Читать книгу Lux - Olivia Kuderewski - Страница 11

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»Meine Letzte hat auch alles auf Sex bezogen. Sie hat immer so große Augen hinter ihrer Brille gemacht«, sagt Kat, reißt die Augen auf und bleibt neben dem Berg aus polierten Orangen, die zu einer Pyramide gestapelt sind, stehen.

»Und dann hat sie mir jede Woche fünfzig Minuten lang in den Schritt gestarrt, also im übertragenen Sinn.«

»Analytikerin?«, fragt Lux, und ihr Blick klettert über die perfekten Orangen. Auf jeder einzelnen blitzen dieselben Reflexe von den Leuchtstoffröhren an der Decke. Überhaupt sieht das Obst hier zu gut und zu bunt aus, denkt sie, als sie sich umsieht, die Äpfel sind rot, die Zitronen gelb und die Blaubeeren blau, reine Farben, als wären die Früchte in ihrer eigenen Haut verpackt und alles zusammengestapelt wie Bauklötzchen. Kat scheint irgendwas zu suchen.

Sie schnalzt mit der Zunge. »Nee. Verhaltenstherapie.«

»Und du? Hast ihr viel über deinen Schritt erzählt?«, fragt Lux, aber so, dass man es für ein Spruch halten könnte, keine ernst gemeinte Frage. Kat sieht so aus, als könnte sie haben, wen sie will. Wenn sie denn überhaupt will.

»Hab die Beine breitgemacht«, sagt Kat. »Sind diese Teile aus Plastik?«

Sie greift nach einer der untersten Orangen. Lux sieht ihrer weißen, zähen Hand zu, die sich um die Kugel legt und anspannt, sie hört schon in ihrem Innern: das Rutschen, das dumpfe Aufschlagen, die Lawine aus saftschweren Kugeln, die über den Plastikboden des Supermarkts in entlegene Ecken rollen, und Kat mittendrin, mit einer einzigen Orange in der Hand.

Kat zieht sie raus. Die Pyramide sackt ein bisschen ein, und ein schwarzes Loch bleibt im Orange zurück. Lux atmet weiter.

»Mir hat einer mal seine Doktorarbeit vorgelesen, drei Sitzungen lang«, sagt sie, und Kat nickt, tauscht die Orange gegen einen Pfirsich, dann den Pfirsich gegen einen Apfel.

»Um was ging’s?«, fragt Kat.

»Ob man suizidalen Mädchen Trizyklika geben darf oder ob sie sich dann nicht trotzdem umbringen, weil sie davon fett werden.«

Eine alte Frau, die in ein paar Metern Abstand die Zitronen mit einem Plastikhandschuh befühlt, verfolgt Kats Bewegungen.

»Und was kam raus?«

»Dass man sie besser schlank lässt.«

»Sicher«, sagt Kat und sucht sich einen kleineren Apfel aus, »haben doch kein größeres Problem, die schönen, jungen Dinger.«

Die Frau starrt böse zu ihr. Als die Alte anfängt, ihren eingepackten Finger zu schütteln, sieht Kat es nicht oder ignoriert es. Lux fühlt sich angesprochen, die Frau glotzt jetzt sie an, dabei fasst sie doch gar kein Obst an, sie zuckt mit den Schultern, hält die Hände abwehrend hoch, als wäre sie gestellt worden.

»Was ist?«, fragt Kat und folgt Lux’ Blick.

Das Obst liegt still, und ein leiser Popsong läuft vor sich hin, nur der Zeigefinger der Frau bewegt sich, und Kat starrt sie an, ausdruckslos, den Apfel in der Hand. Irgendetwas wird jetzt passieren, denkt Lux. Und sie würde jetzt gerne verschwinden, nichts damit zu tun haben, würde sich gern unbemerkt um eines der Regale schieben, die zu irgendwelchen anderen Lebensmitteln führen, da löst sich Kat aus ihrer Starre. »Arschloch«, sagt sie, aber leise, wie zu sich selbst, und legt den Apfel zurück zu den anderen.

Als sie weitergehen, dreht Lux sich noch ein paarmal zu der Frau um, die kopfschüttelnd zwischen den Früchten zurückgeblieben ist.

»Nimmst du gerade irgendwas?«, fragt sie Kat, die Stille ist ihr unangenehm, ihr jagt ein Schauer über die Arme, sie stehen mittlerweile zwischen den Kühlregalen.

Kat schüttelt den Kopf.

»Nur Ritalin fürs ADHS. Und Vitamin D.«

Kat nimmt ein kleines Fläschchen mit Ingwerkonzentrat aus dem Regal, liest, was draufsteht. Wenn Ritalin also kein Medikament ist, denkt Lux, dann ist ADHS hier auch gar keine Krankheit, sondern vielleicht eher so etwas wie Kurzsichtigkeit. Kat greift nach einem zweiten Fläschchen, steckt beide in ihre Manteltasche.

