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Detroit 3

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Der protzige Marmorbrunnen sitzt zwischen Rasenflächen, die aussehen, als wären sie mit der Nagelschere gekürzt worden. Die Tatzen der weißen Steinlöwen sind so groß wie Menschenköpfe, und Schildkröten aus Bronze, auf denen noch Erwachsene reiten könnten, kotzen das klare Wasser symmetrisch in die Höhe. Es gibt hier nichts, was die Perfektion stört. Keinen Schmutz, keinen Müll. Woher auch?, denkt Lux. Außer dem schäumenden Wasser bewegt sich hier nichts, keine Spur von Leben, weder Menschen noch Tiere sind hier, um ihren Dreck dazulassen, dieser Park ist die Hölle.

Lux steht sicher zehn Meter vom Brunnen entfernt und versucht es ein paarmal im Hochformat, aber weder so noch quer passt er auf den Bildschirm. Sie schießt trotzdem ein Foto – Marmor, Wiese, Wolken – und vergleicht es mit der Wirklichkeit.

Die Symmetrie lässt alles ein wenig tot wirken. Als wäre das ein monströses Grabmal auf einem sehr gepflegten Friedhof, ein Grabstein für eine ganze Stadt, aber das ist es nicht, was sie stört. Sie sieht hin und her zwischen Realität und Bildschirm, immer wieder. Es liegt nicht am Brunnen. Es liegt nicht an dem, was sie fotografiert. Es ist dasselbe wie mit all den anderen Fotos, ihr Blick sucht das Bild springend ab, irgendwas macht diese Fotos so tot. Sie bleibt stehen, ärgert sich und starrt weiter, hin und her zwischen Brunnen und Bildschirm, zwischen dem großen und dem kleinen Bild. Und nach ein paar Minuten, in denen sie jeden Winkel abgescannt hat und ihr langsam die Augen wehtun, in denen sie schon fast den Verdacht zugelassen hat, dass es vielleicht einfach an ihr liegt und nicht am Foto, fällt ihr endlich auf, was hier nicht passt: Der Himmel ist an der entscheidenden Stelle abgeschnitten.

Diese eine Stelle, an der er Anlauf nimmt und sich gewaltig über sie rollt mit seinen dichten, sich aufblähenden Wolken, die von unten grau anlaufen. Der Himmel macht das hier mit so einer großen, schleudernden Geste, dass es einen innerlich auf den Rücken wirft, als würde man von einem Kinnhaken niedergestreckt.

Klar, dass du das nicht hinkriegst. Man kriegt es nicht hin, den amerikanischen Himmel zu fotografieren, eben weil er eine Kuppel ist, eine gläserne Haube, die sich mit zu viel Schwung über den nördlichen Teil dieses Kontinents wirft, eine Glocke.

Der Guide ruft von der anderen Seite des Brunnens zu Lux herüber, seine Worte kämpfen gegen das Wasser der Fontäne.

Sie hat sich so weit wie möglich vom Wagen entfernt, steht am Rand der breiten Straße, die um das gewaltige Grab herumführt, ein glatter, kreisrunder Asphaltring, auf den mindestens vier Autos nebeneinander passen. »Dreimal herum, und Sie haben das Foto im Kasten!«, hatte er gesagt, aber Lux bestand darauf auszusteigen. Dabei macht sie die Fotos eher als Alibi, um noch ein wenig länger draußen zu bleiben, ihm und seinem Gerede fernzubleiben. »Nachts«, hatte er gesagt, »wenn die Parkbesucher weg sind, hat die Polizei hier keine Chance.«

Welche Parkbesucher denn, wem soll hier etwas verkauft, an wem soll hier etwas verbrochen werden?

Es ist niemand hier. Alle, die es konnten, haben die Stadt verlassen.

