Читать книгу Orest im deutschen Herbst - Oliver Stapel - Страница 10
Оглавление7 Leere
Ich saß in meinem Zimmer und sah ins Leere, etwas, das ich besser konnte als jeder andere, sie nannte es „Gammeln“ wenn sie mich dabei erwischte, „Bist du wieder am Gammeln?“ würde sie fragen, wenn sie ohne Anzuklopfen ins Zimmer kam und sah, wie ich auf der Couch vor mich hinstierte, sie setzte ein süßliches Lächeln auf, als ob sie amüsiert wäre oder haushoch über solchen Trivialitäten stünde, es war nicht nur verlogen, es war auch völlig unpassend, ich hätte sie gerne geschlagen, aber das ging nicht, es wäre ihre Absolution gewesen, ihre finale Selbstbestätigung, sie hätte sich nicht gewehrt, diesen Triumph vergönnte ich ihr nicht, aber der Hass war da. Manchmal schlug ich sie vor meinem inneren Auge, aber immer richtete sie sich unbeschadet zu voller Größe auf, setzte ein Gesicht auf, das die Bereitschaft ausdrückte, alles Leid dieser Welt und insbesondere das eigene auf sich zu nehmen und dann ging sie hoch erhobenen Hauptes weg, während ich zurückblieb, ein Verworfener, ein Peiniger, ein Schuldiger, ich fühlte, wie es mir den Atem zuschnürte, Schuld, das war die Währung, in der sie bezahlte, das war das, was zurückblieb, wenn sie das Zimmer verließ, ihre Kreativität kannte keine Grenzen, um das, was ich tat oder nicht tat so zu interpretieren, dass ein Urteil gefällt werden mußte, es war immer das gleiche Urteil, schuldig, aber sie war nicht dumm, sie würde das Urteil nicht aussprechen, denn das würde ja einen Einspruch ermöglichen, sie würde mich das Urteil kosten lassen, durch das sich in ihrer Miene spiegelnde Leid, durch Seufzen, durch indirektes Adressieren, durch rhetorische Fragen oder auch nur, indem sie reglos auf ihrem Bett lag, eine Verzweifelte, Unverstandene, eine, die blass zu denken wagte, während wir sonnengebräunten Jubelfritzen immer noch dem Leben etwas abgewinnen konnten, aber auch das würde sie mir austreiben.
Mein Blick schweifte zu dem Beistelltisch, den ich auf dem Sperrmüll gefunden hatte, aus Eschenholz, mit einer Schublade, in der ich meinen Tabak und Streichhölzer aufbewahrte, es war ein schöner Tisch, er gab meinem Zimmer etwas Individuelles, ich war sehr stolz auf diesen Tisch, ich hatte ihn vor einigen Tagen gefunden, als ich vom OhrSturm nach Hause ging und aus der Macht der Gewohnheit heraus die Bahngleise überquerte und über den Treppenweg in die Maxburgstraße ging. Es war ein frischer Oktoberabend und ich hatte während des Treppensteigens eine Rede gehalten, voller Lebensweisheit und tiefer Einsicht, es ging um die Wahrheit, die wir nur in uns finden können, ich war selbst erstaunt, was ich in solchen Momenten zu erträumen imstande war, das Publikum lauschte und schließlich der befreiende Applaus, Menschen strömten ans Podium, um mir die Hand zu schütteln, ich war trunken vor Glück, mehrmals täglich fixte ich mir auf diese Weise ein High, von dem andere Junkies nur träumen konnten, nur dass ich es nicht zu bezahlen brauchte, wenn man davon absieht, dass ich Hand in Hand mit den Tagträumen, in denen ich bis an die Grenzen menschlicher Potentialausschöpfung gelangte, mein Leben ganz konkret an die Wand fuhr, und so war es auch an jenem späten Abend, als ich vom OhrSturm nach Hause ging und aus der Macht der Gewohnheit heraus die Bahngleise überquerte. Ich hielt im Geiste eine Rede, wie