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Meetings – und getroffen werden

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Leon nahm den Fahrstuhl bis ins Untergeschoss. Die Tür zu dem Tagungsraum stand offen. Paul Lichtmann und drei weitere Männer saßen um einen von einem gestärkten weißen Textil bedeckten Tisch. Die Business-Crew steckte in Anzug und Krawatte und hieß ihn willkommen.

Während ihres zweistündigen Treffens offenbarten die Männer ihre Visionen einer Welt, in der die Sonne für alle Energiefragen zuständig wäre, für den Betrieb von Glühbirnen, Toastern, Computern, Fernsehern und allen noch ausstehenden Erfindungen, die Strom brauchen, um zum Leben erweckt zu werden. Und das alles, ohne die Erde zu einer Sauna zu machen. Leon verstand nun besser, warum Lichtmann sein Wirken auf solche Bereiche der Wirtschaft beschränkt hatte, die neben dem Lebensunterhalt auch die Lebensgrundlagen sicherten.

„Täuschen Sie sich nicht“, sagte er ihm während einer Sitzungspause. „Nur weil jemand Geld mit Solarenergie verdient, ist er noch lange kein besserer Mensch. Es gibt auch in diesen Kreisen überflüssige Wichtigtuer, die nur ihr Ego befriedigen wollen, oder Betrüger, die auf einen Zug aufspringen.“

Fasziniert von den Möglichkeiten des solaren Kraftprotzes, fing Leon auch für sein Metier Feuer und erzählte den wissbegierigen Managern von den neusten Entwicklungen der Computerwelt. Ihnen wurde klar, dass die Datenorganisation mit dem rasanten Wachstum ihrer Firmen in keiner Weise hatte Schritt halten können. Sie waren Ökonomen genug, um festzustellen, wie wichtig Investitionen in eine neue Datenwelt wären. Die Geschäftsleute wollten allesamt ein individuelles Beratungsgespräch mit Leon buchen.

„So ein Erfolg muss gefeiert werden“, schlug Paul Lichtmann am Ende der Sitzung vor. „Begleiten Sie uns doch heute Abend auf eine Feier, die zu Ehren aller Solarfans in Barcelona gegeben wird.“

Leon war in guter Stimmung. Die Gefühle der Enttäuschung und Frustration, die ihn bei seiner Ankunft befallen hatten, waren verglüht. Gerne wollte er dabei sein. „Wann geht es denn los?“, wollte er wissen. „Ich habe heute Nachmittag noch ein Treffen mit anderen neuen Geschäftspartnern“, sagte er stolz.

„Gegen acht Uhr“, antwortete Lichtmann und fügte hinzu: „Schön, dass sich die Irritationen um Ihren Job aufgelöst haben.“

Leon lächelte. Es war wirklich erstaunlich, wie sich alles entwickelte. Er konnte sogar Kunden überzeugen. Das war doch per Aufteilung Deseos Job.

Nachdem sich alle verabschiedet hatten, kehrte Leon auf sein Zimmer zurück. Endlich bekam er Frau Schilling an die Strippe, die Organisatorin ihrer Firma in Hamburg. Sie war erstaunt zu hören, dass sich Leon in Barcelona aufhielt.

„Hat denn Herr Ferrer nichts hinterlassen?“, wollte Leon wissen.

„Ich weiß von nichts. Auch im Terminplan gibt es keine Eintragung. Wahrscheinlich wird Herr Ferrer Ihre Nachricht über Fernabfrage empfangen haben.“

„Hat Deseo Ihnen etwas über einen Kunden in Barcelona erzählt?“, hakte Leon nach.

„Vor einigen Tagen rief in der Tat jemand aus Barcelona für Herrn Ferrer an. Den Inhalt des Gespräches kenne ich aber nicht“, sagte sie in ihrem gewohnt sachlichen Ton.

„Welche Termine hat Deseo heute? Ich versuche ihn den ganzen Tag über zu erreichen.“

„Er hat Besprechungen bei Kunden in Dresden und Leipzig und dabei wie immer sein Handy ausgeschaltet.“

„Nun denn, ich bleibe über Nacht. Wenn er anruft, sagen Sie ihm, er möchte sich umgehend bei mir melden. Und wenn Sie sonst eine Neuigkeit erhalten, halten Sie mich auf dem Laufenden.“

Frau Schilling kümmerte sich um die Korrespondenz, Termine, Rechnungen etc. Leon schätzte ihre Zuverlässigkeit. Sie war stets korrekt und konnte wenn es sein musste rücksichtslos hanseatisch sein. Das hieß weltmännisch wirken, bretthart verhandeln und Emotionen außen vor lassen. Wenn die Chefs nicht da waren, führte sie mit ihren fünfundfünfzig Jahren widerspruchslos das Regiment über die weiteren Mitarbeiter und den Studenten, der an zwei Tagen kam.

