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Die beiden Dichter

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In der Zeit, in der diese Geschichte spielt, waren die Stanhopepresse und die Walzen zur Verteilung der Druckerschwärze in den kleinen Provinzdruckereien noch nicht zur Anwendung gelangt. Trotz der Spezialität, die Angoulême zum Pariser Druckereigewerbe in Beziehungen bringt, bediente man sich dort immer noch der Holzpressen. Die rückständige Druckerei verwendete dort noch die Lederbälle, die mit der Druckerschwärze bestrichen waren und mit denen einer der Drucker leicht über die Lettern fuhr. Die bewegliche Platte, auf der die Form mit den Lettern sich befindet, worauf der Papierbogen gelegt wird, war noch aus Stein und rechtfertigte somit ihre Bezeichnung. Die gefräßigen mechanischen Pressen haben heutzutage diesen Apparat, dem wir trotz seiner Unvollkommenheiten die schönen Bücher der Elzevier, Plantin, Alde und Didot verdanken, so sehr in Vergessenheit gebracht, dass es angezeigt ist, die alten Werkzeuge, für die Jérôme Nicolas Séchard eine abergläubische Zuneigung hegte, zu erwähnen, denn sie spielen ihre Rolle in dieser wichtigen kleinen Erzählung.

Dieser Séchard war ein früherer Drucker, den die mit dem Satz beschäftigten Handwerker in ihrem Jargon einen ›Bären‹ nannten. Das Hin und Her der Bewegung, wie die Drucker vom Farbenbehälter zur Presse und von der Presse zum Farbenbehälter gehen, hat einige Ähnlichkeit mit dem Auf und Ab eines Bären im Zwinger, und so ist offenbar der Spitzname entstanden. Zur Vergeltung gaben die Bären den Setzern den Beinamen ›Affen‹ infolge der fortgesetzten kleinen Bewegungen, die diese Herren machen, um die Lettern den hundertzweiundfünfzig kleinen Fächern, in denen sie enthalten sind, zu entnehmen. In dem unheilvollen Jahr 1793 war Séchard ungefähr fünfzig Jahre alt und verheiratet. Sein Alter und seine Verheiratung befreiten ihn von dem großen Truppenaufgebot, das fast alle Handwerker in die Armeen schleppte. Der alte Drucker blieb allein in der Druckerei zurück, deren Besitzer – alias ›Pinsel‹ – soeben gestorben war und eine kinderlose Witwe zurückgelassen hatte. Das Geschäft schien dem Untergang geweiht: der allein zurückgebliebene Bär war nicht imstande, sich in einen Affen zu verwandeln; denn als Drucker konnte er weder lesen noch schreiben. Ohne sich über seine Unfähigkeit Kopfschmerzen zu machen, versorgte ein Volksvertreter, der es eilig hatte, die schönen Dekrete des Konvents zu verbreiten, den Drucker mit dem Patent eines Buchdruckermeisters und versah seine Druckerei mit Aufträgen. Nachdem der Bürger Séchard dieses gefährliche Patent erhalten hatte, entschädigte er die Witwe seines Meisters, indem er ihr die Ersparnisse seiner Frau brachte, mit denen er das Material der Druckerei zur Hälfte des Wertes bezahlte. Aber das genügte nicht. Die Dekrete der Republik mussten unverzüglich gedruckt werden. In dieser schwierigen Lage hatte Jérôme Nicolas Séchard das Glück, einen Edelmann aus Marseille zu treffen, der nicht auswandern wollte, um seiner Ländereien nicht verlustig zu gehen, und nicht gesehen werden wollte, um seinen Kopf zu behalten, und der nur durch irgendwelche Arbeit Brot finden konnte. Der Graf von Maucombe zog also das schlichte Wams eines Provinzfaktors an; er setzte, las und korrigierte selbst die Dekrete, die den Bürgern, die Adlige bei sich verbargen, die Todesstrafe androhten; der Bär, der jetzt ein Pinsel geworden war, zog sie ab und ließ sie anschlagen; und alle beide blieben heil und gesund dabei. Als im Jahre 1795 der Sturmwind des Schreckens vorübergezogen war, war Nicolas Séchard genötigt, ein anderes Faktotum zu suchen, das zugleich Setzer, Korrektor und Faktor sein konnte. Ein Abbé, der später unter der Restauration Bischof wurde und der damals zu den Eidverweigerern gehörte, trat an die Stelle des Grafen von Maucombe und blieb bis zu dem Tag, wo der erste Konsul die katholische Religion wiederherstellte. Der Graf und der Bischof trafen sich später auf ein und derselben Bank der Pairskammer. Jérôme Nicolas Séchard konnte zwar im Jahre 1802 ebensowenig lesen und schreiben wie 