Читать книгу Orest im deutschen Herbst - Oliver Stapel - Страница 5
Оглавление2 Mutter
Auf dem Grabstein steht Hannelore Richter, es ist ein schöner Grabstein, sehr schlicht, ich könnte ihn nicht beschreiben, er interessiert mich nicht wirklich, nur das Todesdatum, 15. November 1977, das stimmt fast, es ist fast richtig, deswegen komme ich hierher, früher war ich bei Marianne Ziegler, nach langer Krankheit 12. November 1977, mit Efeu und Steinengel, aber erst blieben die Blumen aus und eines Tages war das Grab ausgehoben, und so mußte ich aufs Neue suchen, bis ich Hannelore Richter fand, ein wahrer Glückstreffer, sogar das Geburtsdatum war fast richtig, 3. März 1939, es gab auf jeden Fall noch Verwandschaft, denn selbst 30 Jahre nach ihrem Tod war das Grab gepflegt, wenn auch die Blumen ausblieben, eine Zeitlang legte ich sogar selbst Blumen aufs Grab, blassblaue Vergissmeinnicht, die ich am Wegesrand entdeckt hatte, oder auch Hyazinthen aus dem Geschäft, bis ich es eines Tages wieder sein ließ, was wenn man mich anspräche, mir auflauerte, „Was tun Sie hier an diesem Grab,“ ich würde meine Fäuste in meinen Manteltaschen verstecken, etwas wie eine Entschuldigung dahinsagen und mich entfernen, was wenn man nicht locker ließ, mich beschimpfte, mir mit der Polizei drohte, es war mir zu gefährlich, es gibt nicht viele, die regelmäßig vor einem fremden Grab verweilen, und ich verweile regelmäßig vor einem Grab, und immer demselben fremden Grab, Hannelore Richter, 3. März 1939 bis 15. November 1977, noch nicht einmal 40 Jahre war sie alt, ich sehe noch die straff gespannten Sehnen ihres Halses, der wie ein Baumstamm aussah, nur dass es keine Wurzeln waren, die da in ihren Rumpf drangen, sondern ihre aufs äußerste angespannten Sehnen, das Gesicht eine einzige Maske der Bitterkeit, einer Frau, die vom Leben betrogen worden war.
Vielleicht hatte sie auch noch etwas Sperma entdeckt, das ich nach dem Masturbieren auf der Toilette aufzuwischen versäumt hatte, oder die Spuren eines Lippenstiftes am Hemd ihres Mannes, sie hatte kein Verständnis für diese Zeugnisse unbändiger Hormonstörung und hemmungsloser Genusssucht, und wenn sie mir das Essen auf den Tisch stellte, das sie unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte gekocht hatte, angeekelt von dem Lebenswillen, den es nach Kartoffeln und Wurst verlangte, sich an den Tisch setzte, damit ich sehen konnte, wie sie leidet, wenn mir dann die ersten Bissen im Munde stecken blieben und ich anfing, langsamer zu kauen, weil der Mund trocken wurde, wie immer hatte sie treffsicher mehlige Kartoffeln gekauft, ihr Haar war hinter dem Kopf zu einem Dutt zusammengebunden, das ganze Gesicht, die schmalen Lippen, die herben Falten, „Ich halt das nicht mehr aus,“ sagte sie, oder „Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll,“ ich würgte die letzten Bissen hinunter, ich sagte garnichts, denn jedes Wort, das man ihr sagte, war dazu verdammt, ausgelegt zu werden, wie konnte man ihr nur solches Unrecht antun, das hatte sie nicht verdient, „Herr, warum strafst du mich?“ oder „Womit habe ich das verdient,“ ich verabschiedete mich in mein Zimmer, wo ich mich vor ein Schulbuch setzte, das ich nicht las, sondern ansah, solange, bis sie in mein Zimmer kam, sie war eine einfach gestrickte Frau, ich sah von meinem Schulbuch auf, „Was lernst du?“ – „Geschichte,“ „Willst du nachher mit mir spazieren?