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5 Evel Knievel

Ich war fixiert auf Quadrate, ihre Abfolge, ihre Position, mein Hineinpassen in die korrekte Abfolge, beim Zufußgehen achtete ich peinlichst darauf, dass sich immer genau zwei Pflastersteine zwischen dem schon aufliegenden und dem sich gerade aufsetzenden Fuß befanden, mein Blick war immer auf die Pflastersteine vor mir gesenkt, schon auf dem Weg zur Grundschule hatte ich bereits meine Füße immer genau auf die Pflastersteine plaziert, eines Tages hatte ich gemerkt, dass ich zwei Platten zwischen meinen Schritten lassen mußte, weil ich ansonsten viel zu kleine Schritte machte, nie habe ich mit Absicht auf die Fuge zwischen zwei Pflastersteinen getreten, Angst befiel mich, wenn meine Schuhe in einem Moment der Unaufmerksamkeit diese Grenze überschritten, erst Schuhgröße 44 würden mich von dieser Qual erlösen.

Oder ich würde auf der Toilette sitzen und meinen Blick die Linien entlangfahren lassen, die entstanden, wenn zwei Wände aufeinandertrafen, ich fuhr die Linie entlang bis an die Decke, bog in die Linie ein, die zwischen der Decke und der Wand vor mir entstand, weiter nach unten, wieder zurück zur Decke, ich durfte jede Linie nur zweimal, einmal hin und einmal zurück entlang fahren, mußte aber soviele Linien wie möglich abfahren, weiter nach links, wieder nach unten, würde ich es schaffen, auch die Linien zwischen Flur und Wand alle einzusammeln, tausende Male fuhr ich auf diese Weise die Linien in unserer Toilette ab, ich wurde schier verrückt dabei, manchmal hielt ich mir die Hand vor Augen, aber es half garnichts, ich fuhr die Linien sowieso fast nur vor meinem inneren Auge ab, erst wieder draußen konnte ich aufatmen, eine Verstopfung hätte mich das Leben gekostet, es war wie ein Reflex, der in dem Augenblick begann, in dem ich mir die Hosen runterließ, manchmal nahm ich mir die Göttin mit, aber dann hatte ich in kürzester Zeit einen Ständer, der mir keine Ruhe ließ, bis ich ihn weggemacht hatte, Kacheln waren mein Unglück, denn sie potenzierten die Anzahl der Linien, nur meine Unfähigkeit, mich längere Zeit zu konzentrieren half mir, und meine Angewohnheit, urplötzlich in einer anderen Situation zu sein, die sich vor meinem inneren Auge auftat, nicht selten ausgelöst durch ein flüchtig erhaschtes Bild, an das ich mich plötzlich erinnerte.

Ich ging den Blick auf die Pflastersteine vor mir gesenkt zum „Opa“, so nannten wir die Spielhalle, in der wir uns nachmittags ohne Verabredung trafen, in der Fußgängerzone standen zwei bärtige Männer und eine Frau, die Flugblätter verteilten, einer drückte mir ein Blatt in die Hand, es war eine Hektographie mit einer handgeschriebenen Überschrift „Jetzt endlich mal denken!“ und einer mit einer Schreibmaschine geschriebenen Liste von Fragen wie „Wessen Interessen vertreten die Politiker eigentlich? Deine oder die der Atom-Lobby?“ ich warf einen Blick auf die Liste, ganz unten war wieder handschriftlich eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung, ich knüllte das Blatt zusammen und warf es in einen Mülleimer, im Opa stand Socke bereits am Evel Knievel, wir sagten „Ihwel Kniewel“, oder auch nur „Ihwel“, Socke war hochgewachsen und fast schlaksig, superkurze schwarze Haare, Lederjacke, Röhrenjeans und Basketballturnschuhe, lässig haute er mit der rechten Innenhand an die Eckkante, ich wußte, dass die Kugel fast in der linken Auslaufbahn gelandet wäre, er arretierte die Kugel mit dem linken Flipperfinger, „Servus,“ sagte er ohne aufzublicken, dann ließ er sie langsam den Finger runterrollen, behutsam haute er mit der linken flachen Hand ganz kurz auf den Druckknopf für den linken Finger, die Kugel sollte nicht zu steil nach oben gehen, sonst würde sie durch die Rampe mit dem Spinner gehen, aber wenn man zu lange wartete, bis die Kugel schon fast das Endstück des Flipperfingers erreicht hatte, dann würde sie zu flach abgehen und an den dreieckigen Bumper kommen, von wo sie sonstwohin abprallten, wie an der Schnur gezogen lief die Kugel an die unterste Zielscheibe mit dem „E“ und an den seitlichen Auslaufbahnen leuchtete das „Special“ auf, Socke atmete erleichtert auf, wenn die Kugel jetzt in einer der beiden seitlichen Auslaufbahnen landete würde sie wenigstens ein Freispiel holen, er wiederholte alles mit dem rechten Flipperfinger und den fünf Zielscheiben auf der linken Seite, er versuchte immer, die Kugel zwischen zwei Zielscheiben zu schicken, sodass beide Scheiben gleichzeitig in der Versenkung verschwanden, was ihm auch mit den beiden obersten Scheiben gelang, aber dann rollte die Kugel nervtötend langsam in die Mitte und von da senkrecht zwischen beiden Flipperfingern hindurch ins Aus, „Was für ein Kalter,“ sage Socke und schoß den nächsten Ball ins Spiel, er hatte bereits über 100.000 Punkte, vielleicht würde es ja für ein Freispiel reichen, indem er über 132.000 Punkte kam, hinten an einer Rezeption, die aussah wie ein Tresen, saßen zwei Opas und rauchten, beide hatten ein Pils vor sich stehen und manchmal, wenn Socke die Maschine tillte würden sie zu uns herüber schauen aus ausdruckslosen Augen, in denen nicht einmal eine Erinnerung an ein gelebtes Leben zu finden war.

