Читать книгу Lux - Olivia Kuderewski - Страница 8
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ОглавлениеLux zieht die Beine an und lässt ihre Knie gegen den Vordersitz sinken. Das Plastik knackt leise, als sie langsam das ganze Gewicht ihrer Beine hineindrückt, sich vorsichtig in diesen kantigen Leerraum zwischen zwei Sitzen keilt wie ein Krebs in eine Felsspalte, ein Schalentier in einem amerikanischen Langstreckenbus.
Das alte Polster der Sitze riecht. Hinter ihr atmet jemand sehr laut.
»… Gepäck in die Ablage, was im Flur steht, fliegt raus. Stellt eure Kinder ruhig, dann bleib ich auch ruhig.«
Die Befehle der Fahrerin dröhnen durch den Bus, sie muss die Lautstärke ihres Mikros voll aufgedreht haben. Lux meint, die Scheiben zittern zu sehen.
»Also: Stellt mir keine Fragen. Und lasst mich einfach meinen Job machen.«
Der Lautsprecher knackt, ein Husten aus der hintersten Ecke. Dann ist es still.
Draußen zieht New York vorbei. Lux nimmt die Beine wieder runter, weiß nicht, wie sie sich hinsetzen soll, damit der Plastiksitz ihr nicht die Knochenkonstellation verschiebt. Aber das muss so sein, denkt sie: Man steigt auf der einen Seite des Kontinents in einen klapprigen Bus, in dem es immer zu kalt oder zu warm ist, in dem man durchgeschüttelt, in den Kurven hin- und hergeschleudert wird, man rauscht auf einer Strecke dahin, die so gerade und lang ist, dass die Rundung der Erde am Horizont sichtbar wird, mit der Schläfe gegen die Scheibe, dämmert weg, wacht wieder auf, und die Landschaft hat sich in der Zwischenzeit neu erfunden, und dann steigt man nach Stunden, in denen das Innere Kalk ansetzt und die Muskeln verhölzern, in denen alle im Bus zu Leidensgenossen geworden sind, aus, in einem anderen Teil des Landes, gerädert, aber glücklich, woanders zu sein.
Vierzehn Stunden. Mit dem Auto wären es zehn, wenn sie es geschafft hätte, jemanden anzuhalten, zwei verschwendete Stunden am Straßenrand. Die Hitze hat sie kleingekriegt, sie wusste nicht, dass es im Juni in New York so heiß sein kann.
Die verschwimmende Großstadt vor dem Busfenster. Das ist es, weswegen sie hergekommen ist, wegen einer Großstadt hinter einer Scheibe, wegen einer sich bewegenden Landschaft hinter einer Scheibe. Ist das nicht lächerlich?
Leon wäre nie nach Amerika gefahren. Er hätte auch nicht Amerika gesagt, sondern »USA« oder »Vereinigte Staaten«, und er hätte das Gesicht bei dem Vorschlag verzogen, als wäre das etwas Ekelhaftes. Ist es nicht lächerlich, durch Amerika zu fahren, denkt Lux, oder war das Leons zischende Stimme in ihrem Ohr, die sie beim Versuch zu trampen kleingekriegt hat? Sei nicht so verdammt passiv. Sie lässt die Stirn wieder gegen die Scheibe sinken.
Eine Frau, die vor den Hochhaustürmen völlig zerweht wird. Ihre Haare treiben im Wind, den Rock drückt sie mit einer Hand runter, die andere hält ihren Kaffee. Das Hupen auf den gigantischen Kreuzungen, deren Zebrastreifen grotesk verzogen sind von der Blechlawine, die jeden Tag darüberrollt. Die blendenden Plätze und die schattigen Gehwege, auf die niemals Sonne fallen wird, und der irre Blick der New Yorker, der alles durchschießt, manisch und ignorant. Sie spürt die erdkernnahe U-Bahn-Luft und die klirrende Kälte der Klimaanlagen noch auf der Haut. Hat den Geruch der Stadt noch in der Nase, den schmelzenden Asphalt. Ihr Blick verfängt sich weiter an den Metro-Schildern und den schwarzen Feuertreppen, auf die man sich zum Rauchen setzt. Es ist einfach. Es gibt hier Orte, an denen man ganz genau weiß, was zu tun ist.