Die Zeit für sein zweites Meeting war gekommen. Er faltete den Stadtplan auseinander und fand die Calle Villaroel einige Blocks von seinem Hotel entfernt. Er hatte noch fünfzehn Minuten und beschloss, sich zu Fuß auf den Weg zu machen.

Das Viertel, durch das er ging, hieß Eixample und war wie ein Schachbrett von parallel gezogenen Straßen und gleichmäßigen Blocks geprägt. Die eine Hälfte der Verkehrsadern verband den Norden der Stadt mit dem historischen Zentrum, die andere Hälfte den Westen mit dem Osten der Metropole. Durch diese rechtwinklige Konstruktion der Wege entstanden Hunderte quadratischer und gleich großer Straßenblocks. Das erleichterte die Orientierung ungemein, im Übrigen auch für die Autofahrer, wie Leon fand. Denn die Straßen waren allesamt als Einbahnstraßen in abwechselnden Richtungen organisiert. Zu den Hauptwegen in diesem quadratischen Straßenleben zählte die Calle Aragon, in der der Verkehr auf fünf Spuren in die gleiche Richtung strömte und die Leon für seinen Fußmarsch in Calle Villaroel ausgewählt hatte. Die Aragon war sehr laut, viel lauter als eine vergleichbare Straße in Hamburg, fand er. Vielleicht lag es daran, dass sich der Lärm des tosenden Autoverkehrs an den Wänden der Häuserschluchten brach und sich die krachenden Schallwellen überlagerten und verstärkten. Nach ein paar Häuserblocks stand er an einer Kreuzung mit der Straße, in der sich das Café befinden musste. Nun brauchte er ihr nur noch bis zur Einmündung der Calle Mallorca hinauf zu folgen. Oben angekommen entdeckte er das Lokal an einer Ecke.

Über dem Eingang war der Namenszug „Logroño“ mit roter Farbe auf ein großes Schild gemalt. Milchiges Glas schützte das Innere vor neugierigen Blicken. Leon überquerte die Kreuzung und betrat das Lokal. Im schummrigen Licht, an das sich seine Augen erst gewöhnen mussten, sah er den langen Tresen, der wie der Rest des Ladens aus dunklem schwerem Holz bestand. An der Rückwand der Bar hing ein großer, halb blinder Spiegel, der den Raum doppelt so groß wirken ließ. Leon sah darin unscharf einen Mann mit Krawatte und seinen Gesichtszügen das Lokal betreten.

Er ließ mit gespielter Souveränität den Blick kreisen, begegnete den Augenpaaren einiger weniger Gäste, denen er nach kurzem Kontakt auswich. Es war wie am Flughafen, keiner schien ihn zu erwarten. Das einfache Lokal war kaum besucht. Ohnehin sah es nicht aus wie ein Treffpunkt von Geschäftsleuten, sondern eher wie einer von Arbeitslosen aus der Nachbarschaft. Einen Anzug trug hier niemand, dafür standen bei allen Gästen ein Bier und ein Aschenbecher auf dem Tisch. Einer der Gäste holte ungeniert einen großen Popel aus der Nase und betrachtete ihn, sein Kollege kratzte sich gedankenverloren im Schritt. Leon setzte sich an die Theke. Der Wirt sagte nichts, sondern hob nur die Augenbrauen zum Zeichen seiner Bereitschaft, die Bestellung aufzunehmen. Hinter der Vitrine standen ein paar Teller, auf denen Kartoffeltortilla, Champignons und grüner Salat mit Mayonnaise angeboten wurden. Leon hatte sich seine Begegnung mit den Tapas irgendwie attraktiver vorgestellt. Missmutig betrachtete er das nur mäßig appetitliche Angebot. Er bestellte ein Stück Tortilla und ein Glas Wasser.