Die Spielhalle war ein von zwei riesigen Fenstern eingefasster Raum mit einer Nische diagonal zum Eingang, wo die Opas einen Kasten Bier lagerten und später auch einen kleinen Kühlschrank, vielleicht gab es auch ein kleines Pissoir, wo sie ihr Bier hinbrachten, sie saßen auf Barhockern und rauchten, die Arme auf dem Tresen gelehnt, manchmal lasen sie die BILD-Zeitung, aber wenn wir nachmittags kamen, lag sie meistens schon mehrmals gelesen und wieder zusammengefaltet in einer Ecke, es gab zwei Reihen mit Flippern, einige Geldspielautomaten, seit Kurzem auch „Space Invaders“ und keine Musik, abgesehen von den Geräuschen, die die Flipper und die Automaten von sich gaben, eine ganz merkwürdige Atmosphäre. Rauchschwaden hingen immer mal wieder über dem Tresen und wanderten in den Raum, Leute betraten die Spielhalle, wechselten einen Zehnmarkschein und stellten sich dann an einen Flipper, wir waren meistens zu dritt oder viert, wenn unser Spiel aus war, starrten wir gebannt auf die Anzeige, ob vielleicht eine unserer Endziffern mit der zweistelligen Zahl übereinstimmen würde, die der Zufallsgenerator ausspucken würde, dann gab es ein lautes Klack, wir jubelten und teilten uns das Freispiel, jeder einen Ball, wenn wir zu dritt waren, manchmal würde Socke auch alleine weiterspielen, wenn wir kein Geld oder keine Lust mehr hatten, ich ging an den Space Invaders oder sah Sockes Spiel zu, auf den dreieckigen Bumpern waren die Bilder zweier vollbusigen Schönheiten, einer brünetten und einer blonden, sie trugen beide ein weißes T-Shirt, in dessen Mitte sich die Zahl „1“ wie ein Steifer zwischen ihre prallen Brüste quetschte, sie erinnerten mich an die Brüste der Englischreferendarin, die einige Wochen bei uns unterrichtete und die auch solche Dinger hatte und dazu hautenge schwarze Rollkragenpullover trug und ganz klar keine BHs. Leider war ihr Gesicht ziemlich pickelig, aber Horst „Das Tier“ Gieselmann war so angetan von ihr, dass er sich während des Unterrichts einen runterholte und zum Beweis das Tempotaschentuch durch die Bänke gehen ließ, ein Schamhaar war auch dabei, „leider nicht von ihr,“ sagte er und seine roten Banken glänzten.

Wir hatten nur drei Mädels in der Klasse, die meisten Mädels gingen ins Kollwitz-Gymnasium, sie ekelten sich vor dem Tempo und weigerten sich, es weiterzureichen, die Stimmung war gut an diesem Tag, Alf und „Schlumpf“ waren inzwischen auch da, „Musst du heute nicht lernen?“ fragte ihn Socke und Schlumpf erwiderte brav, dass es später noch einen Arzttermin hätte, wir standen um den Flipper und sahen Socke zu, wie er lässig die Kugel durch den beleuchteten Spinner jagte, „Der geht ja gut ab,“ sagte Schlumpf, „Geht so,“ meinte Socke, und wie um zu beweisen, dass er nicht besonders an seinem Spiel interessiert war fragte er „Habt ihr schon gehört, dass beim Heinzelwitt eine Party steigt?“ – „Ne echt jetzt?“ fragte Alf, „Der Heinzelwitt schmeißt doch keine Party,“ bemerkte Schlumpf, „Vielleicht hat ihm der Simbert aufs Maul geschlagen,“ sinnierte Socke, er schoss die letzte Zielscheibe auf der linken Seite ab und bekam eine Freikugel, „He Socke, wir sind auch noch da, wollte ich nur mal bemerkt haben,“ kommentierte Alf die Freikugel, Socke grinste, „Ohne Fleiß kein Preis,“ sagte er und haute die Kugel wieder durch den anderen Spinner, „Ey Socke,“ sagte Schlumpf, „Du bist echt der Gott des Evel Knievels,“ – „Schanke döhn,“ sagte Socke amüsiert, „Reine Kursache,“ erwiderte Schlumpf, es war ihm völlig ernst mit seinem Kompliment.