Sobald die Gebäude draußen niedriger werden und es nach Stadtrand aussieht, klickt sie sich durch die Fotos und Videos, die sie in den letzten Tagen gemacht hat. Den Großteil hat sie schon an Charles geschickt. Charles, die gesagt hat: »Schick mir alles, wenn ich schon nicht dabei sein kann.« Charles, die studieren muss und da nicht weg kann.
Charles fehlt. Etwas fehlt dauernd neben Lux.
Es sind Hunderte Bilder vom Himmel, vom blasser werdenden Himmel hinter Beton, Stein und Glas. Der hellblaue, der orange, der rote, der violette, der nachtblaue Himmel. Sie ist gelaufen, den ganzen Tag, bis in die Nacht hinein, ist gepilgert, dann wie tot ins Bett gefallen, um am nächsten Tag weiterzulaufen.
Aber irgendwas stimmt mit diesen Bildern nicht.
Sie hat nur ein einziges von sich selbst gemacht, und das nur, weil Charles sie darum gebeten hat, »als Beweis, sonst glaub ich dir nicht, dass du wirklich dort bist, mach schon«. Lux hat es am Ufer des East River geschossen, ein Bauzaun steht hinter ihr, es war kein besonders schöner Abschnitt am Fluss. Ihre fedrigen, halblangen Haare wehen vor den Zaunmaschen herum, sehen farblos aus, verschwinden fast im Hintergrund. Die Sonne blendet, und man erkennt kaum, welche Farbe ihre Augen haben. Es könnte beinahe ein Lächeln sein, dieser schmale, auf einer Seite verzogene Mund, aus dem die Zähne hervorblitzen. Lux entdeckt ein kleines Loch an dem ausgeleierten Saum des Shirts, direkt unter dem Schlüsselbein. Ihre Haut färbt sich schon, färbt sich schnell, jetzt, wo sie auch wieder an den Tagen wach ist.
»Wow«, schreibt Charles zurück, und Lux muss lächeln. Während sie versucht, eines der Bilder zuzuschneiden, geht der Alarm in ihrer Hand los, bricht plötzlich in die rauschende Stille. Erschrocken wischt Lux ihn weg und sieht hoch, in die Gepäckablage über sich.
Jetzt den ganzen Rucksack durchwühlen, die Stille aufwühlen, das Gepäck aus der Ablage holen, du hättest vorher daran denken sollen.
Sie steht auf. Zieht an dem Riemen, der aus der Ablage heraushängt, zerrt daran, bis das Gewicht des Rucksacks an die Kante rutscht, auf sie zukippt. Lux reißt den Kopf zur Seite, die neunzehn Kilo treffen sie am Schlüsselbein und werfen sich mit einem dumpfen Geräusch auf den Sitz. Das Blut pocht in ihren Wangen.
Sie muss sich mit beiden Händen bis an den Grund des Inneren wühlen. Muss die Arme bis über die Ellbogen darin versenken, graben, alles verschieben. Lux merkt nicht, wie sie die Luft anhält, erst als sie gefunden hat, was sie sucht, atmet sie wieder.
Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, ein Deo. Der Rest des Plastikbeutels, der schon so weißlich zerknittert ist, als hätte er eine Weltreise hinter sich, ist voll mit den knisternden, silbernen Streifen. Sie drückt eine der Tabletten so leise wie möglich raus, aber das Geräusch pflanzt sich in der wortlosen Stille viel zu weit fort.
Jetzt weiß jeder in diesem Bus, dass du durchgeknallt bist.
Sie schlägt sich die Tablette in den Mund und schluckt sie ohne Wasser. Als sie weiter nach ihrem Pulli wühlt, streift ihre Hand etwas im Rucksack, das dort gar nicht mehr sein sollte. Sie zieht es überrascht heraus. Die Mappe ist zerbeult, man sieht ihr an, dass sie herumgeschleppt wurde, die Ecken ausgefranst und abgeknickt.
Du wolltest sie längst loswerden. Du wolltest sie an diesem Punkt schon losgeworden sein, du hattest dir Rituale dafür ausgedacht. Du wolltest sie von der Brooklyn Bridge in den East River segeln lassen, die Blätter hätten sich in alle Winde zerstreut. Oder ein kathartisches Lagerfeuer in der Nacht in einem der verwahrlosten Teile der Stadt, zwischen Bauzäunen, Lagerhallen und Müll.
