Читать книгу Orest im deutschen Herbst - Oliver Stapel - Страница 9
Оглавление6 Zuhause
Wir wohnten jetzt im Erdgeschoß – Parterre, wie sie zu sagen pflegte, eine zweistufige Treppe führte in den Hausflur, dann nochmal ein paar Stufen zu unserer Wohnung, oben hatten sie Krach, der Mann schrie irgendwas und knallte die Haustür zu, ich schloss schnell bei uns auf und ging hinein, bevor er an mir vorbei kommen konnte, ich hörte noch seine raschen Schritte, dann machte ich die Tür zu und drehte mich um, der Flur teilte die Wohnung in unsere beiden Zimmer zur Linken und die Küche mit angrenzendem Wohnzimmer sowie das Bad zur Rechten, sie lag ganz hinten zwischen ihrer Tür und der Badezimmertür, die leicht versetzt ihrem Zimmer gegenüberlag, es sah so aus, als ob sie auf dem Weg ins Bad war, bevor sie hinfiel, ich bemerkte ein Bild zu meiner linken Seite, ein Aquarell, ein kleiner Weinberg vor einer herbstlichen Kulisse mit Abendrot, sogar in einem Bilderrahmen, ich fragte mich, seit wann das Bild wohl schon da hing, „Mutti?“ fragte ich in den Flur hinein, das Licht war an, ich hatte es nicht angemacht.
„Alles ok?“ fragte ich, sie rührte sich nicht, ich ging zu ihr hin und schüttelte sie an der Schulter, ihr Dutt, sonst ein Epitom gutbürgerlicher Ordnungsliebe, war halb offen und zerzaust, „Mutti?“ fragte ich nochmal, sie röchelte und lallte etwas, aus dem ich entnehmen konnte, dass alles in Ordnung war und ich mir keine Sorgen machen sollte. Ich rief den Krankenwagen, sie kamen wenig später und marschierten in die Wohnung, der Sanitäter richtete sie unsanft auf, eine Schachtel mit Tabletten fiel aus ihrer Hand, ich hatte sie noch garnicht bemerkt, „Frau Rest,“ sagte der Sanitäter, „können Sie mich hören?“, sie lallte wieder etwas, er hob ihre Augenlider hoch und sah ihre Pupillen an, dann ein Blick auf die Schachtel, „Wir müssen Ihnen den Magen auspumpen,“ sagte er zu ihr, und zu seinem Kollegen „Hol mal den Schlauch und den Trichter mit einem Messbecher!“, und zu mir „Habt Ihr einen Eimer?“ Ich ging ins Bad, es war nicht ganz einfach, weil sie den Weg versperrten, sie sahen aus wie Liebende, er kniete auf einem Bein und hielt sie in seinen Armen, damit sie ihm nicht wegsackte, sein rechter schwarzer Stiefel war naß und hinterließ einen Abdruck auf der Tapete, ich quetschte mich an ihrem Kopf vorbei, ging ins Bad und suchte. Nie zuvor hatte ich hier einen Eimer gesehen, aber vielleicht würde ja jetzt in der Stunde dieser Not einer auftauchen. So sehr ich auch suchte, ich fand nichts, ich ging wieder zurück, der andere Sanitäter kam mit einem Schlauch und einem Eimer, „Ah super,“ sagte der erste Sanitäter, und zu mir, „Wir bräuchten jetzt so zwanzig Liter Wasser,“ ich quetschte mich wieder an ihnen vorbei und ging in die Küche, ich nahm unseren größten Kochtopf aus dem Schrank und ließ Wasser einlaufen, sie hatten ihr bereits den Schlauch eingeführt, ich hörte sie keuchen, sie hielten den Trichterhals in den Schlauch, ich kam mit dem Wasser, „Wieviel Liter sind das?“ fragte er, ich zuckte die Achseln, sie schütteten ein weißes Pulver hinein, dann nahm er den Messbecher und füllte ihn mit dem Wasser, „Mach mal eine Strichliste!“ sagte er zu seinem Kollegen, dann flößte er ihr das Wasser ein.