Sie hat es schon auf dem Weg zum Hostel gemerkt. Erst fiel ihr nicht auf, was in den Straßen so merkwürdig war, dann, als sie an eine riesige Kreuzung kam und der Fahrer des einzigen Autos, das dort an der roten Ampel wartete, sie sehr lange musterte, merkte Lux, dass es keine Fußgänger gab. Es war so still, dass man das Klacken seines Blinkers hörte. Ihr kam es nicht geheuer vor, als Einzige hier ohne Auto unterwegs zu sein, diese Tour zu buchen war nur eine Notlösung, um die Zeit totzuschlagen, bis sie am nächsten Morgen weiterfährt. Wenn sie ehrlich zu sich ist, hält sie diese Stadt schon jetzt nicht mehr aus. Es fühlt sich an, als wäre sie vom Rest des Landes abgeriegelt. New York ist zwar auch einsam, ist übervoll von Menschen, die aneinander vorbeistarren, aber es gibt immer jemanden in Reichweite, sogar nachts, in wortwörtlicher Reichweite.

Sie geht so langsam wie möglich zurück zum Guide, ein bisschen Wasser nieselt auf ihr Gesicht, als sie näher an die gewaltige Fontäne kommt, die rauscht wie ein Wasserfall, Lux will ihre Hand hineinhalten, in dieses künstliche, pompös aufbereitete Wasser. Das Licht kämpft sich durch die apokalyptischen Wolken. Es sieht aus, als hätte man versucht, hier etwas Bedeutendes zu imitieren, die Sehnsucht nach Geschichte, aber es ist nur Drama dabei herausgekommen. Der Stein ist so sauber, als käme er direkt aus der Fabrik.

Lux öffnet die Tür und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen, er hat den Motor die ganze Zeit laufen lassen. Sie wischt ihre nassen Hände an ihrer Jeans ab, und er redet ohne Unterbrechung weiter.

»Wenn Sie nach rechts sehen, können Sie die Statue von … Ferdinand Schiller, einem großen deutschen Dichter, entdecken, er lebte von … 1760 bis 1806.« Es scheint ihn nicht zu interessieren, ob sie ihm zuhört, Lux hatte schon von Anfang an das Gefühl, dass er durch sie hindurchsieht und dass das ausnahmsweise nicht an ihrer Unscheinbarkeit liegt. Es sah einfach so aus, als hätte er es schon vor längerer Zeit aufgegeben, mit irgendwem Kontakt herzustellen.

»Dahinter ist das Whitcomb Conservatory, mittlerweile geschlossen, es tut mir leid, schauen Sie bitte weiter nach rechts, in der Mitte des Flusses beginnt Kanada, aber bitte nicht schwimmen, der Detroit River beherbergt viele tote Menschen und Körperteile. Neun von zehn Verbrechen bleiben in Detroit unaufgeklärt, wir haben die höchste Mordrate in den USA, bei uns ist die Polizei chronisch unterfinanziert. Wenn Sie jemanden ertränken möchten, ist hier der richtige Ort.«

Der Fluss sieht dunkel, aber eigentlich sauber aus, zieht sich an den Weiden vorbei, die der Wind schräg stellt. Auf der anderen Seite die Skyline, die hohen, stillgelegten Türme einer toten Industrie.

Sie fahren über die Brücke zurück nach Downtown. Verschwendete, aufgebrochene Straßen, die keiner benutzt. Riesige Parkplätze, auf denen Autos ohne Nummernschilder rosten, Cafés mit Terrassen, auf denen niemand sitzt. Alle sind weggezogen, alles ist zu breit, es gibt zu viel Platz, man könnte die Stadt auf ein Zehntel herunterschrumpfen, und sie wäre immer noch leer, selbst die Graffiti sehen uralt aus. Kohlschwarze Mauerskelette und große Tuben, die Heizluft durch die Stadt führen, an die wenigen gespenstischen Haushalte, die noch funktionieren. Und ein paar Meter über dem Asphalt zieht die einzige Straßenbahnlinie ihren Kreis, People Mover heißt sie, als wäre es nicht selbstverständlich, dass sie Menschen transportieren soll.

Wahrscheinlich ist sie längst weg, denkt Lux, und es flimmert vor ihren Augen wie eine kurze Signalstörung. Es ist unmöglich, jemanden zufällig in einer Stadt zu treffen, in der sich niemand auf die Straße traut.

In Lux’ Ohren bricht eine kurze Taubheit, die sich sirrend wieder auflöst, ein leiser Ton, der sich hochschraubt und dann verschwindet.

Du hast sie doch genommen, die Tablette, du kannst dich daran erinnern, im Bus, bevor du eingeschlafen bist, bevor sie sich neben dich gesetzt hat.

Und wieder gehen ihr Namen durch den Kopf: Claire, Blake, Alice, Gloria?