Lux hält sie mit beiden Händen auf dem Schoß. Sie starrt auf den Sticker in der Mitte des festen Papiers, auf dem so etwas wie Wald in Kleinformat gedruckt ist. Sie kennt das Bild, es ist die Aussicht von der Sonnenterrasse der Bekloppten auf Station 5. »Neue Lebensqualität« steht darüber mit einem hässlichen, grafischen Schwung in Orthopädiegrün, und in Lux flammt ein Ärger auf.
Ganz vorne liegt der Entlassungsbericht. Sie zögert, aber überfliegt ihn dann doch, Teile davon kann sie auswendig. Ihr Blick holpert über Begriffe wie »stationär«, »rezidivierende depressive Störung«, »interaktionelle Gruppenpsychotherapie«, »Eigenverantwortung«, »gegenwärtig mittelgradige Episode« und die ICD-Nummer ihrer Diagnose. Der Wisch endet mit dem Satz: »Ausreichend stabilisiert sowie ausdrücklich und glaubhaft von akuter Suizidalität distanziert und absprachefähig wurde die Patientin aus unserer vollstationären Behandlung entlassen.« Auf der Rückseite drei Unterschriften und die Empfehlung zur Medikation.
Lux knüllt den Zettel zusammen, das Papier faucht. Sie drückt ihre Faust so fest darum, dass sich ihre Fingernägel in den Handballen graben. Die Mappe ist dick, voll von Papieren in unterschiedlichen Farben und Formaten, Notizzetteln mit Klinikstempeln und handgeschriebenen Terminen, Tabellen, therapeutischen Gedichten, Überweisungsscheinen, ein dicker, bunter Packen. Das Informationsmaterial aus der Depressionsgruppe: Müll. Der abgegriffene Therapiestundenplan: Müll. Der Brief, den sie an ihr inneres Kind schreiben musste: Sondermüll. Der Befund von der Blutabnahme, die Spannungskurve für die Angstzustände, das Übungsblatt zur progressiven Muskelrelaxans, die Liste mit den Notfall-Skills, die Überweisung aus dem Krankenhaus, die kaum zu fassende Rechnung, die Flyer sämtlicher Krisendienste in der Umgebung: alles Müll. Zwölf Wochen Intensivtherapie, um dann Pillen zu schlucken, denkt sie, und ihr entfährt ein Schnauben, unwillkürlich, ein paar Blätter rutschen von ihrem Schoß auf den Boden, und sie schiebt sie mit dem Fuß von sich weg, zertritt sie unter ihrem Turnschuh.
Sie hat sich durch die ganze Mappe gewühlt, rückwärts durch drei Monate, als ihr Blick auf eine Frage in dem Papierchaos fällt und sie stutzt: »Meine Warnzeichen für eine nahende Depression sind?«
Und darunter steht in ihrer eigenen Schrift das Wort »Glocke«.
Sie hat es nicht mehr benutzt, seit sie rausgekommen ist, dieses Wort. Seit sie diesen dummen Fragebogen ausgefüllt hat, kein einziges Mal hat sie es ausgesprochen, vielleicht gedacht, aber nur flüchtig, eigentlich hat sie es nicht mal richtig gedacht, seit damals auf der Terrasse der Klinik.
Lux war allein gewesen in der Nacht. Die Zimmergenossin mit den verbundenen Armen, an deren Schnarchen sie sich schon gewöhnt hatte, war weg, »ausgezogen«. Vielleicht konnte Lux deswegen nicht schlafen, das Wegbrechen der Hintergrundgeräusche oder die alte Angst vorm Dunkeln. Vielleicht waren die Scheinwerfer der stillen Krankenwagen, die die ganze Nacht an der Zimmerdecke vorbeifuhren, schuld; oder das Bett, dieses schmale, fremd bleibende Bett, aus dem immer ein Körperteil heraushing. Sie stand auf, ihre Hand griff nach irgendetwas in dem fremden Schrank, in dem sich die Klamotten häuften, etwas weiches Warmes, um auf der Raucherterrasse nicht zu frieren. Eigentlich war das einer der guten Momente. Wenn die ganze Klinik eingeschlafen war bis auf ein paar geisterhafte Schwestern und die Maschinen. Das Schlurfen der Hausschuhe in den leeren Gängen. Das gedimmte Licht, nicht dieses grelle Weiß, mit dem sie einem tagsüber in den Kopf leuchteten. Die schwere Tür zur Terrasse und das Betonquadrat, darüber ein Stück Himmel und manchmal Sterne. »Gefängnishof« nannten das die anderen.