Die Hälfte der sechs Tische war mit je zwei Gästen besetzt, die ihm keine Beachtung mehr schenkten und ihre Gespräche lautstark fortsetzten. An der langen Theke, wo für mindestens für zehn Personen Platz war, saß außer Leon nur noch ein weiterer Gast, der sich ebenso wenig für ihn interessierte. Es war schon nach halb fünf, weshalb er den Wirt, als er die erwärmte Tortilla über die Vitrine reichte, fragte, ob jemand auf ihn warte. Er sei Deutscher und ein hiesiger Geschäftspartner habe ihn in dieses Lokal bestellt. Vielleicht habe er ja ihn, den Wirt, angerufen und eine Verspätung angekündigt. Abermals zog der Wirt seine Augenbrauen hoch und fragte ihn, wen er suche. So ganz verstanden hatte er ihn offenbar nicht. Leon sagte, er wisse nicht wen. Der Wirt antwortete, er auch nicht, und setzte ein schiefes Grinsen auf. Dabei ließ es Leon bewenden und aß seine Tortilla, die immerhin besser schmeckte, als sie aussah.

Da spürte Leon einen Luftzug, blickte zur Tür, die sich öffnete, sah und hörte durch den Türspalt die Autos vorbeiwischen. Aus dem Türschatten traten zwei Männer ein. Sie trugen dunkle Jacketts und Baumwollhosen.

Sie wechselten ein paar Worte mit dem Wirt und kamen dann zielstrebig auf Leon zu.

„Guten Tag, Herr Steiner“, sagten sie in gebrochenem Englisch. „Folgen Sie uns bitte an einen Tisch.“

Leon bemerkte die buschigen Brauen, die die dunklen Augen desjenigen, der gesprochen hatte, beschatteten. In der fahlen Beleuchtung der schwachen Glühbirnen, die hinter vergilbten Lampenschirmen brannten, schätzte Leon die Männer auf Mitte dreißig. Der Typ mit den haarigen Augenbrauen hatte einen schiefen Mund und eine Narbe über dem frisch rasierten Kinn. Die Oberlippe zierte ein dünnes Bärtchen. Der andere trug eine silberne Metallbrille, durch deren geschliffene Gläser ihn große und ausdruckslose Augen ansahen. Das Haar war schüttern. Anders als der Sprecher war er unrasiert, sein Jackett hatte Flecken, das Hemd war ungebügelt.

„Man hat Sie uns empfohlen“, sagte er. „Sie kennen sich doch mit Computern aus.“

Leons Gehirn durchzuckten Gedanken: Empfohlen? Auskennen? Wen hat Deseo denn da aufgegabelt? „Worum geht es denn?“ Leon gab sich Mühe, so zu klingen, als habe er alles im Griff.

„Trinken Sie ein Bier mit uns oder lieber einen Wein?“, fragte der Buschbrauenmann. Leon zierte sich. Er trank nicht gern, und schon gar nicht am Nachmittag.

„Nein, danke. Ich möchte lieber ein Wasser.“

Sein Partner nickte und rief dem Wirt die Bestellungen zu. Der Mann mit der Brille zündete sich eine Zigarette an und stand wortlos auf. Er verschwand in einem Gang, der zum WC führte.

„Wir haben hier in der Nähe eine kleine Firma und schon länger Probleme mit E-Mails, Internet und einigen Programmen auf unserem Server. Das müsste mal in Ordnung gebracht werden.“

„Das will ich gern versuchen. Haben Sie denn die geschäftlichen Einzelheiten mit meinem Partner schon geklärt?“

„Das müssen Sie doch wissen. Wir kümmern uns darum nicht.“

Leon fand die Antwort merkwürdig. Wer denn dann, dachte er sich. „Wer ist denn dafür zuständig?“

„Na, Luis, unser Chef, wer denn sonst?“

Leon wurde rot und log: „Natürlich.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte der Mann mit der Narbe. „Machen Sie einfach nur Ihre Arbeit. Unsere Firma zahlt gut.“

Er grinste ihn an, und in seinen fast schwarzen Augen spiegelte sich das Licht einer Glaslampe, die hinter ihnen an der Wand hing.

Der Wirt brachte zwei Bier und ein Wasser. Der Mann mit der Brille kehrte an den Tisch zurück.

„Wollen Sie sich unser Problem anschauen?“, fragte er.

Leon nickte.

„Am besten gehen wir gleich“, empfahl der Brillenmann und kippte das Bier hinunter. Sein Kollege tat es ihm nach, nur Leon ließ sein halbes Glas stehen.

Unverändert dröhnte der Verkehr. Die Männer gaben ihm Zeichen, ihnen zu folgen. Wortlos erreichten sie den nächsten Häuserblock, bogen nach rechts ab und an der nächsten Einmündung nach links. Leon stellte fest, dass die Straßenschilder, anders als er es kannte, nicht an Metallstangen auf den Gehwegen, sondern an den Fassaden der Eckhäuser etwa auf Höhe des ersten Stocks befestigt waren. Während sie abbogen, suchte er die Tafel und las den Namen Casanova.