Ab und zu mußte ich den Topf wieder nachfüllen, dann schütteten sie wieder Salz nach, sie würgte und zuckte und litt, aber das war ja nichts Neues, ich sah zu, wie das Wasser aus dem Trichter durch den Schlauch in ihren Hals lief, wieder und wieder, irgendwann wurde ihr Zucken stärker, sie drehten sie zu zweit über den Eimer und ließen einen eklig riechenden Brei auslaufen, jedesmal, wenn sie sie über den Eimer gehalten hatten, machte der zweite Sanitäter ein Kreuzchen in die Strichliste, so ging das eine ganze Zeit lang, schließlich war die Flüssigkeit, die aus ihrem Magen kam, nur noch das Wasser, das sie ihr vorher reingeschüttet hatten, ich mußte nochmal Wasser bringen, sie machten Aktivkohle rein und schütteten es ihr in den Schlund, „Des is jetzt zum Neutralisieren,“ sagte der Sanitäter, sie zogen ihr den Schlauch aus dem Hals, „Wo hat Ihre Mutter denn ihr Bett?“ fragten sie mich, „Ähm, hinter Ihnen,“ antwortete ich. Sie trugen sie in ihr Schlafzimmer und legten sie hin, ein alter Kleiderschrank stand auf der linken Seite, ihr Bett, ein Doppelbett, direkt gegenüber, sie legten sie hin und schoben ihr das Kopfkissen unter den Kopf, der Sanitäter nahm noch einmal ihren Puls, dann stoben sie aus der Wohnung. „Ab und zu mal checken, wenn nochmal was ist bitte gleich anrufen,“ hörte ich sie noch sagen, dann fiel die Tür hinter ihnen zu, Stille breitete sich aus, ich sah die Abdrücke ihrer Stiefel auf dem Boden und einen Abdruck an der Tapete, in ungefähr fünf Zentimeter Höhe, wo der Absatz des Stiefels längere Zeit dagegen gedrückt hatte, ich sah in ihr Zimmer, sie lag da und atmete reglos, ab und zu hörte ich klickende oder schmatzende Geräusche, es war unheimlich. Ich drehte mir eine Zigarette und ging durch die Küche auf den Balkon, wo ich fröstelnd rauchte, es war schon fast dunkel, die Kippe hatte einen faden Geschmack auf der Zunge, selbst der Tabak roch nicht mehr gut, ich drehte mir eine zweite, ich mußte noch Hausaufgaben machen, ich ging zur Tür ihres Zimmers und sah hinein, sie lag da wie zuvor, sie atmete, ich ließ die Tür auf und drehte überall die Heizkörper hoch, nach einiger Zeit fing die Heizung an zu klopfen, ich ging in die Küche und sah im Brotkasten nach, es war noch ein kleines Stück Brot übrig, ich ging an den Kühlschrank, es gab noch Margerine und etwas Aufschnitt, lustlos schmierte ich mir ein Brot, sie sagte etwas, „Otto,“ hörte ich sie schwach sagen, ich ging kauend in ihr Zimmer, sie versuchte sich aufzurichten, ich bemerkte, dass ihre Strickweste an einigen Stellen übel versabbert war, „Otto,“ sagte sie wieder, „ich habe es nicht mehr weit, bald habe ich diesen Kelch ausgetrunken, Gott sei Dank!“ kauend sah ich sie an, sie versuchte, sich zuzudecken, es klappte nicht sonderlich gut, „Bitte hilf mir mal!“ befahl sie, ich deckte sie zu, „Pass doch auf, du versaust mir ja das ganze Bett,“ fuhr sie mich an, soviel Kraft hatte sie noch.