Und vielleicht ist deine »mittelgradige Episode« für Kat auch bloß eine lahme Verstimmung, nach allem, was sie dir schon erzählt hat, die Tonne an Medikamenten, die wechselnden Therapien, sie macht am laufenden Band Witze darüber. Etwas, über das man längst hinweg ist. Wie die Pubertät.

Lux’ Telefon klingelt, sie zuckt zusammen.

»Ich muss da kurz ran«, sagt sie, und Kat nickt, schlendert weiter, mit den Händen in den Manteltaschen, als würde sie hier einen Spaziergang machen. Dieser Supermarkt ist besser besucht als jede andere Attraktion der Stadt, Lux hat an keinem Ort in Detroit so viele Leute zu Fuß gesehen wie hier.

»Hey, Charles.«

»Shit, Lux, tut mir leid, ich hab geschlafen wie ein Stein.«

»Kein Problem.«

»Was war denn los? Alles okay?«

»Ich …«, Lux sieht, wie Kat nach einer Packung Chips greift und sich interessiert die Inhaltsstoffe auf der Rückseite durchliest, »… bin in Detroit.«

»Du hast so oft angerufen.«

Die Sorge tropft aus ihrer Stimme. Lux kann auch Mitleid durchs Telefon hören, über einen Ozean hinweg, Charles, die sie öfter als ihre Eltern gefragt hat, ob das eine gute Idee ist, alleine, so weit weg, mit alldem.

»Ist schon wieder okay«, sagt Lux und weiß nicht, wie sie diesen Satz sagen soll, damit sich andere keine Sorgen mehr um sie machen.

Charles seufzt. »Vielleicht war das keine gute Idee zu reduzieren. Kannst du da zum Arzt?«

Lux wirft die Augen an die Decke. Die Leuchtstoffröhren blenden sie, und für ein paar Sekunden sieht sie danach tanzende schwarze Flecken.

»Charles, es geht schon, wirklich.«

»Okay. Aber pass auf dich auf. Und ich stell mein Telefon jetzt lauter.«

»Schon okay.«

Als sich die Flecken im Blick verziehen, ist auch Kat weg. Lux sieht sich um. Sie verfällt ins Gehen, schneller, ans Ende des Ganges, sucht sie, wendet den Kopf, sieht in den nächsten Gang, beruhigt sich wieder.

Kat greift nach einer kleinen Packung Erdnüsse. Es ist eine dieser verbeulten Vakuumverpackungen, eine Handvoll Nüsse, die unter einer Plastikhaut zusammengequetscht sind wie ein Geschwür. Sie liest sich wieder die Rückseite durch, dann verschwindet das Päckchen in ihrer Manteltasche.

»Hast du genug Medikamente dabei?«, fragt Charles am Telefon.

»Äh. Ja«, sagt Lux.

»Und, ich meine, wenn’s dir wirklich schlecht geht, kannst du ja auch zurückkommen. Ich meine, ist mutig, was du machst, ich will nur nicht, dass du dich … unter Druck setzt, weißt du? Es wär auch okay, wenn du einfach zurückfliegst. Aber das weißt du ja. Scheiße, ich will mich nicht anhören wie deine Mutter«, sagt Charles und lacht auf.

Kat lächelt Lux an. Ihre spitzen Zähne kommen zum Vorschein. Eine Echse, denkt Lux und erwartet für einen Moment, dass sich eine schmale, gespaltene Zunge zwischen ihren Lippen zeigt.

»Lux?«

»Äh, ja. Keine Sorge. Ich hab jemanden getroffen.«

»Jemanden getroffen?«

»Ja, wir fahren gemeinsam weiter. Erst mal.«

»Ein Typ?« Charles’ plötzliche Spannung in der Stimme, ihr plötzlicher Überschuss an Neugier holt Lux ins Gespräch zurück.

Wie sehr sie darauf hofft, dass du dich wieder in irgendwen verliebst. Als bräuchtest du eine neue Krücke.

»Kein Typ

»Okay, okay. Amerikanerin?«

»Ich denke schon«, sagt Lux und geht durch das Labyrinth der Regale, sie hat Kat wieder aus den Augen verloren.

»Das ist sicher gut. Wenn du nicht allein bist«, sagt Charles.

Da ist sie wieder. Spricht mit jemandem, einem jungen, blassen Typen mit strähnigem Haar. Er hat einen Pappkarton unterm Arm. Sie macht eine Geste, als würde sie etwas durchschneiden, eins der Symbole von diesem Kinderspiel, Schere, Stein, Papier. Der Angestellte zeigt irgendwohin, erklärt. Als Kat wieder weg ist, starrt er eine Weile auf den Karton in seinen Händen. Als wüsste er nicht mehr, was damit zu tun ist.

