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2.3. Von Schreinen und Moscheen

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Orte des Friedens, Brutstätten des Zorns

Es ist noch früh am Freitagmorgen, und in der Jamia Masjid (Freitagsmoschee) am Rand der Altstadt von Srinagar herrscht noch wohltuende Ruhe. Trutzig ragen die pagodenhaften Türme der Moschee aus der niedrigen Silhouette der alten Holzhäuser empor. Um die Moschee herum halten Händler ihren Markt ab, und viele Menschen nutzen den Freitag zum Einkaufen. Es scheint ein friedlicher Tag zu werden, aber die massive Präsenz der Sicherheitskräfte deutet darauf hin, dass heute auch Besucher mit weniger friedlichen Absichten erwartet werden. Die Befürchtungen sind begründet, denn in der Freitagsmoschee treffen sich immer wieder gewaltbereite Jugendliche, die nach dem Freitagsgebet ihrem Unmut über die vermeintliche indische Besatzung in Kaschmir Luft verschaffen. Sie sind Teil einer Bevölkerung, die sich nicht mit dem politischen Status Kaschmirs als „indische Provinz“ abfinden will.

Foto: Freitagsmoschee

Anders als bei dem nur wenige hundert Meter entfernt gelegenen Schrein des Dastagir Sahib ist es nach dem Freitagsgebet in der gleichnamigen Moschee schon fast Ritual, die Sicherheitskräfte mit einem Steinhagel einzudecken und sich stundenlange Straßenschlachten mit ihnen zu liefern. Mittlerweile ist es Mittag, und im gleichen Maße, wie die Händler ihre Stände wohlweislich schließen, strömen die Gläubigen zum Gebet, während die Soldaten strategische Punkte um die Moschee einnehmen. Noch ist alles friedlich in den religiösen Stätten Srinagars, von denen die wichtigsten nahe beieinander liegen. Zahlreiche Gläubige halten gemeinsam das Freitagsgebet an den Schreinen des Dastagir Sahib, des Shah-i-Hamadan und des Naqshband Sahib. Im Gegensatz zu einer Moschee wird ein Schrein immer mit einer bestimmten Person oder einer bestimmten Handlung assoziiert. Meist wird in einem Schrein auch eine Reliquie des entsprechenden Heiligen aufbewahrt. Das kann seine Grabstätte sein oder auch nur ein Barthaar oder ein Fußabdruck. Generell fallen Schreine damit in die Kategorie volksreligiöser Betätigungen, während Moscheen in aller Regel orthodoxen Strömungen des Islam zugerechnet werden können.

Foto: Freitagsgebet

Derweil hält der Mirwaiz, das religiöse Oberhaupt der Freitagsmoschee in Srinagar, seine traditionelle Freitagspredigt. Ähnlich christlichen Sonntagspredigten thematisiert er dabei alles, was seiner Meinung nach Einfluss auf das Verhalten der Gläubigen haben könnte. Politische Missstände werden genauso angeprangert wie „moralischer Verfall“ der Gesellschaft. Mitunter sind es flammende Reden, die den Ort des Gebets in ein brodelndes Tollhaus voller Zorn und Gewaltbereitschaft verwandeln. Besonders viel Mühe braucht es nicht für den Mirwaiz, um die Zuhörer von seinen Ansichten zu überzeugen. Schließlich ist er auch der Führer einer politischen Widerstandsbewegung in Kaschmir, der All Parties Hurriyet Conference (APHC). Außerdem liegt die Freitagsmoschee in dem Teil Srinagars, der wohl am meisten unter den Repressalien der Sicherheitskräfte zu leiden hat. Und da man gemeinhin dort sein Freitagsgebet verrichtet, wo man wohnt, finden sich zu diesem Zeitpunkt überproportional viele Unzufriedene an jenem Ort ein. Viele Jugendliche sind darunter, und sie werden nach Abschluss des Gebets den draußen versammelten Sicherheitskräften eine Lektion in punkto Gewaltmonopol und taktische Straßenkampfführung erteilen.

Foto: Die Demonstranten machen sich bereit.

Es ist ein eingeübtes Muster, nach dem die Ereignisse fast jeden Freitag ablaufen, aber besonders dann, wenn eine der zahlreichen Widerstandsgruppen zum Streik aufgerufen hat. Eine Routine des Widerstands gegen die als ungerecht empfundene Besetzung Kaschmirs durch indische Truppen. Zugleich handelt es sich bei derartigen Demonstrationen jugendlicher Gewaltbereitschaft auch um Rituale des Erwachsenwerdens in einer Umgebung, die seit nunmehr fast 20 Jahren in politischem Unrecht und militantem Widerstand versinkt. Für die Jugendlichen ist die Verbindung von religiöser Identität, Unrechtserfahrung und Kampf eine logische, und sie wird im jeweiligen sozialen Umfeld positiv sanktioniert.


Die Lage in Kaschmir ist derart verfahren, so die Überzeugung vieler Menschen, weil ein muslimisches Land von Andersgläubigen dominiert wird, und die Glaubensbrüder getötet werden. Da die eigene Regierung völlig korrupt ist und nicht bereit, gegen diese Ungerechtigkeit anzugehen, muss die Jugend des Landes die Dinge in die Hand nehmen. Wer sich also an entsprechenden Unternehmungen gegen die Sicherheitskräfte beteiligt, tut dies für die eigene Gesellschaft, für die Herstellung der Ehre, die jeden Tag mit Füßen getreten wird. Selbstverständlich weiß - außer den Sicherheitskräften - in den Mohallahs (Nachbarschaften) jeder, wer an den freitäglichen Demonstrationen teilnimmt, und die Anführer können sich im Einzelfall durchaus eines gewissen Sozialprestiges erfreuen.