1793, aber er hatte genügend auf die hohe Kante gelegt, um sich einen Faktor leisten zu können. Aus dem Gesellen, der sich früher so wenig um die Zukunft gekümmert hatte, war ein Meister geworden, vor dem seine Affen und Bären gewaltigen Respekt hatten. Der Geiz beginnt, wo die Armut aufhört. An dem Tag, wo der Drucker die Möglichkeit vor sich sah, ein vermögender Mann zu werden, ließ das Interesse in ihm einen Verstand erwachsen, der freilich materiell, aber voller Gier, Argwohn und Schärfe war. Seine Praktik kümmerte sich nicht das mindeste um die Theorie. Er hatte gelernt, mit einem hingeworfenen Blick den Preis einer Seite und eines Bogens, je nach der Schriftgattung, abzuschätzen. Er bewies seinen unerfahrenen Kunden, dass es teurer sei, die großen Lettern zu handhaben als die kleinen; wenn es sich um kleine handelte, sagte er, es sei schwieriger, mit ihnen umzugehen. Da die Setzerei der Teil seines Berufs war, von dem er nichts verstand, hatte er eine solche Angst, sich zu irren, dass er nur solche Geschäfte machte wie der Löwe in der Fabel. Wenn seine Setzer gegen Stundenlohn arbeiteten, ließ er niemals ein Auge von ihnen. Wenn er irgendwo einen Fabrikanten in Schwierigkeiten wusste, kaufte er seine Papiere zu niedrigem Preis und stapelte sie auf. Zu der Zeit war er schon Besitzer des Hauses geworden, in dem sich die Druckerei seit unvordenklichen Zeiten befand. Er hatte alles mögliche Glück; er wurde Witwer und hatte nur einen Sohn, er tat ihn in das Lyzeum der Stadt, weniger um ihm einen guten Unterricht zuteil werden zu lassen, als um sich einen Nachfolger heranzuziehen; er behandelte ihn streng, um die Dauer seiner väterlichen Gewalt zu verlängern, und in den Ferien ließ er ihn am Setzkasten arbeiten, wobei er ihm sagte, er solle lernen, sein Brot zu verdienen, um eines Tages seinen armen Vater entschädigen zu können, der sich aufopfere, um ihm eine gute Erziehung zu geben. Als der Abbé ihn verließ, erwählte Séchard aus der Zahl seiner vier Setzer den zum Faktor, von dem ihm der künftige Bischof gesagt hatte, er sei in gleicher Weise rechtlich wie klug. Auf solche Weise war er imstande, den Augenblick zu erreichen, wo sein Sohn die Anstalt übernehmen konnte, die sich alsdann unter jungen und geschickten Händen vergrößern sollte. David Séchard machte auf dem Lyzeum von Angoulême die vorzüglichsten Fortschritte. Obgleich unser Bär, der es auch ohne Kenntnisse und Unterricht zu etwas gebracht halte, die Wissenschaft gründlich verachtete, schickte Vater Séchard seinen Sohn nach Paris, damit er dort die Buchdruckerkunst in ihrer höchsten Ausbildung kennen lernte; aber er empfahl ihm dringend, er solle an einem Orte, den er das Paradies der Handwerker nannte, ein ordentliches Sümmchen zurücklegen, wobei er hinzufügte, er dürfe keinesfalls auf die Börse seines Vaters rechnen, und in diesem Aufenthalt in der Stadt der Weisheit ein zweifelloses Mittel sehen, seine Ziele zu erreichen. David verband in Paris die Erlernung seines Handwerks mit der Vollendung seiner Studien. Der Faktor der Firma Didot bildete sich zu einem Gelehrten aus. Gegen Ende 1819 verließ David Séchard Paris, ohne dass der Aufenthalt dort seinen Vater, der ihn zurückrief, um ihn an die Spitze des Geschäfts zu stellen, einen roten Heller gekostet hätte. Die Druckerei von Nicolas Séchard war zu der Zeit im Besitz des einzigen amtlichen Blattes des Bezirks, hatte die Aufträge der Präfektur und der bischöflichen Kanzlei, und das waren drei Kunden, die einem rührigen jungen Menschen zu einem großen Vermögen verhelfen mussten. Damals kauften die Brüder Cointet, ihres Zeichens Papierfabrikanten, gerade das zweite Druckerpatent der Stadt Angoulême, das der alte Séchard bisher unter dem Schutze der kriegerischen Zeitläufte, die während des Kaiserreichs jeden Aufschwung der Industrie erschwerten, nicht hatte aufkommen lassen; darum hatte er es auch nicht an sich gebracht, und sein Geiz war ein Grund für den Untergang der alten Druckerei. Als der alte Séchard diese Nachricht erhielt, überlegte er sich vergnügt, den Kampf zwischen seiner Druckerei und den Cointet werde nun sein Sohn durchfechten müssen und nicht er.