So stellt man sich das vor, dachte sie, in Hausschuhen, Schlafanzug und riesigen Strickjacken nachts durch die Flure der Klapse schleichen. Wer hat sich diese Strickjacken für verrückte Frauen ausgedacht?, überlegte sie, als sie in den Taschen nach einem Feuer wühlte.
Sie zog das Feuerzeug heraus, und die Kippe rutschte ihr aus dem Mund.
Da war es die ganze Zeit. Leons Feuerzeug, ihr Feuerzeug, das mit dem Luchs. Wie lange muss es dadrin gewesen sein?, stotterte es damals in ihren Gedanken. Ihre Hand fing an zu zittern, und damit auch das ernste Gesicht der Katze auf dem Feuer, ein geschecktes Katzengesicht, dem Leon zwei Büschel über den Ohren eingeritzt hatte. »Um die Katze zum Luchs zu machen«, hatte er gesagt, »sie hatten keine Luchs-Feuerzeuge im Sortiment.« Der Dreck der Raucherfinger sammelte sich in den schiefen, weißen Rillen. Und Lux hatte sich selbst gewundert, dass sie diesen dämlichen Witz immer wieder lustig fand, wenn er sie anfauchte, mit einem kratzigen »Ch«, die Finger zu Krallen verbogen. Lux, Luchs – wie das Tier. Es war so bescheuert, dass sie davon jedes Mal Herzklopfen bekam.
Eine Woche später war er tot.
Und du hast es doch nicht verloren, dachte sie dort auf der Terrasse, es war die ganze Zeit in dieser hässlichen Jacke, du hast es nicht verloren, nur musstest du erst irre werden, um es wiederzufinden.
Dann wurde alles unhörbar. Jemand kam nach draußen, um auch zu rauchen, eine Nachtschwester, aber Lux hörte nichts mehr außer einem lauten Rauschen. Sie merkte nur vage, wie diese Person an ihrem Arm rüttelte, alle Kanäle verstopft, Ohropax auch für die Haut, der Mund dieser Person bewegte sich lautlos. Da war Lux schon weg, schon isoliert unter der Glocke, dickwandig, aber durchsichtig, war am Durchdrehen auf engstem Raum, bloß im eigenen Schädel, aber sichtbar für alle anderen.
Sie zerreißt diesen Zettel. Das Geräusch holt sie in den Bus zurück, macht ihr bewusst, dass sie sich schon wieder schämen könnte für ihre Bemerkbarkeit. Sie stopft die Blätter, die herausgerutscht sind, zurück in die Mappe und versucht, das Ganze in der Mitte durchzureißen, aber es ist zu dick, sie knickt es stattdessen, presst es zusammen. Ihr Blick sucht die Fensterscheiben ab, die sich natürlich nicht öffnen lassen, schon wieder eingesperrt, und sie lässt die Mappe auf den Boden fallen, zwischen ihre Füße, tritt drauf und schiebt sie unter den Sitz, kickt sie mit der Ferse nach hinten, soll sich der Nächste mit ihrer Vergangenheit beschäftigen.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Der Himmel sieht wirklich aus wie eine Kuppel, sobald keine Stadt mehr in Sicht ist, und die Sonnenuntergangsfarben laufen daran herunter wie über gewölbtes Glas, das ist in Ordnung. Es ist alles so, wie du es dir vorgestellt hast, also ist es in Ordnung, du bist in einer Stadt eingestiegen, um in der nächsten auszusteigen und dir dazwischen den Rausch am Straßenrand durch die Augen laufen zu lassen, um zu kapieren, dass es nichts gibt, woran du dich festhalten brauchst.
»Ja, alles okay«, tippt Lux und schickt es an Charles.