“ – „Mal sehn,“ sie sah mich an mit diesem Was-mache-ich-nur-falsch-Blick, sie schloß die Türe und ich holte das Bild, das ich in der Schublade versteckt hatte, heraus und sah es mir an. Ich hatte das Bild vor einigen Wochen aus der Rheinpfalz geschnitten hatte, es war eine Schwimmerin im Bikini, sie hatte einen Rekord aufgestellt oder etwas in dieser Art, ich weiß es nicht mehr, ich hatte das Bild ohne den dazugehörigen Text ausgeschnitten, die Auflösung war schlecht und natürlich war das Bild nur in Grautönen, aber sie war im Bikini, ihre Kurven regten mich an, immer noch, wenn auch nicht mehr so stark wie beim ersten Mal, ein unvergessliches Erlebnis, ich hatte fast 30 Tage lang nicht onaniert, zu solchen asketischen Höchstleistungen konnte ich mich damals noch aufschwingen, bis ich zufällig in der Rheinpfalz ihr Bild sah, vielleicht war es einfach nur unglückliches Timing, wie auch immer, ich hatte fast sofort einen Ständer, aber ich mußte warten, bis die Zeitung auf dem Zeitungshaufen lag, und warten, bis sie mich nicht beobachtete, dann hielt ich den Schnipsel in Händen, ich sprang fast aufs Klo, es war unglaublich, nie wieder würde ich mich mit solcher Ekstase ergießen, noch Wochen später löste allein die Erinnerung daran Schauer der Wonne bei mir aus, ich sah das Bild an, „Göttin,“ flüsterte ich, „Ich kann nicht mehr ohne dich leben, ich will dich berühren, wie können wir uns näher kommen,“ vielleicht hätte ich den Text ausschneiden sollen, denn da stand doch ihr Name, wie konnte ich nur so kurzsichtig sein, ich würde sie anschreiben, und dann würde sie plötzlich vor mir stehen, natürlich im Bikini, ich ging aufs Klo, es war nicht mehr wie früher, ich bemerkte einzelne Rasterpunkte des Bildes, es störte mich.
Das Grab schien mir ungepflegter als sonst, ich bemerkte, dass der Efeu wucherte, Panik ergriff mich, was, wenn auch dieses Grab einen neuen Okkupanten fände, wer läßt denn schon dreißig Jahre lang ein Grab pflegen, ich würde mit Sicherheit kein drittes Grab finden, das meinen Ansprüchen gerecht würde, und wo sollte ich dann hin, wo würde ich dann mein Zentrum finden, meine Mitte, wo könnte ich dann Zwiesprache halten mit ihr, wo könnte ich mir ihr Leben ausmalen, das sie hätte leben können, „Hast du schon Ich bin ich gelesen, ganz tolles Buch, das würde dir gefallen,“ würde ich sie fragen, sie hatte bereits Ich bin OK gelesen, von einem amerikanischen Psychologen, und nervte mich unglaublich, weil sie zu den unpassendsten Gelegenheiten „Ich bin OK“ sagte, etwa wenn sie sich ein Stück Schokolade spendierte, „Ich darf das,“ würde sie sagen, „Ich bin OK,“ würde sie hinzufügen, und manchmal, wenn ich dann ihre Gestalt vor mir sehe, dieses früh verhutzelte, ihr Dasein hassendes Gesicht, das mit gespieltem Genuss in die Schokolade biss, während ihr ganzer Körper sie Lügen zieh, Lebensfreude war nicht ihr Ding, ihre Welt war Vorwurf, Schmach, Gewissensbiss, bei gleichzeitiger Ausklammerung aller Schritte, die eine Lösung bedeutet hätten, „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr dein Vater mich gekränkt hat,“ würde sie sagen, oder „Wir waren noch keine drei Jahre verheiratet, da hat dein Vater schon die Ehe gebrochen, wie hieß sie nochmal, Monika Burdi, das habe ich alles erst sehr viel später herausgefunden,“ wir gingen den Sonnenweg entlang, eine schöne Strecke, vorbei an Weinbergterassen und hübsch gepflegten Gärtchen, „Oh schau mal, wie schön doch diese Gerbera sind,“ würde sie plötzlich ausrufen, es klang wie wenn sie es auswendig gelernt hätte und sich dazu zwang, ein glückliches Gesicht zu machen, in solchen Momenten züngelte Mordlust in mir auf, die Belastung war unerträglich, der Widerspruch zwischen ihrem abgehärmten Gesicht, den Falten, die davon schrieen, dass hier jemand nur Essig zu trinken erhielt, und dann zu sehen, wie dieser Mund tatsächlich zu einem Lächeln benutzt wurde, unter sichtlicher Anstrengung, die Augen lachten nicht dabei, nur der Mund, es war ihre Contenance, die ich mehr haßte als alles andere.