wunderbar, noch heute begreife ich nicht, was mich so sehr daran faszinierte, Reden zu schwingen, bis dann mein Blick auf irgendetwas fiel, das mich zurück in die Realität warf, vielleicht war es ein Hundehaufen oder ein vor Monaten abgestelltes und inzwischen schon halb verrostetes Fahrrad, vielleicht auch der Obdachlose, der in einem Schlafsack am Wegesrand lag, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls erinnerte ich mich wieder, dass ich gerade mit vier Bier intus eine Treppe hochlief, meine Zigarette bereits an den Fingerspitzen wehtat, wenn ich daran zog, und dass ich bescheuerterweise in die völlig falsche Richtung gelaufen war, deine Eltern haben sich getrennt, wir erinnern uns, ja? Das Haus ist passé, du wohnst jetzt in der Stadt, Trottel, wohl total verblödet oder was, Erde an Wolkenkuckucksheim, HalloHallo, und im Bruchteil einer Sekunde knallte ich von dem erhabenen Gefühl, das mir mein Tagtraum beschert hatte, zurück in eine kalte, widrige und ekelhafte Wirklichkeit, ich beschimpfte mich, das gehörte dazu, ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich vor mich hinträumte, ich verachtete mich, weil ich zu dämlich war, nach Hause zu finden, ich schlug mir auf den rechten Oberschenkel und sah mich wieder im OhrSturm, wo ich mit den anderen am Tisch sitzend über irgendeine Bemerkung lachen mußte, mal abgesehen davon, dass ich der einzige war, der meinte, er müßte diese Bemerkung, ich glaube sie war von Socke, mit einem lauten Lachen quittieren, nein, ich hatte praktischerweise auch ignoriert, dass ich noch Bier im Mund hatte, Impulskontrolle war meine Stärke nicht, ich prustete das Bier lachend auf den Tisch, und dann diese plötzliche Stille, alle blickten schockiert auf mich. Natürlich war das eine absolute Verfehlung, ich schämte mich und ärgerte mich, dass ich einfach nichts vertrug, nach vier Bier ist doch kein Mensch besoffen, nur ich, nicht mal zum Alkoholiker würde ich es bringen, aber das wusste ich damals noch nicht, ich sah die Szene wieder vor meinen Augen und schlug mir vor Ärger und Wut wieder auf den Oberschenkel, die Szene spielte sich wieder vor meinen Augen ab, Scham und Wut erfüllten mich wieder, ein harter Schlag auf meinen Oberschenkel, noch bevor ich dreimal Luft holen konnte hatte ich mir bereits zehnmal aufs Bein gehauen, es brannte und tat richtig weh, ich ging humpelnd weiter, warum nicht schauen, ob schon jemand in unserem Haus wohnte, an der Ecke zur Waldstraße lagen Matratzen, alte Stühle und anderer Krimskrams, ich wäre eigentlich achtlos daran vorbeigelaufen, wenn mein Blick nicht auf den Beistelltisch gefallen wäre, ich blieb stehen und sah den Tisch an, ich ging darauf zu, klopfte auf die Platte, machte die Schublade auf, sie ließ sich leicht öffnen, sie war leer, ich schob sie wieder zu, ich untersuchte die Beine, eins war wackelig, aber der Tisch stand wie eine Eins, ich hob ihn versuchsweise hoch, er ließ sich tragen, ich fackelte nicht lange und begann, ihn nach Hause zu tragen, ich brauchte zwei Stunden, wie gut, dass ich das nicht vorher wußte, alle paar Meter mußte ich den Tisch absetzen und eine Pause machen, er wurde schwerer und schwerer, ich wunderte mich, wie das aussah, wenn einer mitten in der Nacht einen Tisch trägt, es war mir egal, irgendwann war ich in der Wohnung, die ich seit einigen Wochen mit meiner Mutter teilte, sie wartete bereits.