Bald verschwindet die Landschaft, und die Scheinwerfer fangen an zu blenden. Sie weiß, wie geisterhaft ihr Gesicht von draußen aussieht. Wie das Licht immer wieder darüberfährt und die Pupillen sich zusammenziehen und weiten, während sie nichts sieht außer der Grenze zwischen Gras und Asphalt, die im Licht des Gegenverkehrs ab und zu auftaucht. Ein farbloses Bild, als wäre alles schwarz-weiß über Nacht. Sterne sind keine da, auch keine mondgesichtigen Kühe. Wenn Lux die Stirn gegen die kühle Scheibe presst, meint sie zu wissen, wie es ist, da draußen zu sein, auf einem Feld in der Nacht, allein. Und wenn sie sich nicht gerade fortbewegen würde, wenn sie nicht wüsste, dass die Straße sie woanders hinträgt, an einen Ort, an dem sie nicht bleiben wird, wäre gar nichts in Ordnung.
Es rauscht und ruckelt unter ihr. Lux ist aufgewacht, aber sie lässt die Augen geschlossen. Das Rauschen erinnert sie daran, wo sie ist. Ihr ganzer Körper ist so steif, dass sie sich nicht traut, ihre Position zu verändern, vielleicht bricht dann etwas ab. Während sie geschlafen hat, sind ihre Gliedmaßen im Luftstrom der Klimaanlage vereist. Draußen wird es bald hell, und ihr hängen Fetzen eines Traums nach.
Leon war da, auf der Zugbrücke bei ihr zu Hause, obwohl er diesen Ort eigentlich nicht kannte. Er spuckte vom Geländer der Brücke auf die fahrenden Züge hinunter und lachte laut, wenn die Spucke kurz vorm Aufprall auf dem Zugdach durch den Luftstrom zur Seite gerissen wurde. Er versuchte, immer mehr Spucke aus sich heraus zu befördern, und ununterbrochen fuhren die Züge, sodass er immer weiter spucken konnte. Aber Lux wurde unruhig, sie war sich sicher, dass das verboten war, sie rüttelte ständig an Leons Arm, um ihm zu sagen, dass sie Ärger kriegen würden, wenn die Spucke auf dem Zug landete, es wären schon mehrere Leute an so was gestorben, sagte sie, aber Leon lachte sie aus, meinte, das wäre »physikalisch unmöglich«. Er könne es ihr beweisen, man käme wegen des Fahrtwindes nie auf dem Zugdach auf. Er beugte sich weit nach vorne, mit dem ganzen Oberkörper über das Geländer und spuckte einen Riesenbatzen, der strack nach unten fiel, und zack, die Spucke wehte zur Seite. »Siehst du, unmöglich!«, rief er durch das laute Zugrauschen hindurch und grinste, aber Lux sah sich panisch um, und plötzlich stand Leon auf dem Geländer, ragte gerade in den Himmel und breitete die Arme aus. Er lachte laut, »physikalisch unmöglich!«, und Lux griff nach seinen Beinen, aber griff nur Luft. Er fiel steif nach unten, gerade wie ein Stock, und drehte sich um die eigene Achse, viel zu lange drehte er sich für diese Strecke, physikalisch unmöglich lange, und der Luftstrom wehte ihm den Hut vom Kopf, aber trieb den Körper nicht zur Seite.
Ihr Atem beschlägt das Fenster. Lux erkennt den Horizont, der sich langsam aus dem Schwarz heraushebt, und sie sucht die Linie müde ab, aber kann keinen einzigen Baum entdecken.
Sie streckt die Beine unter den Sitz vor sich aus, am schlimmsten tut der Nacken weh, da stößt sie mit dem Ellbogen an etwas neben sich.
Zwei große schwarzrandige Tigeraugen starren sie in der Dämmerung an. Helles Haar fällt darüber, hell wie Schafswolle, so hell, dass Lux sich fragt, ob es nicht Fell ist, es fließt über eine Wange, über ein Kinn, einen Hals, eine Schulter, es gießt sich über einen schlanken Körper, bis zur Taille. Lux’ Oberschenkel und das Knie dieser Gestalt berühren sich. Ihre Tigerschlafmaske ist ein bisschen verrutscht und gibt eine Augenbraue frei, die genauso weiß ist wie ihr Haar.
