Читать книгу Mythos Kaschmir - Oliver Uhrig - Страница 2
Vorwort
ОглавлениеAls wir im Jahr 1995 zum ersten Mal gemeinsam nach Kaschmir reisten, waren wir noch Studenten der Ethnologie und befanden uns in der Vorbereitung zu unseren Magister-Arbeiten. Unvorhergesehene Umstände führten uns nach Srinagar, der Hauptstadt des Kaschmir-Tals, wo wir von der Zwiespältigkeit unserer Wahrnehmungen frappiert waren. Wie war es möglich, dass in solch einer lieblichen Umgebung derart unerfreuliche Lebensumstände herrschten? Allenthalben waren Bombenexplosionen oder das Knattern von Gewehrsalven zu vernehmen. Der Blick vom Hausboot verhieß Ruhe und Frieden; ein Besuch in der Altstadt offenbarte Hass und Gewalt - inmitten einer jahrhundertealten Kulisse, die jedem Touristen das Herz höher schlagen lässt. Was ging hier vor sich? Hatten die Menschen in Kaschmir nicht allen Grund, zufrieden und glücklich ihren Geschäften nachzugehen? Immer noch kamen zu jener Zeit westliche Touristen nach Kaschmir; die fünf Europäer, die wenig später ermordet werden sollten, darunter auch ein Deutscher, waren zu diesem Zeitpunkt noch frei und genossen das vermeintliche „Paradies Kaschmir“.
Unsere Erlebnisse warfen mehr Fragen auf, als wir in kurzer Zeit beantworten konnten. Wir suchten Abhilfe in diversen Buchhandlungen Srinagars und daheim, in der Fachbibliothek des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg. Schnell wurde klar, dass das Informationsangebot zum Thema „Kaschmir“ recht eingeschränkt war. Wissenschaftliche Werke befassten sich mehrheitlich mit historischen Perspektiven des Konflikts und traditionellen Lebensformen der Kaschmiris. Erst allmählich hielt der aktuelle - gewaltsam ausgetragene - „Kaschmir-Konflikt“ Einzug in die wissenschaftliche Literatur. Ein Anfang; visuelle Eindrücke waren jedoch von diesen Publikationen nicht zu erwarten. Die Informationen blieben größtenteils akademisch abstrakt. Auf der anderen Seite beließen es die wenigen „populären“ Buchveröffentlichungen über Kaschmir meist bei mehr oder weniger „paradiesischen“ Fotos, oder aber sie kamen in Form individueller Reiseberichte daher. Letztere häufig mit kulturellen Vorurteilen und Halbwissen gespickt. Zwei Ausnahmen, die auch Einfluss auf die Idee zu diesem Buch haben, sind der hervorragende Fotoband „Kashmir“ von Raghubir Singh sowie die bereits im 19. Jahrhundert verlegte Monografie „The Valley of Kashmir“ des britischen Kolonialbeamten Walter Lawrence. Wenn es gelänge, ein Buch über das Kaschmir-Tal zu schreiben, welches die Vorzüge dieser beiden Publikationen in sich vereint, so unsere Überlegungen in der Folge, hätte der Leser eine Informationsquelle, die unterschiedliche Ebenen dieser Kultur und ihre publizistische Darstellung miteinander verknüpft. Visuelle Eindrücke, Fotografien in Verbindung mit Geschichten, Beobachtungen und Fakten. Informationen, welche die Leser zunächst über das Auge erreichen, um das optisch Wahrgenommene in Verbindung mit korrespondierenden Artikeln in einen tieferen, kulturrelevanten Zusammenhang zu stellen. Die Idee zu diesem Band war geboren. Für die Umsetzung dieses Projektes wurden jedoch zunächst wissenschaftliche Forschung und zahlreiche Reisen nach Kaschmir notwendig.