Sie ist doch keine Puppe, der du einen Namen geben kannst. Einen Wunsch ersticken. Es flackert im Blick.

Sie kurbelt das Fenster runter und lehnt sich hinaus. Manche Häuser haben Rundbogen, Absätze, Verzierungen, Türme, aber auf allen liegt ein Grau wie von Rauch. Sie fragt sich, wie viele der Wohnungen hinter den Fenstern leer sind, viele sind zugenagelt oder eingeschlagen, überall bröckeln Backsteine heraus wie faule Zähne.

Warum bist du hier?

Irgendwo hat Lux mal gelesen, dass Detroit jetzt aussieht wie New York in den Siebzigern, nur die Menschen fehlen, das Kaputte ist da, aber das Lebendige nicht, ist abgezogen, eine Folie, die sich abgelöst hat. Auch in dem Achterzimmer des Hostels war Lux allein und hat es nicht ausgehalten, dort im Bett liegen zu bleiben. Man könnte seine Identität verlieren in so einem Zimmer, sie sickert aus einem heraus, während man die Risse an der Decke anstarrt, in einem fremden Bett irgendwo zwischen Ost- und Westküste, und Charles geht nicht ans Telefon, es ist ja auch Nacht bei ihr, und Menschen müssen schlafen, aber sie wollte ihr Telefon anlassen, für die Notfälle, »Ruf mich an, immer, wenn du willst, ich bin da«, das hat sie gesagt, »trotz Atlantik«.

Warum bist du hier?

»Wie viele Menschen haben hier mal gelebt?«, fragt sie den Guide, um sich abzulenken, sie muss mit irgendwem sprechen.

»Seit der Bekanntgabe der Insolvenz ist die Bevölkerung von Detroit um sechzig Prozent geschrumpft, vier von fünf Häusern unbewohnt, der Großteil ist in die nächstgelegenen Ballungsräume abgezogen.«

Auf einem Grünstreifen neben der Straße sitzt jemand im Rollstuhl, um Geld von den Autofahrern zu sammeln, um ihn herum lagern Tauben. Als der Wagen an der roten Ampel hält, steht er einfach auf, ohne eine Krankheit in den Beinen, und drückt sein Gesicht fast an die Scheibe, große Poren auf der geröteten Nase, feinledrige Tränensäcke. Er klopft. Aber der Guide scheint ihn nicht zu bemerken, er schaut geradeaus und redet weiter, ohne auch nur einmal ins Stocken zu geraten, als trüge er Scheuklappen, Lux sieht nur, wie sein Unterkiefer sich mechanisch hoch- und runterbewegt, dahinter der feuchte Hundeblick des Säufers jenseits der Scheibe. Als er sich zur Seite beugt und sie anguckt, sieht sie schnell weg und ist froh, als das Auto sich wieder bewegt.

Der Guide redet und redet, aber es ergibt keinen Sinn, seine Worthülsenketten ziehen an Lux’ Ohren vorbei, nur ein Haufen Laute. Die kleine Taubheit bricht wieder in ihre Ohren, sie steckt einen Finger in eines und ruckelt darin herum.

Der Guide wechselt die Sprache, und sie versteht nichts mehr.

Warum bist du hier?, hat sie dich gefragt.

Draußen werden die Häuser flacher.

Warum hast du sie nicht nach ihrem Namen gefragt? Warum hast du sie nicht gefragt, wo sie schläft? Warum hast du sie nicht festgehalten an ihrer Hand oder ihrem Haar, warum hast du nicht in dieses helle Fell gegriffen und sie zurückgehalten?

Du könntest genauso gut nicht hier sein, es wäre egal. Sei nicht so passiv.

Lux entsperrt hastig ihr Telefon, aber bei Charles geht wieder nur die Mailbox ran. »Ruf mich an, wenn du wach bist«, schreibt sie und probiert es dann noch zweimal hintereinander. Leon hätte keine Angst gehabt, im Park zu übernachten, denkt sie plötzlich ohne Zusammenhang, und draußen kommen einstöckige Häuser in Sicht, amerikanische Leichtbauten mit Vorgärten, halb verfallen.