Und abends, wenn ihr Mann es verpaßt hatte, ins Training zu gehen und auch ich aus finanziellen Gründen in der Wohnung blieb oder weil ich es versäumt hatte, mich zu verabreden, wenn wir dann alle abends zuhause sein würden, es geschah selten genug, ihr Mann setzte sich gewöhnlich an den gedeckten Tisch, schmierte sich ein Brot, er schaltete das Radio ein, „Oh La Paloma nimm mich mit in die Ferne,“ er trank ein Glas Bier, er sprach kein Wort, manchmal würde sie ihm erzählen, mit welcher Boshaftigkeit ich ihr heute wieder das Leben schwer gemacht hätte, „Dein Sohn hat mir heute wieder nur freche Antworten gegeben, ich weiß wirklich nicht, was ich mit diesem Kind machen soll,“ oder „Dein Herr Sohn glaubt, er müßte hier nicht im Haushalt helfen, ich habe schon hundertmal gesagt, dass er eine Abreibung braucht,“ er würde abwägen, ob eine Strafe erforderlich war, in der Regel hieß es dann „Du tust, was deine Mutter dir aufträgt, hast du mich verstanden?“ und wenn er fertig mit dem Abendessen war, packte er seinen Sportkoffer und ging Tennis spielen, ganz in weiß, immer adrett, nur wenn er keine Verabredung hatte, vielleicht weil er die monatlichen Finanzen durchging, oder weil ein Brief geschrieben werden mußte, oder weil nach der Tagesschau ein Film lief, den auch er unbedingt sehen wollte, dann würde sie plötzlich neben ihm stehen, eigentlich neben seinem Schreibtisch, ein massives Stück Holz, auf dem Kakteen auf drei Seiten eine klar erkennbare Barriere schafften, sie verstand die Botschaft nicht, und wenn wir tatsächlich an einem dieser unseligen Tage alle drei zuhause waren, verpasste sie die Gelegenheit nicht, sie nutzte die Stunde, stand mit einem Mal neben ihm und fand einen Grund, sich in Szene zu setzen, „Du hast schon wieder nicht den Schrank im Badezimmer aufgehängt, dabei hatte ich doch ausdrücklich darum gebeten, dass du das machst,“ und er „Jajaja, ich kann doch nicht alles machen,“ und sie, „Nein, darum geht es nicht, es geht darum, dass meine Wünsche nicht respektiert werden,“ und er, „Achdulieberhimmel, jetzt hör aber mal auf, das ist ja nicht zum aushalten hier,“ und sie, schrill, „Darf ich jetzt noch nicht einmal darum bitten, dass du einen Schrank aufhängst,“ und er würde ab ihrer veränderten Tonlage plötzlich nichts mehr sagen, sondern sich auf seine aktuelle Arbeit konzentrieren, während sie nicht verstand, dass aus seiner Sicht das Gespräch zu Ende war, für sie hatte es doch gerade erst angefangen, jetzt sprach sie sich in Fahrt, wenn der Schrank nicht zog, dann mußten andere Geschütze aufgefahren werden, sie teilte ihm mit, dass es sie kränkte, derart mißachtet zu werden, vielleicht quittierte er das mit einer Grimasse oder einem Kopfschütteln, meistens war ich zu dieser Zeit bereits in meinem Zimmer, wo ich die Tristesse meiner kahlen Tapeten mit zunehmender Wehmut betrachtete, mir das Rocky-Plakat vorstellte, das bei Socke im Zimmer hing, oder das von Supertramp, der Lieblingsgruppe von Alf, Zeugnisse beginnender Eigenständigkeit, wo ich nur Leere fand, und nachdem ich vor der Haustür eine Zigarette geraucht hatte und wieder über den Flur zurück in mein Zimmer ging, war sie bereits bei der Zusammenfassung der Kränkungen, die sie im Laufe ihrer 15jährigen Ehe erlitten hatte, manchmal schnappte ich Sachen auf, die vor zehn Jahren passiert waren, sie vergaß nichts, vielleicht führte sie ja, so wie er für seine Finanzen, ein Haushaltsbuch über erlittene Demütigungen.