Sie blieben vor einem Gebäude stehen, dessen Eingangsportal aus zwei mit Holzrahmen eingefassten alten Türen bestand. Nirgendwo gab es Firmenschilder oder Hinweise auf Geschäfte. Auf dem Klingelbrett waren nur die Ziffern für die einzelnen Stockwerke verzeichnet, keine Namen.

Das Haus besaß einen langen Flur und mosaikartige Bodenkacheln, die zum Teil zerbrochen und aufgeworfen waren. Einige der Briefkästen am Aufgang des Treppenhauses waren gewaltsam aufgehebelt worden. Darunter stand ein alter Eimer, aus dem sich graue Putzlappen zwängten. Sie folgten den Treppen drei Etagen aufwärts. Von jeder Geschossfläche zweigte nur je eine Wohnungstür ab. Eine Etage war mit Fahrrädern und Kinderwagen vollgestellt. Alles in allem war das ein Wohn- und kein Geschäftshaus, stellte Leon fest, der sich mehr und mehr unwohl fühlte, nachdem die beiden Männer auf dem Weg kein Wort mit ihm gewechselt hatten.

Als der Mann mit den buschigen Brauen die Eingangstür aufschloss, durchdrang Leon nur mit Mühe das Halbdunkel des sich öffnenden Flurs. Als die Männer das Licht anschalteten, glaubte Leon in einer Studentenbude gelandet zu sein. Links und rechts verdeckten schmale vollgestopfte Bücherregale die Wände. Am Boden lagen Schuhe und Plunder wahllos herum. Sie folgten dem Flur in Richtung einer Doppeltür, die überwiegend aus bunten und lichtdurchlässigen Glasstücken bestand, die sich zu gleichmäßigen geometrischen Figuren formten. Die Männer betraten die Küche, die vor den kunstvollen Türen links abzweigte. Das einzige Fenster führte zu einem Schacht hinaus, der nur wenig Tageslicht eindringen ließ. Der Mann mit den Brauen schaltete das Deckenlicht an und forderte Leon auf sich zu setzen. Er drückte ihm ein Glas in die Hand und forderte ihn auf zu warten. Leon blieb allein zurück mit dem anschwellenden Summen des Kühlschranks. Er wandte sich dem Schacht zu und blickte hinab. Er hörte eine Frau und einen Mann heftig streiten. Porzellan zerbrach und ein Baby schrie. Parallel sog er den Duft frisch gebratenen Fleischs ein. Er dachte an Jeanette, die jetzt wohl bei ihren Eltern war, die Vorbereitungen für das Abendbrot trafen. Der Rest des Streuselkuchens würde traurig neben dem Herd stehen. Vielleicht gab es Kartoffeln.

„Gefällt es Ihnen bei uns?“, schreckte ihn eine Stimme auf. Es war der Mann mit der Brille.

„Entschuldigen Sie, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Mein Name ist Mario Gonzales, hier ist meine Karte.“

Leon las sie. Es stand nicht mehr darauf als sein Name und eine Adresse in der Calle Casanova, offenbar die, wo sie sich gerade befanden. Nun kam auch der Zweite zurück, der sich als Pablo Ciego vorstellte.

„Unsere kleine Firma ist auf Kataloge spezialisiert, die wir zunehmend im Internet anbieten. Aber unsere Rechner spielen ständig verrückt. Deshalb haben wir Sie bestellt.“

Sie verließen die enge Küche, stießen die Doppeltür auf und begaben sich in einen großen Raum am Ende des Flures. Gegenüber der Eingangstür führte ein Balkon ins Freie. Leon sah den dunkelblauen Himmel über den Dächern der Nachbarhäuser, in denen die meisten Fenster beleuchtet waren, dann wurde seine Aufmerksamkeit auf die Schreibtische gelenkt. Leon setzte sich an einen der Rechner, und der Mann, der sich Ciego nannte, zeigte ihm, dass alle möglichen Anwendungen eine enorme Zeit brauchten, bis sie geladen waren und man sie ausführen konnte.

Das ganze Equipment war schon mehrere Jahre alt und damit ein Dinosaurier in der sich rapide ändernden digitalen Datenwelt. Er bemerkte schnell, dass die Geräte verseucht waren mit irgendwelchem Datenmüll aus dem Internet, der sich auf die Speicher wie Klebstoff gelegt hatte.