Der Sabber auf ihrer Weste stank, sie schien den Geruch langsam zu registrieren, „Was ist passiert?“ fragte sie, ich biss in mein Brot, der Appetit war mir schon lange vergangen, aber die Bauchschmerzen hätte ich nicht gebraucht. „Weiß nicht,“ sagte ich, „du hast auf dem Flur gelegen …“ – „Wie bitte?“ sagte sie, „Du hast im Flur gelegen!“ sagte ich laut, ich wurde wütend, alles was mir jetzt noch fehlte war diese Schauspielerei, „Mir geht es in letzter Zeit nicht gut,“ sagte sie, da war sie wieder, die Contenance, ab hier hätte man ihr nicht mehr zuhören brauchen, aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. „Sage deinem Vater, dass ich ihm verzeihe, auf der Ablage findest du einen Brief und ein bißchen Geld,“ sie schniefte und presste ein paar Tränchen raus, „Ich sehne den Tag herbei, an dem ich vor meinem Schöpfer stehe, und dann werde ich ihn fragen, Herr, warum hast du mir das angetan, womit hatte ich das verdient, weißt du, Otto, deine Generation hat es so gut, für euch ist alles selbstverständlich, aber wir haben gehungert, wir sind barfuß zur Schule gelaufen, ich mache dir keinen Vorwurf, aber vielleicht hilft es dir ja, mich zu verstehen. Ich kann einfach nicht mehr, ich will nicht mehr,“ dramatisch hauchte sie den letzten Satz aus.
„Ich muß noch Hausaufgaben machen,“ sagte ich und ging in mein Zimmer, es roch leicht muffelig und ich öffnete das Fenster. Leute gingen in der Dunkelheit, ich konnte sie nicht erkennen, sie schienen es eilig zu haben, ich setzte mich an meinen Schreibtisch, neben dem Tisch drängte sich die Tapete des Vormieters in mein Bewußtsein, eine altmodische, mit floralen Ornamenten verzierte Biedermanntapete, die fast vollständig vergilbt waren, weil der Vormieter hier vierzig Jahre geraucht hatte, bevor er von einem Auto überfahren wurde, solche Sachen werden einem im Treppenhaus erzählt, mit bedeutungsvollen Blicken, „Stellense sisch des emol vor!“ Ich versuchte es mir vorzustellen, ein alter Sack, die Hände gerade noch in der Lage, die HB zum Mund zu führen, vielleicht war er auf dem Weg zum Kiosk, um eine neue Packung zu kaufen, niemand wusste, wie er an das Geld für drei Packungen am Tag kam, ein Auto fährt auf ihn zu, der Fahrer, „noch kä Zwanzisch,“ fährt viel zu schnell, träumt oder sucht einen anderen Sender, man weiß es nicht, ein Aufprall, erschrocken reißt der Fahrer das Steuer rum, rammt sein Auto fast in eine Hauswand, damals gab es noch sehr viel weniger parkenden Autos am Straßenrand.
Der Raucher war auf der Stelle tot, die Wohnung wurde frei, es war Zufall, die Miete war nicht sehr hoch und wir konnten die Einrichtung übernehmen, eine alte Resopalküche, die Möbel und den Fernseher, ein Schwarz-Weiß-Gerät von Telefunken. Ich konnte in meinem Zimmer rauchen, wenn ich es wollte, es roch sowieso immer nach Rauch, aber ich ging meistens auf den Balkon, die Wohnung war nicht renoviert, da wird die Miete gleich teurer, hatte der Vermieter gesagt, es war ein altes Haus, in den Zwanzigern oder Dreißigern gebaut, genau wie die anderen links und rechts und gegenüber, hier war im großen Stil Wohnraum geschaffen worden, ich kruschte in meinem schwarzen Aktenkoffer nach dem Heft, in das ich die Hausaufgaben notierte, ich fand es nicht, aber ich war sicher, dass da etwas war, nur was, „Otto,“ hörte ich es aus dem anderen Zimmer, ich verdrehte die Augen, „Das gibt’s doch nicht,“ entfuhr es mir und ich ging unwirsch in ihr Zimmer, „Entschuldige, wenn deine Mutter