Sie muss an einem der Zwischenhalte eingestiegen sein. Lux sieht an ihr herunter. Mit jeder Minute heben sich mehr Farben und Formen aus der Dunkelheit. Ihre Knie sind mit Rosen überzogen, eine transparenten Strumpfhose, auf die weiße und violette Pastellblumen gedruckt sind. Ein enges dunkelblaues Kleid, ärmellos und bis knapp über die Hüfte. Vom Hals bis zu den dünnen Handgelenken zieht sich weiße Spitze über ihre Arme, ihre Haut blitzt nur minimal dunkler durch die winzigen Löcher, und sie trägt grobe, braune Lederstiefel.
Lux hat noch nie so einen blassen Menschen gesehen.
Das weiße Haar reflektiert das Licht, wirft es zurück. Vom hellen Blaugrau der Dämmerung verwandelt es sich unmerklich langsam in ein Rosa, in ein Elfenbein, in ein fast weißes Strahlen, ein dichtes Fell, ein wilder, weißer Schleier. An den Schläfen hat sie fast Locken, kleine, weiß glänzende Wellen, die von der Stirn abfließen. Eine der Strähnen liegt über der Schulter, steht ab. Und Lux kann nicht anders, sie streckt die Hand aus, greift vorsichtig danach und zieht sie durch ihre Finger.
Ein Schnauben. Lux zieht die Hand schnell zurück, die Strähne fällt. Sie hat ein wildes Klopfen im Brustkorb, ist sich aber plötzlich gar nicht sicher, ob das Geräusch wirklich von dieser Frau kam.
Für ein paar Sekunden sieht es so aus, als würde sie einfach weiterschlafen. Versteinert, kühl und glatt. Sie sieht wirklich aus wie aus Stein gehauen, die scharfen Konturen der Lippen, die Wangenknochen, die feine lange Nase, der Absatz der Augenbraue. Plötzlich hebt sich eine ihrer weißen Hände aus dem Schoß. Träge, schwebend, wie von selbst. Schiebt die Maske über einem Auge hoch. Zwischen den schwarz verschmierten Wimpern blitzt es auf.
»Hast du Wasser?«
Ihre Stimme ist rau vom Schlaf. Lux braucht einen Moment, um zu verstehen, dass die Frage an sie gerichtet ist. »Äh, ja«, sagt sie, und zieht ihre halb volle Flasche Wasser aus dem Netz vor sich.
Ihr Knie klebt immer noch an deinem Oberschenkel.
»Kannst du mal?«
Wieder kapiert Lux nicht, was sie will, sie hat ihr die Flasche in die Hand gedrückt, aber die andere trinkt nicht, hält sie bloß, als wüsste sie nicht, was damit zu tun ist. Dann fällt es ihr auf, natürlich, der Deckel, und Lux schraubt ihn umständlich ab.
Es gluckert laut, als das Wasser in sie hineinläuft, in ein paar Zügen trinkt sie die Flasche leer, bis zum letzten Tropfen, und lässt sie dann einfach fallen, rollend verschwindet sie unter den Sitzen. Der Deckel bleibt in Lux’ Hand zurück.
Sie knetet das Plastikteil und blickt aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Da rauscht Stadt vorbei im Morgenlicht, aber was für eine Stadt, irgendeine Stadt unter irgendeinem Himmel. Als sie einen unauffälligen Blick zur Seite wirft, merkt sie, dass das Auge nicht zugegangen ist. Es mustert sie unter der Schlafmaske.
»Lux, nicht?«
Sie sagt es richtig. Lux, mit einem richtigen »U«, kein unsauberes amerikanisches Halb-A, wie es sonst alle hier machen, und das »L« auch nicht kehlig, sondern so, wie es sein soll, mit der Zungenspitze gegen die Zähne. Die richtige Aussprache wundert Lux, aber noch nicht die Tatsache, dass sie ihren Namen kennt, da greift die andere schon an ihren Beinen vorbei in das Netz, in dem gerade noch die Wasserflasche gesteckt hat. Sie zieht das zerknitterte Busticket heraus, auf dem Lux’ voller Name steht. Ihre Finger sehen irgendwie zäh aus, wie sie das Ticket auseinanderfalten, die Nägel sind so kurz geschnitten, dass man kein Weiß sieht. Sie schiebt sich die Schlafmaske in die Haare, sodass jetzt ein paar Strähnen wie Antennen von ihrem Kopf abstehen, »ich hab mich die ganze Zeit gefragt, was das für ein merkwürdiger Name ist«, sagt sie, »aber du hast ewig geschlafen.« Es klingt wie ein Vorwurf.