Erst die langjährige Interaktion mit Kaschmiris, Indern und Deutschen, Wissenschaftlern und Privatpersonen sowohl in Kaschmir als auch in Indien und Deutschland machte dieses Buch überhaupt erst möglich. Der vorliegende Band ist keine ethnologisch-wissenschaftliche Monografie, aber ein Buch, dessen Schlussfolgerungen auf ethnologischen Erkenntnissen und deren Interpretationen beruhen. Es ist kein Buch, das den Anspruch hat, alle relevanten Fragen der Geschichte, der Kultur und des Konflikts im Kaschmir-Tal erschöpfend zu behandeln. Vielmehr ist es unser Bestreben, in exemplarischer Form gewisse Bereiche der Geschichte, des Lebens und des Leidens zu beleuchten, die nach unserer Auffassung zum gesellschaftlichen Selbstverständnis vieler Menschen in Kaschmir beitragen. Daher haben wir uns bemüht, wo möglich, die Sichtweisen der Bewohner Kaschmirs einzunehmen, die auch deren Widersprüche, Vorurteile und gesellschaftliche Polyphonie beinhalten. Wichtig war uns hierbei weniger stringente Wissenschaftlichkeit als vielmehr die Verständlichkeit der entsprechenden Fakten, Meinungen und Handlungen in und über diese Region. Ist im Verlauf dieses Bandes von „Kaschmir“ die Rede, so beziehen wir uns dabei ausschließlich auf das indisch verwaltete „Kaschmir-Tal“, denn es ist diese Region, welche in der Regel sowohl mit dem Paradies per se als auch mit dem Konflikt zwischen Indien und Pakistan assoziiert wird. Dieses Buch soll den Leser ermutigen, sich auf eine spannende Kulturreise zu begeben. Eine Begegnung, die ihn mit eigenen touristischen Träumen, aber auch mit kulturellen Vorbehalten konfrontiert. Eine Konfrontation, die letztlich den Schlüssel bietet für verantwortliches und erlebnisintensives Reisen, differenzierte Wahrnehmung des „Fremden“ und kritisches Hinterfragen des eigenen Handelns. Wir hoffen, dem Leser einen Ansatzpunkt zu bieten, von dem ausgehend er eigene Nachforschungen und Überlegungen zur Gesellschaft und dem Konflikt anstellen kann. Dies scheint uns wichtig, da der vorliegende Band unserem kulturellen Verständnis als Europäer, Wissenschaftler und Reisende entspringt.
Obwohl wir versucht haben, unsere persönlichen Eindrücke in ausgewogener Form wiederzugeben, ist uns durchaus bewusst, dass es keine absolute Objektivität geben kann. Zu vielfältig und vielschichtig sind die Meinungen, Überzeugungen und „Wahrheiten“, die das Leben und den Konflikt dieser Region reflektieren. „Wahrheit“, davon sind wir überzeugt, spiegelt immer die Lebenswirklichkeit desjenigen wider, der sie ausspricht. Wir glauben, dass es mitunter wichtig ist, auch unbequeme „Wahrheiten“ offen auszusprechen, und sei es um den Preis der politischen Incorrectness. Dass es für unsere Ausführungen und Interpretationen nicht nur Zustimmung geben wird, ist uns durchaus bewusst. Das gilt insbesondere für den Bereich dieses Buches, der sich mit dem gewaltsam ausgetragenen „Kaschmir-Konflikt“ befasst. Wir legen jedoch Wert auf die Feststellung, dass es nicht in unserer Absicht liegt, eine der an diesem Konflikt beteiligten Parteien persönlich anzugreifen, wenngleich einige ihrer Verhaltens- und Verfahrensweisen kritisch kommentiert werden müssen. Vielmehr betrachten wir auch die publizistische Form des Diskurses als konstruktiven Ansatz zur Lösung eines spezifischen Problems – nicht nur in Kaschmir. Es ist daher nicht unser Anspruch, die eine, unumstößliche „Wahrheit“ zu präsentieren. Vielmehr möchten wir gerne dem Leser den Teil davon zeigen, welchen wir während unserer Aufenthalte in Kaschmir wahrgenommen, erlebt und mit Einheimischen erörtert haben. Wir möchten Denkanstöße geben. Denn am Ende ist eines sicher: Die „Wahrheit“ hat viele Gesichter. Heidelberg, im März 2014