Leon hätte euer Zelt im Park aufgeschlagen. Unter einer Weide hättet ihr gecampt, das Rauschen der Blätter zum Einschlafen, daneben die Leichen im Fluss, und wenn du in der Nacht aufgewacht wärst und seinen Körper umarmt hättest, wärst du sofort wieder eingeschlafen, von der Wärme und dem süßen Geruch, Leons Körper zersetzt sich in der Erde.

Das Rauschen in Lux’ Ohren wird lauter. Sie knetet ihre Hände.

Leon ist immer vor dir wach geworden, vor allem auf den Reisen. Leon hat dich am Arm zu den Dingen gezogen, die er schon entdeckt hat, während du noch im Zelt lagst, hat dir den Arm ausgekugelt, ihn dir fast ausgerissen, du noch mit Schlafsand in den Augen, und er hat dich mit Späßen wach gemacht, du bist eigentlich schon lachend aufgewacht, prustend, nach Luft schnappend, am Ersticken.

Sie reibt sich über die Schläfen, presst die Fingerkuppen hinein, versucht, wieder ein Gefühl in ihre Hände zu kratzen. Plötzlich fährt die Scheibe in ihrem Fenster hoch und drückt ihren Ellenbogen weg. Der Guide schaltet das Radio an, und kurz hört Lux wieder alles, aber überscharf, zu laut, als hätte man ihr Watte aus den Ohren gerissen.

»Jetzt fahren wir durch den schlimmen Teil der 8 Mile, hier ist der King of Hip-Hop aufgewachsen, bitte umsehen, Fotos machen, aber nicht aussteigen, wir können hier nicht anhalten, diesmal keine Ausnahme, bitte.«

Ein trockenes Klacken fährt durch die Türen und bricht Lux das Rückgrat, er hat sie verriegelt.

Der Wagen biegt ab. Ein gemaltes Holzschild am Eingang des Viertels, eine weiße und eine schwarze Hand, zum Beten zusammengelegt, darunter, in schiefen Buchstaben:

»Area infested by crackheads

secure belongings and

pray for your life«

Lux schaut dem Schild nach. Der Song im Radio ist im Rauschen untergegangen, und es rauscht jetzt auch im Blick, sie versucht, sich mit dem Blick in die vorbeiziehenden Häuser zu krallen, da ist eine eingekrachte Veranda, gesplitterte Scheiben, zugenagelte Löcher, verbrannte Bäume wie Skelette, abgebrochene Zaunlatten wie Knochen, ein Haus mit halbem Dach wie ein halbes Gesicht, die Hälfte des Gesichts weg, davor ein Typ, er starrt den Wagen an, durch die Scheibe, starrt Lux an, und er hebt die Hand zu einem »Fuck you«, hebt sie zu einem »Fuck off«, und er hat ja recht, Lux, verpiss dich doch, schaff dich weg.

Ihr Blick schießt über die Oberfläche des Wagens. Das Lenkrad, die Schaltung, die Wasserflecken auf der Scheibe, der Guide, die Knie, die Hände, die sich selbst kneten. Die Hände sind taub, tot, und klatschen zusammen, ein Kopf dreht sich um, und ihre Stirn presst sich gegen das Fenster, ihr Kopf drückt so sehr gegen das Glas, dass es knirscht, aber Lux hört es nicht, nur Rauschen, auch im Blick, etwas Weißes.

Da flimmert etwas Weißes auf der Straße.

Lux reißt am Griff der Tür.

Jemand versucht, sie an der Schulter zu greifen, und sie schlägt die Hand weg, rammt ihre Schulter gegen die Tür, sie öffnet sich, und Lux fällt heraus, stolpert auf den knochenlosen Beinen. Sie läuft die Straße zurück, so schnell sie kann, auf der Fahrbahn, zurück zum Weiß.

Du bist nicht verrückt, da sitzt sie doch. Erkennst du mich noch?, denkt Lux erst und sagt es dann: »Erkennst du mich noch aus dem Bus, du hast neben mir geschlafen mit deinen weißen Haaren, deinen Tigeraugen, deinen Kaugummis, du hast mein Wasser getrunken und meinen Namen erraten, du hast neben mir gesessen, erkennst du mich noch, wie ist deine Name, wie denn?«

»Kat«, sagt sie, und ihre Asche fällt auf die Dielen der Veranda. »Beruhig dich mal.«

Lux

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