er zahlte, ging zu seinem Auto und fuhr ins Büro.