sich erdreistet, dich um einen Gefallen zu bitten,“ sagte sie, „Ich habe extra gewartet,“ fuhr sie fort, „um zu sehen, ob du von alleine auf die Idee kommen würdest, mir eine Tasse Tee zu machen, aber das ist wahrscheinlich schon zuviel verlangt,“ ich war schon wieder der Schuldige, ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, egal was ich tun würde, es war falsch, denn jetzt Tee zu machen war wie das Eingeständnis meiner Schuld, keinen Tee zu machen wäre unmenschlich gewesen, benommen ging ich in die Küche und stellte den Kessel auf den Herd, ich musste sie fragen, welchen Tee sie trinken wollte, wie ich das hasste, gerne hätte ich wie Udo Lindenberg den Fernseher kaputt getreten oder einen Stuhl durchs Fenster geschmissen, aber ich war zu lau, emotionale Ausbrüche gehörten nicht zu meinem Repertoire. „Welchen Tee soll ich dir machen?“ fragte ich über den Flur, eine unverständliche Antwort, ich ging hin und wiederholte die Frage, „Pfefferminztee, bitte,“ sagte sie unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte, ich ging zurück in die Küche wie ein Dämlack, das Wasser war noch nicht mal am Sieden, ich mußte noch einige Minuten daneben stehen wie ein Hanswurst, zurück in meinem Zimmer würde ich das Wasser sofort vergessen, so gut kannte ich mich dann doch, ich fing das Spiel mit den Kanten an, meistens tat ich das beim Essen, aber beim Rumstehen bot es sich erst recht an, ich konnte mich nicht bremsen, es ließ sich kein Riegel davor schieben, es war wie ein Reflex, ich biss mir auf die Unterlippe und schon jagte ich im Geiste die Kanten des Raums ab, immer schneller und schneller, noch bevor ich überhaupt wußte, was da passiert, hatte ich bereits den halben Raum abgefahren, es war zum Ausderhautfahren, ich hasste es wie die Pest.
Ich stand oder ging wie in einer Art Halbschlaf, denn das, was sich da in meinem Kopf abspielte, war schlimmer als ein Alptraum, es war Frondienst an Nichtigkeit, selbst den ganzen Tag eine Eieruhr umdrehen wäre im Vergleich noch anspruchsvoller und sinnvoller gewesen, meine Gedanken kreisten nicht um ein Thema, sie fuhren immer wieder und wieder irgendwelche Kanten und Rillen entlang, um in den bangen Momenten, in denen sie plötzlich auf sich selbst gestellt waren vor der eigenen Leere und Sinnlosigkeit mit Schrecken davonzustieben, denn das war die zweite Seite der Medaille, sobald ich einmal für einen kleinen Moment von der Ablenkung abließ, sobald ich nur einmal ansatzweise meinen Gedanken zuhörte, vernahm ich Gedankenfetzen wie „Wozu das alles?“, „Hat doch alles keinen Sinn …“ und „Was mache ich hier?“, nichts interessierte mich, ich konnte mich für nichts begeistern, Sport ließ mich genauso kalt wie Alkohol, die Zigaretten schmeckten mir schon lange nicht mehr, selten konnte ich mich länger als fünf Minuten auf etwas konzentrieren, meistens nicht einmal das, bei Gesprächen mit anderen glänzte ich durch innere Abwesenheit, die Hausaufgaben waren der sprichwörtliche Berg, den ich den ganzen Tag vor mir herschob, bis es zu spät war, ich nahm mir vor, am nächsten Morgen früh aufzustehen, aber das war natürlich völlig unmöglich, ich war froh, wenn ich es noch rechtzeitig in die erste Stunde schaffte, „Otto,“ rief eine dürre Stimme durch den Flur, „Mein Tee,“ ich schüttete das Wasser in die Tasse mit dem Teebeutel und brachte die Tasse zu ihr, „Danke,“ sagte sie matt und „Stell die Tasse bitte auf den Nachttisch,“ ich ging wieder hinaus ohne sie anzusehen.