»Ich wäre in dem Streit unterlegen,« sagte er sich; »aber ein junger Mann, der bei Didot ausgebildet ist, wird damit fertig werden.«

Der Siebzigjährige sehnte den Augenblick herbei, wo er die Last der Geschäfte los wäre. Er wusste zwar wenig von der hohen Kunst der Typographie, aber dafür stand er im Rufe, in einer andern sehr stark zu sein, die die Berufsgenossen recht hübsch die Saufographie genannt haben, in einer Kunst also, die der göttliche Verfasser des Pantagruel sehr geschätzt hat, deren Pflege aber dank der Verfolgungen der sogenannten Temperenzgesellschaften von Tag zu Tag mehr zurückgeht. Jérôme Nicolas Séchard, getreu dem Schicksal, das sein Name, der Trockene, ihm bestimmt hatte, war mit einem unauslöschlichen Durst begnadet. Seine Frau hatte seine Leidenschaft für den Saft der Traube, die übrigens den Bären so natürlich ist, dass Chateaubriand sie bei den richtigen Bären Amerikas beobachtet hat, lange Zeit hindurch in den gehörigen Schranken gehalten; aber die Philosophen haben die Bemerkung gemacht, dass die Gewohnheiten der Jugend im Greisenalter mit großer Stärke wiederkehren. Séchard war eine Bestätigung für dieses psychische Gesetz: je älter er wurde, um so mehr liebte er das Trinken. Seine Leidenschaft hinterließ auf seinem Bärengesicht Spuren, die es höchst originell machten: seine Nase hatte den Umfang und die Form eines großen A von riesigen Dimensionen, seine beiden mit unzähligen Aderchen durchzogenen Backen sahen aus wie manche Weinblätter, die voller violetter, purpurner und oft buntgesprenkelter kleiner Buckel sitzen; man konnte an eine ungeheure Trüffel denken, die mit herbstlichem Weinlaub umrankt war. Unter zwei mächtigen Brauen, die wie zwei schneebedeckte Büsche aussahen, hatten seine beiden grauen Augen, in denen die Schlauheit einer Habgier funkelte, die alles, selbst die Vaterliebe in ihm ertötet hatte, ihren Glanz noch in der Trunkenheit bewahrt. Sein kahler Schädel, der noch von grauen, lockigen Haaren umrahmt war, erinnerte an die Franziskanermönche aus den Erzählungen Lafontaines. Er war untersetzt und beleibt, wie es bei diesen alten Lampen, die mehr Öl als Docht verbrauchen, oft der Fall ist; denn die Ausschweifungen in irgendeiner Sache treiben den Körper in die Richtung, die ihm gemäß ist. Die Trunksucht macht ebenso wie das Studieren den Dicken noch dicker und den Magern magerer. Jérôme Nicolas Séchard trug seit dreißig Jahren den bekannten Dreispitz, der sich noch heutzutage in den Städten mancher Provinzen auf dem Kopf des städtischen Tambourmajors findet. Seine Weste und seine Hose waren aus grünlichem Tuch, überdies trug er einen alten braunen Überzieher, buntgewebte baumwollene Strümpfe und Schuhe mit silbernen Schnallen. Diese Tracht, in der der Handwerksmann noch im reichgewordenen Bürger zu erkennen war, entsprach seinen Lastern und Gewohnheiten so gut, war so sehr der Ausdruck seines Lebens, dass es schien, als ob dieser Wackere völlig angekleidet erzeugt worden wäre; man hatte ihn sich ebensowenig ohne seine Kleidungsstücke vorstellen können, wie eine Zwiebel ohne die Häute. Wenn der alte Drucker nicht schon längst wegen seiner blinden Habgier bekannt gewesen wäre, hätte die Art, wie er sein Geschäft übergab, genügt, ihn zu kennzeichnen. Trotz der Kenntnisse, die sein Sohn von der hohen Schule des Didot mitbringen musste, nahm er sich vor, das gute Geschäft mit ihm zu machen, das er schon lange hin und her überlegt hatte. Freilich, wenn der Vater ein gutes Geschäft machte, war es unausbleiblich, dass der Sohn ein schlechtes machte. Aber für den Wackern gab es in Geschäften nicht Sohn und nicht Vater. Hatte er zuerst in David sein einziges Kind gesehen, so erblickte er später in ihm nur noch den gegebenen Käufer, dessen Interessen