Wieder im Zimmer würde ich danach suchen, welche Hausaufgaben ich für den morgigen Tag zu machen hätte, manchmal fand ich sogar den entsprechenden Zettel, ich hatte einen schwarzen Aktenkoffer, passend zu den karierten Hosen, die sie mir jedes Jahr zu Weihnachten kaufte, mit vielen Fächern, für Stifte, Notizen, Hefte und natürlich Bücher, ich fand immer wieder neue Zettel, mit Hausaufgaben, von denen ich nicht mehr wußte, ob ich sie nicht schon gemacht hatte, oder hätte machen sollen, ich schlug Schulbücher auf, ich blätterte zu den Seiten, die mir die Zettel angaben, es klopfte an der Tür, mein Vater öffnete und teilte mir mit, dass der Film gleich beginnt, „Mit Cary Grant,“ fügte er noch hinzu, oder „Der Große Preis!“ dann verschwand er wieder, um es sich in seiner Couch gemütlich zu machen, was ihm daran lag, ob ich ebenfalls diesen Film sah oder nicht, ich weiß es bis heute nicht, von 8 bis 11 lief die Kiste und offenbar wähnten sie es als Teil ihrer Erziehungsleistung, abends drei Stunden Unterhaltung bereitzustellen, während ich mit mir debattierte, ob ich mich dazu setzen sollte oder nicht, ich hatte keine Lust darauf, Hausaufgaben zu machen, mir war öde, nach einiger Zeit hörte ich sie lachen, schrill und verzweifelt, der Film hatte angefangen, sie hatte schon ihre Flasche Weißwein neben sich stehen, er kaute seine Nüsse, die er in einer Holzschale auf seinem bemerkenswert flachen Bauch stehen hatte, die Beine auf einem Sessel geparkt, fast liegend, meistens nahm ich mir einen Küchenstuhl, damit ich nicht zwischen ihnen sitzen mußte, ich beobachtete sie, wie sie den Film in sich aufsogen, Dialoge wie „Das Gebäck ist leicht wie Luft.“ – „Ja, Germaine hat sehr gefühlvolle Hände, einmal sah ich wie sie einen deutschen General erwürgte, völlig geräuschlos!“ schickten sie in Ausbrüche wiehender Heiterkeit.
Und manchmal, wenn ich mich morgens nach der Dusche mit dem Handtuch abtrockne und mir vorstelle, wie Kameras im Rahmen eines Forschungsprojektes aufzeichnen, welche Teile des Handtuchs ich für den Prozess des Abtrocknens verwende, man findet heraus, dass ich nahezu täglich und mit zuverlässiger Regelmäßigkeit die Seite, die ich zum Abtrocknen verwende, abwechsle, weißbekittelte Menschen mit einem Clipboard in der Hand zeigen mir Filmausschnitte und stellen mir Fragen, „Warum wechseln Sie an dieser Stelle die Handtuchfläche,“ „Warum fassen Sie das Handtuch an dieser Stelle an,“ „Warum haben Sie Ihre …“
Mutter zeichnete sich vor allem durch ihre komplette Unfähigkeit zur Selbstbeobachtung aus, sie würde während des Essens zwanzigmal aufstehen, um hier noch einen Salzstreuer, da noch die vergessene Leberwurst zu holen, es fehlt ein Gäbelchen, um den Aufschnitt aufzuspießen, sie springt auf, um es zu holen, schließlich, ein Gespräch kommt unter diesen Bedingungen natürlich nicht zustande, fragt sie mich, „Möchtest du Tee?“ – „Ja, gerne.“ – „Er steht neben der Spüle, hol’ ihn dir,“ und während ich mir den Tee hole, beschämt, wie einer, der gerade geneppt wurde, doch sie isst freudlos ihre Schnitte, und damit schließe ich auch Schadenfreude aus, oder blitzt da so etwas wie Triumph aus ihren eisgrauen Augen, ich weiß es nicht, vielleicht bildete ich mir das alles nur ein, jedenfalls würde sie nie merken, welche Widersprüche sich in ihrem Leben auftaten, unvergessen die vielen Male, wenn sie über andere Leute sprach und sie als harmlos abtat, mit schöner Regelmäßigkeit ihr finales Diktum, „Der denkt doch Sex wäre eine Zahl,“ garniert noch von einem überlegenen Lächeln, während sie ihren Mann nie geneckt, geschweige denn angemacht hätte, zumindest nicht in den Jahren, in denen ich einigermaßen bewußt Zeuge dessen wurde, was selbst als Zweckgemeinschaft noch eine zu positive Bezeichnung fände, Kosenamen kannte sie nicht, selbst die einfachsten Berührungen waren ihr ein Greuel, und manchmal, wenn Kiesel unter meinen Sohlen knirschen und kalter Lufthauch an Efeublättern zupft, an dem Ort, an dem nur noch die Namen bleiben und selbst diese keine Erinnerung mehr auslösen, wenn ich vor dem Grab einer Frau stehe, die ich nie kannte und Zwiesprache halte mit der, die mir immer als ein Genie des Leidens begegnet war und die ich, als sie schließlich ihr Leben lieben lernte, nicht mehr als Mutter erkannte.
Und mich ihrer entledigte.