Foto: Gegenangriff der Sicherheitskräfte.

Mittlerweile verlassen an den Schreinen die Menschen friedlich die Orte des Gebets, und auch der Mirwaiz macht sich mit seinen Leibwächtern fertig, um durch den Hinterausgang der Freitagsmoschee zu seinem Auto zu gelangen. Zahlreiche Jugendliche begleiten das religiöse Oberhaupt noch ein paar Meter auf seiner Runde um die Moschee, bevor sich ein Zug formiert, der beginnt, anti-indische und radikal-religiöse Parolen zu skandieren. Während der Mirwaiz abfährt, beginnen weitere Gruppen von Jugendlichen, sich mit Steinen zu bewaffnen. Dies alles geschieht auf der den Sicherheitskräften abgewandten Seite der großen Moschee, und Armee und Polizeikräfte müssen aufmerksam sein, um nicht von den gegnerischen Akteuren ausmanövriert zu werden. Unglücklicherweise sind sie es heute nicht, was sich später dramatisch auswirken wird. Während sie nämlich auf einer Seite der Hauptstraße, die an der Freitagsmoschee vorbeiführt, versammelt sind, betritt eine Gruppe von etwa 100 Demonstranten in ungefähr 200 Metern Entfernung die gleiche Straße und formiert sich auf breiter Front. Zur gleichen Zeit umgehen weitere Grüppchen von jeweils zehn bis fünfzehn Leuten den Ort des Geschehens und verschwinden in den Gassen der umliegenden Altstadt.


Es kommt zum Showdown. Die Hauptgruppe der Demonstranten beginnt, die Sicherheitskräfte mit einem Hagel von Steinen einzudecken, der nur mühsam mit Hilfe von Schutzschilden oder dem Aufsuchen einer sicheren Deckung abgewehrt werden kann. Abwechselnd werfen jeweils fünf bis sechs Jugendliche eine Salve Steine, während sich die Übrigen nach weiterem verfügbarem Material umsehen. Man steht sich in einer offenen Schlacht gegenüber, und erst nach geraumer Zeit gelingt es den Sicherheitskräften, einen Gegenangriff zu starten. Während drei Schützen mit Granatwerfern ihre Tränengas- und Gummigeschosse in die Reihen der sich nähernden Angreifer feuern, stürmen die übrigen mit Hurrageschrei auf die Jugendlichen zu. Diese weichen geschickt einige Meter zurück und lassen den Gegenangriff ins Leere laufen, um sofort wieder selbst die Initiative zu ergreifen. Vor dem Haupteingang der Moschee stehen derweil zahlreiche Männer und betrachten das Spektakel ihrer Söhne, Enkel und Neffen.

Foto: Die Sicherheitskräfte geraten unter Druck. Tränengasgranaten kommen zurückgeflogen.

Nach ungefähr vier Stunden wechselseitigen Angreifens und Zurückweichens machen sich Taktik und Ortskenntnis der Demonstranten bezahlt. Wieder einmal sind die Soldaten vorgeprescht, als sie plötzlich von zwei Seiten aus den Seitengassen heraus angegriffen werden. Unbemerkt haben mehrere kleine Gruppen die Sicherheitskräfte umgangen, und die befinden sich nun in der Zange. Deckung ist rar, und schon verlassen die ersten Verletzten das Schlachtfeld. Eilig wird Verstärkung herbeigerufen, aber deren Eintreffen zieht sich hin. Ganze Salven von Tränengasgranaten werden den Angreifern entgegen geschickt, aber die werfen sie einfach zurück. Der Ort des Geschehens versinkt in einer Wolke aus reizendem Qualm, der Freund und Feind gleichermaßen die Sicht nimmt.

Foto: Freundlicher Besuch am Abend. Soldaten kontrollieren ein Haus.

Das langsame Herabsinken einer gnädigen Dämmerung bewahrt die Sicherheitskräfte an diesem Tag vor Schlimmerem. Ob es das nahende Abendessen ist oder ein sich anbahnender Mangel an Wurfgeschossen, der für eine Auflösung der jugendlichen Kohorten sorgt, bleibt bis zuletzt unklar. Die Wehrhaftigkeit der Armee ist es auf keinen Fall. So plötzlich der Angriff in den frühen Nachmittagsstunden begann, so abrupt endet er. Beim nächsten Gegenangriff der Sicherheitskräfte lösen sich die Reihen der Jugendlichen einfach in Wohlgefallen auf, und die Protagonisten verschwinden im Gassengewirr der nun dunklen Altstadt. Ihre Aufgabe haben sie für heute erfüllt. Jeder konnte sehen, dass man dem indischen Staat die Stirn geboten hat und man seinen militärischen Vertretern in Kaschmir deutlich überlegen ist. Auch die Sicherheitskräfte sind nicht an weiteren Kampfhandlungen interessiert. Für heute gab es genug Verletzte, die Blamage sitzt tief, und so begnügt man sich damit, einigen Anwohnern ihre Haustüren einzutreten. Dann rücken auch die Soldaten ab.Bis zum nächsten Mal wird die Freitagsmoschee wieder das sein, wofür sie eigentlich gedacht ist: ein stiller Ort des Gebets und der religiösen Andacht.

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