„Wann steigt’n die Party?“, fragte ich in den Raum hinein, „Du bist doch garnicht eingeladen,“ frotzelte mich Socke, Schlumpf lachte gutmütig und Alf grinste breit, das Blut schoss mir in den Kopf, ich zuckte die Achseln und tat so, als wäre es mir egal, es war harte Arbeit, mich an solchen Unterhaltungen zu beteiligen, ich war zu schwerfällig, mußte mir jede Antwort überlegen, Sockes Extraball erwies sich als „Kalter“, der Schlumpf war dran und stand nervös vor dem Flipper, das vordere Bein leicht eingeknickt, das andere weit nach hinten, er fingerte an dem Kugelabschuß herum und entließ die Kugel mit voller Wucht ins obere Spielfeld, wo sie erst mal über den runden Bumpern hin- und herrollte, bis sie auf die Bumper traf und von den Bumpern immer wieder aufs Neue angestoßen wurden, zehnmal, zwanzigmal, Socke verdrehte schon die Augen, sonst tropften die Kugeln von den Bumpern ab wie von einem toten Baumstamm, der Schlumpf schoß die Kugel nach oben, sein ganzer Körper spielte mit, er gab alles, die Kugel wirbelte übers Spielfeld, sie rasierte drei Zielscheiben auf einmal ab, sie traf nur auf beleuchtete Bumper, beleuchtete das S-U-P-E-R komplett, es klackte für ein Freispiel und Schlumpf johlte, „Was für ein Gasmann,“ sagte Socke, die Opas blickten kurz auf, wir spielten fast eine Stunde, ich holte ein Freispiel über Endzahl, Schlumpf ging als erster, weil er zum Arzt mußte, ich ging wenig später, nachdem ich meine letzte Mark im Space Invaders verspielt hatte, „Tschüß Otto,“ sagte Socke, „komm gut heim,“ sagte er noch, ich würde nie auf den Gedanken kommen, dass er mich aus Sympathie gefoppt hatte.

Ich schauderte bei der Vorstellung, nach Hause zu müssen, „Danke, bis morgen,“ sagte ich schnell und begab mich wieder in die Haft der Pflastersteine, doch selbst wenn ich auf einem Boden lief, auf dem es keine Pflastersteine gab oder der mit Kopfstein gepflastert war, immer fand sich eine neue Haft für mich, die meine Gedanken in Bann schlug, seit einiger Zeit waren es „beschämende Momente“, so wie die Antwort Sockes heute beim Flipperspiel, „Du bist doch garnicht eingeladen,“ hörte ich ihn wieder sagen, die ganze Schamröte stieg mir erneut ins Gesicht, ich wurde wütend über meine eigene Dämlichkeit, ich schlug mir mit aller Kraft auf den rechten Oberschenkel, um mich zu bestrafen, aber die Szene spielte sich aufs Neue in meinem Kopf ab, ich stellte meine Frage „Wann steigt’n die Party?“ und schämte mich, weil es mir offensichtlich egal war, dass Heinz Witt sicher nicht freiwillig seine Einwilligung dazu gegeben hatte, meine Frage bewies Gefühllosigkeit und eine moralische Kälte sondergleichen, Sockes Antwort war wie eine gerechte Strafe, mit jedem Mal steigerte sich meine Selbstverachtung und meine Selbstbestrafung, bis ich schließlich wieder auf Kopfsteinpflaster lief, mein Oberschenkel tat mir weh und meine Hand auch, die heutige Schmach war noch relativ harmlos, meistens ärgerte ich mich über etwas, das ich selbst gesagt oder getan hatte, ich durchlebte solche Situationen wieder und wieder, zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich noch nach Jahren dieselben Situationen wieder und wieder durchleben würde, meine Selbstbestrafung war noch frisch und jugendlich, sie besaß noch den Glauben, dass ich mich ändern würde, ich wollte mich ändern, ein anderer sein, das war das Thema meiner Jugend.

Orest im deutschen Herbst

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