„Ich muss hier säubern“, sagte er. „Das wird dauern.“

„Macht nichts. Fangen Sie an.“ Leon machte seine Arbeit wie immer, löschte, bereinigte, spielte neu auf, programmierte und prüfte. Gonzalez und Ciego hielten sich im Hintergrund. Nachdem er eine knappe Stunde in den Tiefen des Rechners unterwegs war, entdeckte er eine Datei, die sein Interesse weckte. Normalerweise ignorierte Leon die Inhalte, die auf den Rechnern der Kunden lagen. Doch diesmal zuckte es in ihm.

Es war der Name, der seine Aufmerksamkeit erregte: Leon.Logroño.xl. Das schien ihm kein Zufall zu sein. Denn der Titel setzte sich aus seinem und dem Namen des Lokals zusammen, in dem er seine Kunden getroffen hatte.

Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Datei etwas mit ihm zu tun hatte. Es drängte ihn so sehr, dass er sie entgegen seiner sonstigen professionellen Gewohnheit öffnete. Auf dem Bildschirm erschien ein Tabellendokument, das Zahlen und einzelne Worte kombinierte. Bei den Zahlen handelte es sich um Geldbeträge ab 1.000 Euro aufwärts.

Er überflog die Worte, entdeckte tatsächlich seinen Namen und begann zu schwitzen. Es war ihm, als könnte man seinen Schweißausbruch hören, ähnlich dem Geräusch einer soeben aufgedrehten Dusche. Obwohl er versucht war, sich umzublicken, tat er es nicht, aus Sorge, damit die beiden misstrauisch zu machen.

Als er die übrigen Namen genauer unter die Lupe nahm, entdeckte er, dass es sich bei manchen um spanische Ortschaften und Städte handelte, andere kannte er nicht. Als er den Zeiger der Maus auf die jeweiligen Kästchen führte, blendeten sich zusätzlich Begriffe wie „Deportivo“ oder „Atletico“ ein, die er aus der spanischen Vereinssportwelt kannte.

Er überlegte. Was hatte sein Name hier zu suchen? Plötzlich fiel es ihm ein. Im Nordwesten Spaniens gab es eine Stadt, die seinen Namen trug, möglicherweise bezeichnete Leon Logroño also eine Spielpaarung, denn auch Logroño war eine spanische Stadt.

Das erklärte auch die Geldbeträge. Denn Leon war sich mit einem Mal sicher, dass er auf eine Art von Wettsystem gestoßen war. Da er einmal dabei war, öffnete er auch noch eine zweite Tabelle, die ausnahmslos Euro-Beträge enthielt. Er wollte sie gerade schließen, da entdeckte er einen Verweis auf eine externe Grafikdatei.

Er war jetzt wie unter Strom, konnte die Begierde des Voyeurs im fremden Rechner nicht mehr zügeln und klickte den Link an. Der Bildschirm wurde schwarz. Das Ding rechnete und rechnete, mit jeder Sekunde, die der Computer länger brauchte, beschleunigte sich seine Herzfrequenz. Er spürte instinktiv, wie jemand in seinem Rücken auf ihn zukam. Da füllte sich der Bildschirm mit den Abbildungen von Maschinengewehren und anderen Waffen. Blitzschnell registrierte er, dass es sich offenbar um einen Katalog handelte. Als er die Datei schloss, stand einer der beiden Männer schon neben ihm. Leon sah hoch. Er wusste nicht, ob er bemerkt hatte, was Leon sich da gerade angesehen hatte.

„Sind Sie fertig?“, fragte er ihn nüchtern.

„So weit ja, ich habe Ihre Daten aufgeräumt und Neuinstallationen durchgeführt. Ich würde Ihnen raten, Ihr Betriebssystem zu aktualisieren oder auszutauschen. Dann werden Ihre Programme besser arbeiten.“

„Danke, für heute reicht es“, antwortete Ciego. „Kommen Sie morgen wieder! Wir brauchen eine umfassende Beratung zu Neuanschaffungen.“

Das ließ Leon wieder professionell werden. „Da gibt es eine Menge, was Sie tun müssen und was ich Ihnen empfehlen kann.“

Er machte eine kurze Pause, in der er über die Kosten sinnierte. „Sind die finanziellen Details alle geklärt?“, fragte er zögernd.