»Okay, Charles, ich muss weiter, meld mich«, sagt Lux, und Charles sagt: »Ja, ruf an, wenn was ist, immer, und mach Fotos, ja?«, dann ist sie weg.

Lux findet Kat bei dem Zubehör für Telefone. Sie liest sich gerade die Rückseite einer Speicherkarte durch.

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragt sie.

»Mit ner Freundin.«

»Freundin-Freundin? Oder deine Freundin?«

»Äh. Freundin-Freundin.« Lux nimmt ein Ersatzladekabel in die Hand. Sie weiß nicht, wohin mit ihren Händen.

»Macht sie sich Sorgen um dich?«

»Sorgen?«, fragt Lux, als wäre das abwegig.

»Na, weil du hier allein bist. Mit deinen Problemen.«

Kats Blick kriecht Lux unangenehm unter die Haut. Sie zuckt mit den Schultern. Hängt das Gerät wieder zurück an seinen Haken.

»Machen sich deine Eltern Sorgen?«, fragt Kat weiter.

»Na ja«, sagt Lux und muss wegsehen, warum bohrt sie so, denkt sie, warum will sie das wissen?, »wie Eltern halt so sind. Deine nerven dich doch sicher auch damit.«

Für ein paar Sekunden drängen Kats Augen weiter in Lux. Dann, plötzlich, bricht ein Lächeln in ihr Gesicht, und die Kälte ist mit einem Schlag weg.

»Nicht mehr vorhanden. Deck mich«, sagt sie, aber bevor Lux verstanden hat, schneidet Kat mit einer großen Küchenschere, an der ein Preisetikett befestigt ist, die Verpackung der Speicherkarte auf, mit dem nächsten Griff hat sie den kleinen Chip in der Hand. Lux sieht sich um, der Junge mit dem Karton läuft an ihnen vorbei und starrt Kat auf den Rücken, aber er guckt schnell weg, als Lux’ nervöser Blick und seiner sich treffen. Kat klemmt das kleine Ding in den Kartenhalter und schiebt ihn zurück in ihr Smartphone.

»Du solltest dir auch was besorgen«, sagt sie, als sie die Schere an die Regalwand und die kaputte Packung hinter die intakten hängt, mit absolut ruhigen Händen.

»Ich … bin dafür nicht gemacht«, sagt Lux und fragt sich, ob Kat es eigentlich hören kann, ihr wahnsinnig lautes, panisch klopfendes Herz. Das ganze Zeug, das sie sich in die Taschen gepackt hat.

»Ach. Adrenalin wirkt aber besser als deine Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Was ist damit?«, fragt Kat und dreht einen Ständer mit Sonnenbrillen, der in der Nähe der Kasse steht.

»Kat, nein.«

»Komm. Ich mach den elektronischen Krempel ab, und du setzt sie auf.«

»Und dann?«

»Einfach rausspazieren.«

Kat zieht eine Brille heraus und reicht sie Lux. Sie zögert. Sieht zu den Kassenbändern. Nur drei davon sind besetzt. Die Angestellten ziehen stoisch Produkte über die Scanner, es piept unregelmäßig, die Kunden stehen Schlange, warten brav. Und wenn es hier Kameras gibt, denkt sie, die amerikanischen Gefängnisse sind alle privatisiert. Lux sieht Kat an. Setzt die Brille auf.

»Zu spießig für dich«, sagt Kat sofort und greift nach einer anderen mit Metallrahmen.

»Kat, ich …«

»Hier.« Sie hat das Etikett, das wegen des dünnen Rahmens schlecht an der Brille befestigt ist, schon entfernt und es auf den Boden fallen lassen.

»Und jetzt schieb sie dir ins Haar und probier noch zwei andere an«, sagt sie, hält ihr Smartphone hoch und schießt ein Foto von Lux, die sich nicht dagegen wehren kann, weil alles zu schnell geht.

Als der Kassierer die Dose Kaugummis über den Scanner zieht und dann zu Kat hochsieht – es ist der Junge mit dem Karton –, wirkt es wieder so, als hätte er vergessen, was als Nächstes kommt, so blank ist seine Stirn. Lux versucht, die Hitze in ihrem Gesicht wegzukämpfen, der Metallrahmen der Brille steckt ihr glühend in der Kopfhaut, das Herz klopft stärker als bei ihren Anfällen.

»Kassenbon?«, fragt er. Seine Augen leuchten.

»Brauch ich nicht, danke«, sagt Kat und lächelt höflich.

Lux

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