Lux schaut sich im Bus um. Die vorderen Reihen sind komplett leer, und auch hinter ihnen sitzen nur noch ein paar vereinzelte Leute, Alleinreisende, die den Rest der Fahrt auf Doppelsitzen verschlafen.
»Warum sitzt du hier?«, fragt Lux und greift nach dem Ticket.
Die andere lässt es sich ohne Probleme aus der Hand nehmen. Sie schnaubt auf. »Warum bist du hier?«, fragt sie.
Und dann rückt sie weg, ihre Knie lösen sich von Lux’ Oberschenkel, sie zieht sie an und stemmt sie gegen den Sitz vor sich, knallt sie so dagegen, dass das Plastik laut knackt und die Scharniere quietschen.
Sie lächelt. Spitze Zähne kommen zum Vorschein. Die Schlafmaske sitzt immer noch auf ihrem Kopf, und es sieht so aus, als wolle sie sie bereithalten für einen schnellen Identitätswechsel zum Tier. Sie nimmt die Knie doch wieder runter und bückt sich nach etwas am Boden, jede ihrer Bewegungen ist rücksichtslos, jede einzelne. Sie schmeißt sich eine Tasche aus altem, schwarzem Kunstleder, an deren Ecken die Beschichtung abgewetzt ist, auf den Schoß. Lux schielt auf ihre wühlenden Hände, sie entdeckt eine Packung Marlboro, ein glitzerndes Portemonnaie und eine lose Zahnbürste, irgendwann findet die andere eine Dose Kaugummis und schüttelt sie, um zu prüfen, ob noch was drin ist. Es rappelt wahnsinnig laut. Ein Kaugummi landet auf ihrer weißen Handfläche, sie schlägt ihn sich routiniert in den Mund, und ihr Kiefer fängt sofort an zu mahlen.
Vier Augen, die Lux durchleuchten – dann reißt sie sich die Schlafmaske vom Kopf. Steht auf, kramt in der Gepäckablage über ihnen, findet eine kleine Bürste, kämmt sich ruppig die Strähnen durch, geht den Gang hinunter zur Toilette und knallt die dünne Kunststofftür hinter sich zu. Sie hat das Gespräch scheinbar beendet, und Lux’ Blick hängt ein paar Momente im Gang, blank, allein gelassen. Die Tasche hat sie auf dem Sitz liegen lassen, und es zuckt in Lux, darin nach ihrer Identität zu wühlen, so wie sie es mit ihrer getan hat.
Sei nicht so passiv.
Dann knackt der Lautsprecher und reißt sie aus ihren Gedanken, die Busfahrerin kündigt an, dass sie jetzt Detroit erreichen, nichts liegen lassen, vor allem keinen Müll, Greyhound ist keine Reinigungsfirma.
Lux packt fahrig ihre Sachen zusammen und ist noch nicht fertig, als der Bus anhält und die Türen mit einem Zischen aufgehen. Sie stopft ihren Pulli in den Rucksack, will nach der leeren Flasche am Boden langen, tastet den krümeligen Teppich ab, findet sie nicht, sie ist zu weit weg gerollt, sieht auch die Mappe aus der Klinik nirgendwo, wer soll so etwas mitgenommen haben?, und kauert immer noch am Boden, als zwei schwere Stiefel sich in ihr Sichtfeld stellen und sie zwingen hochzusehen.
Sie hat einen dünnen, kurzen Mantel aus Teddyfell übergezogen, ein wenig dunkler als ihr Haar, und der Mascara ist nicht mehr verwischt. Sie sieht auf Lux herunter, als sie ihre Tasche vom Sitz nimmt, und Lux hat das Gefühl, dass ihre Gedanken erraten wurden. Sie würde jetzt gerne sagen, dass sie das nicht gemacht hat, zwar drüber nachgedacht hat, aber niemals würde sie in einer fremden Tasche herumwühlen, so etwas macht man nicht, würde sie gerne sagen, das geht zu weit, da dreht sich die andere um und geht ohne ein Wort.
Als Lux auf der Straße steht und jeden einzelnen ihrer Knochen spürt, wie überfahren, sieht sie sich um, in alle Richtungen dieser überlaufenen Busstation. Aber keine Spur mehr von dem hellen Fell. Als hätte es sie gar nicht gegeben.