„Natürlich. Wissen Sie doch“, sagte sein Neukunde und überreichte ihm einen Barscheck, der auf die Deutsche Bank lautete und über 1.000 Euro ausgestellt war. „Das spart Gebühren“, sagte er mit einem merkwürdigen Lächeln.

Und als Leon fragte, ob sie eine Rechnung wollten, bekam er zur Antwort, dass das nicht nötig wäre.

Leon verließ die Wohnung, und als er wieder auf der Straße stand, fühlte er sich leer und ausgesaugt. Die Autos brausten vorbei, die fremden Kennzeichen verstärkten das Gefühl der Verlorenheit. Es wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Was hatte es mit dem Waffenkatalog auf sich? Und warum diese Tabelle mit den Fußballspielen? Ließ sich ihre Firma wohlmöglich auf Wettspiele ein?

Wie ferngesteuert begab er sich zur nächsten Straßenecke. Seine Gedanken rotierten in einer Endlosschleife. Was machte er hier? Er war dafür nicht geeignet. Ich will nach Hause zu Mami. Unbewusst machte er einen Schritt nach vorne und stellte sich einem Mann in den Weg, der gerade im Begriff war, die Straße zu überqueren. Er stoppte jäh ab und sah Leon brüsk an. Doch dann entspannte sich das Gesicht des Mannes im hellgrauen Anzug. Er fragte etwas in einer Sprache, die er nicht verstand. Leon sah durch ihn durch, sein Gehirn schüttete chemische Substanzen aus, die ihm das Gefühl von Minderwertigkeit vermittelten.

Der Mann gab nicht auf: „Everything all right with you?“, fragte er mit rollendem Akzent.

Das spülte Leon wieder an die Oberfläche. Er lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, ich war gerade abwesend. Ein besonderer Tag heute.“

„Aber ein schöner, oder?“ Der Mann zeigte die Straße hinunter, die den Blick nach Westen freigab. Die Sonne war untergegangen und hatte die Schleierwolken am Horizont in orangerote Farbe getaucht. Mittendrin verlor sich ein violetter Streifen wie mit dem Pinsel gewischt. Die alten Häuser und Straßenlaternen, die Autos und die abfallende Straße waren in ein warmes Dämmerlicht getaucht.

Leon nahm es wahr: „Oh ja, ein schöner Abend.“

„Wissen Sie, wo Sie sind?“, fragte der Mann etwas ungläubig.

„Ja, in Barcelona. Das Viertel heißt …“

„Eixample“, ergänzte er lächelnd, klopfte ihm auf die Schulter und setzte seinen Weg fort.

Leon sah ihm nach, wie er sich in Richtung der untergegangenen Sonne im Passantengewimmel verlor. Aus dem Gemälde kamen schwarz-gelbe Taxen mit grün leuchtenden Droschkenschilden herangefahren, die anzeigten, dass sie für Fahrgäste bereit waren. Er hielt eines an und ließ sich zu seinem Hotel fahren.

Auf seinem Zimmer rief er im heimischen Office an. Frau Schilling war noch vor Ort.

„Ich habe nur kurz mit Herrn Ferrer sprechen können. Er war den ganzen Tag in Meetings. Er schien erstaunt, dass Sie in Barcelona sind.“

„Wie? Erstaunt?“, fragte Leon müde. „Was hat er gesagt?“

„Eigentlich nichts. Nur, wenn es dem Geschäft diene, solle es ihm recht sein“, gab sie zur Antwort.

„Was soll das, Frau Schilling? Er hat mich doch hierhin geschickt“, sagte er ärgerlich.

„Aber haben Sie denn keinen Kundenkontakt?“, fragte sie unbefangen nach.

Leon, mit Verzögerung: „Doch, ich habe einige Gespräche führen können.“

Die Frau verstand seine Aufregung nicht. „Na, sehen Sie. Dann ist doch alles in Ordnung.“

Leon gab es auf. Vielleicht hatte sie recht und es war wirklich alles O.K.

„Wann kommen Sie denn wieder?“, wollte sie wissen.

„Ach, gut, dass Sie mich daran erinnern. Ich habe noch gar keinen Rückflug. Bitte kümmern Sie sich darum.“

Leon machte eine Pause, um Frau Schilling Gelegenheit zu geben zu antworten. Doch am anderen Ende der Leitung war es still geworden.

Leon fragte: „Frau Schilling“ – keine Antwort. Und wieder: „Frau Schilling?“

Die Leitung war tot, und als er wieder anrief, war besetzt. Er warf das Handy auf sein Bett.

„Scheißgerät“, fluchte er.

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