„Wo warst du?“ – „Im OhrSturm.“ – „Bis um ein Uhr nachts?“ – „Ja!“ – „Ich habe mir Sorgen gemacht.“ – „Tut mir leid.“ – „Was ist das?“ – „Ein Tisch.“ – „Das sehe ich, dass das ein Tisch ist. Willst du mich für dumm verkaufen? Woher hast du den?“ – „Hab ich auf dem Sperrmüll gefunden.“ – „Du kannst doch nicht einfach einen Tisch vom Sperrmüll nehmen!“ – „Du kannst ja die Polizei rufen.“ – „Das ist jetzt kein Grund, pampig zu werden!“ – „Lässt du mich bitte in mein Zimmer?“ Sie stand im Flur, ein alter Morgenrock über die Schultern geworfen und eine Taschenlampe in der Hand, die sie dramatischerweise statt der Flurbeleuchtung angeknipst hatte, ich konnte nicht in mein Zimmer, weil sie davorstand, ich knipste das Flurlicht an, sie knipste es aus und fauchte mich an, „Lässt du wohl das Licht aus! Schau mal auf die Uhr! Meinst du die Nachbarn müssten wissen, dass du mitten in der Nacht nach Hause kommst?“ – „Ist mir doch egal, lässt du mich jetzt bitte endlich in mein Zimmer,“ es wurde langsam unerträglich, so ein Theater wegen eines dummen Tisches, ich merkte, wie ich mir auf die Unterlippe biß und begann, Kanten abzufahren, vielleicht beruhigte es mich, aber ich fühlte deswegen keine Ruhe in mir, alles war so unerträglich, selbst dieser Beistelltisch, die Bastion meiner krampfhaft errichteten Individualität, war neben dem popeligen Schreibtisch nur ein weiterer Witz in der langen Kette von Scherzen, die eine höhere Macht, wenn sie denn persönlich war, auf meine Kosten machte, auf dem Boden lagen verschieden Kassetten neben dem Kassettenrecorder, den ich Socke abgekauft hatte, nachdem er seine Hifi-Anlage zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ich nahm eine der Kassetten in die Hand, es war Phallus Dei von Amon Düül II, eine musikalische Hinrichtung, die immer wieder den Nerv des Krautsalats in meinem Kopf traf, ich legte sie ein und spielte sie ab. Sie setzte irgendwo ein und das war gut so, es gibt Musikstücke, bei denen es sich nicht gehört, sie von Anfang an anzuhören, und dieses gehörte auf jeden Fall dazu, vielleicht war es auch der Vorreiter einer Musik, die Anfang und Ende negierte, ich fläzte mich in das Ledersofa und stellte mir Sabine vor, mit der ich morgen in der Pause knutschen würde, sie war in der Parallelklasse, eins dieser verspäteten Hippiemädels, die weich aussehen und sich weich anfühlen, die auch mal einen Joint rauchen, enge Jeans trug und die mir ein Kettchen geschenkt hatte, das ich nun selber trug, es war eine Träne aus Holz, oder war es ein Yin-Yang-Zeichen, egal, ich hatte es mir nur einmal kurz angeschaut, als sie es mir schenkte, ein bedeutungsvolles Zeichen der Verbundenheit, ich fingerte ein bißchen daran rum und wälzte mich zur Schublade meines Beistelltischchens, holte den Tabak raus und drehte mir eine Zigarette, die ich mir genüßlich ansteckte, aaahh, das Leben konnte so schön sein, ich sah dem Rauch hinterher, der sich in der Luft kräuselte und schließlich verschwand, die Musik begann, mir auf die Nerven zu gehen, ich kniete mich auf den Boden und begann, meine Kassetten durchzusehen, plötzlich hatte ich das Hausaufgabenheft in den Händen, wo kam das auf einmal her, ratlos blätterte ich darin, und in der Tat, ich hatte mir die Hausaufgaben notiert, Mathe S. 38 Übung 2-4, Deutsch „Der Hecht und der Hai“ Kurzinterpr. (loses Blatt, Name, abgeben), Engl. Vokabeln ? Test! Ich war mit einem Mal wach, das gibt’s doch nicht, dachte ich, hatten wir nicht den Text von dem Gedicht von unserem Deutschlehrer ausgehändigt bekommen, ich erinnerte mich dunkel an den Stoß Papiere, deren Geruch mich an Klassenarbeiten und Tests erinnerte, ich hatte mir ein Blatt genommen und den Stoß weitergereicht, nur wo hatte ich das Blatt dann hingetan, der Aktenkoffer schien die naheliegendste Antwort, ich versuchte, aufsteigende Hektik im Keim zu ersticken und öffnete gelangweilt die Messingschlösser, die mit einem Klacken aufgingen, ein Wust von Papieren, Heften und Büchern kam zum Vorschein, ich nahm verschiedene Blätter – da eine Hektografie des Texts eines mittelalterlichen Dokuments zur Kaiserwahl (wo kam das denn her, wir waren doch schon längst bei den Nazis?), hier Notizen, die ich auf losen Blättern gemacht hatte, weil ich das Heft für das zugehörige Fach vergessen hatte, der Rest meines Pausenbrotes, ich legte es auf meinen Schreibtisch, auf dem seinerseits zahllose Papiere ungeordnet verdammt dazu waren, irgendwann wegen der fehlenden Datumsangaben im Dunkel der Unauffindbarkeit zu verschwinden, schließlich hatte ich den Aktenkoffer durch, da war nichts, ich knipste die Lampe an, die seitlich am Schreibtisch klemmte und sah auf die Schreibtischplatte, da lag es direkt vor mir, ich hatte es mir nach der Schule auf den Schreibtisch gelegt, mit den besten Vorsätzen, so lief das jeden Tag, und jetzt hatte ich das Pausenbrot draufgelegt, einige Fettflecken hatten bereits einen Teil des Gedichts unleserlich gemacht, ich verbrannte mir einen Finger mit der Zigarette, wütend drückte ich sie aus und las das Gedicht, soweit es ging.
Ein Hecht regierte lange Z …
In einem Wasser weit und …
Und glaubte voller Stolz, nun sey er
Der Fürst und Herr im ganzen Weiher.
Was hindert mich denn …
Dass ich im weiten Ocean …
Nicht eben so gewaltsam …
Nicht eben so als Herr gebiete,
Wie hier? Er sagt’s und schwimmt
Hinab in’s große Wasserreich.
Doch wie erschrak er, da er nah’
Des Meeres Ungeheuer sah!
Ein Hai, der nicht sobald vernommen,
Weswegen er hieher geschwommen,
That seinen weiten Rachen auf,
Ergriff ihn und verschlang ihn d’rauf.
So trifft der kleinere Tyrann
Stets einen noch gewalt’gern an,
Der ihn, von Siegen schon umringt,
Mit seiner größern Macht verschlingt.
Ich suchte ein Blatt Papier, ich erinnerte mich wieder, morgen würde Herr Mürgesberger unsere Kurzinterpretationen einsammeln, also schrieb ich meinen Namen oben ins Eck, dann schrieb ich „Das Gedicht Der Hecht und der Hai ist von Justus Zachariae,“ ich las den Satz mit schnell wachsendem Grauen, so platt konnte ich doch nicht loslegen, also nochmal, ich strich den Satz durch und schrieb „In dem Gedicht Der Hecht und der Hai von Justus Zachariae geht es um die ewigen Themen Gerechtigkeit und Geltungssucht,“ ha! das war doch mal ein gelungener Anfang, das war gleich eine ganze Spur besser, ich fuhr fort, „Ein abenteuerlustiger Hecht, nachdem er jahrelang seine Umgebung gequält hatte, will noch höher hinaus und sucht sich nach neuen Ufern um,“ mein Kugelschreiber flog nur so übers Papier, ich war in eben jenem Aggregatzustand, den Csikszentmihalyi mit Flow beschreibt, mit einem Mal ging es mir wieder besser, ich brauchte den Text garnicht komplett lesen zu können, es war doch sowieso klar, um was es da ging, schließlich hatte ich eine Seite voll geschrieben. Der erste Satz prangte immer noch durchgestrichen an oberster Stelle, er würde, wenn Herr Mürgesberger ihn lesen würde, den ganzen Rest durch seine Erbärmlichkeit mit runter ziehen und ich hatte keine Lust, die ganze Interpretation auf ein neues Blatt zu schreiben, missmutig strich ich den Satz nochmal durch, und nochmal, bis der Satz kaum noch zu lesen war, das mußte reichen, schließlich waren da noch die Matheübungen und die Englischvokabeln, ich sah auf meinen Wecker, es war schon nach zwölf, ich gähnte und suchte das Mathebuch, zur Not konnte ich die Aufgaben auch in der ersten Stunde von Alf abschreiben, also waren noch die Englischvokabeln übrig, ich mußte aufs Klo, Vokabeln lernen gehörte zu den Dingen, die mich mit Zuverlässigkeit überforderten, spätestens nach drei vier Vokabeln dachte ich an alles, nur nicht an die Vokabeln, es war wie ein Auslöser für Tagträume, ich ging über den Flur ins Bad, die Schachtel mit den Tabletten stand auf dem Rand des Waschbeckens, Dolestan forte, 30 Stück, sie war fast leer.