seinen entgegengesetzt sein mussten: er wollte teuer verkaufen, David musste billig kaufen; sein Sohn war also ein Feind geworden, den es zu besiegen galt. Diese Umwandlung des zärtlichen Gefühls in persönliches Interesse, die bei wohlerzogenen Leuten gewöhnlich langsam, versteckt und heuchlerisch vor sich geht, war bei dem Alten schnell und unverhohlen, und der Bär zeigte, um wieviel stärker die schlaue Saufographie war als die kunstgerechte Typographie. Als sein Sohn anlangte, benahm sich der Ehrenmann ihm gegenüber mit der geschäftlichen Zärtlichkeit, die die Gewandten für ihre Opfer haben: er ging mit ihm um wie ein Liebhaber mit seiner Geliebten; er gab ihm den Arm, er sagte ihm, wo er die Füße hinsetzen musste, um sich nicht mit Schmutz zu bespritzen, er hatte ihm sein Bett wärmen, Feuer anmachen und ein gutes Abendbrot richten lassen. Nachdem er am andern Tag versucht hatte, seinen Sohn während eines üppigen Mahles betrunken zu machen, sagte Jérôme Nicolas Séchard, der stark bezecht war, zu ihm: »Nun zum Geschäft!« Und das war so kurios zwischen zwei Rülpsgeräuschen eingeschoben, dass David ihn bat, das Geschäft bis morgen zu lassen. Der alte Bär verstand es aber zu gut, aus seiner Betrunkenheit Vorteil zu ziehen, als dass er eine so lange vorbereitete Schlacht aufgegeben hätte. »Außerdem«, sagte er, »habe er fünfzig Jahre lang seine Kugel getragen, jetzt wollte er sie keine Stunde länger schleppen. Von morgen an sollte sein Sohn der Pinsel sein.«

Hier ist es vielleicht am Platze, ein Wort über die Druckerei zu sagen. Sie war an der Stelle gelegen, wo die Rue de Beaulieu auf die Place du Mûrier mündet, und befand sich in diesem Hause seit dem Ende der Regierung Ludwigs XIV. Ebenfalls seit langer Zeit waren die Räume im Innern für die Ausübung dieses Handwerks eingerichtet. Das Erdgeschoß war ein sehr großer Raum, der von der Straße her durch einen alten Fensterverschlag und von einem innern Hof durch ein großes vergittertes Fenster erleuchtet war. Man konnte außerdem durch einen Gang in das Kontor des Meisters gelangen. Aber in der Provinz sind die Vorgänge bei der Buchdruckerei immer ein Gegenstand so lebhafter Neugier, dass die Kunden lieber durch eine Glastür eintraten, die an der Vorderseite von der Straße her zugänglich war, obgleich man dabei einige Stufen hinuntergehen musste, da sich der Fußboden der Werkstatt unter dem Straßenniveau befand. Die erstaunten Neugierigen achteten niemals auf die Unbequemlichkeiten des Zugangs durch die Engpässe dieser Werkstatt. Wenn sie die gebauschten Papierbogen betrachteten, die an Seilen von der Decke herunterhingen, dann drängten sie sich an den reihenweise aufgestellten Setzkästen entlang, oder sie ließen sich von den Eisenstangen, die die Pressen festhielten, die Frisur in Unordnung bringen. Wenn sie den flinken Bewegungen eines Setzers folgten, der seine Lettern aus den hundertzweiundfünfzig kleinen Fächern seines Setzkastens zusammensuchte, sein Manuskript las, seine Zeile in seinem Winkelhaken noch einmal überlas, während er den Durchschuss einfügte, dann gerieten sie in ein Ries aufgeweichten, feuchten, mit Steinen beschwerten Papieres, oder sie blieben mit dem Rock an der Kante einer Bank hängen; alles zum großen Vergnügen der Affen und der Bären. Niemals war jemand ohne Zwischenfall bis zu den beiden großen Käfigen gelangt, die am Ende dieser Höhle lagen und zwei elende, auf den Hof hinaus gelegene Erker bildeten; dort thronten auf der einen Seite der Faktor, auf der andern der Meister. Im Hof waren die Mauern sehr hübsch mit Weinspalieren geziert, die in Anbetracht des Rufs, in dem der Meister stand, eine anmutende Lokalfarbe gaben. Hinten, an die Grenzmauer angebaut, erhob sich ein verfallener Schuppen, wo das Papier befeuchtet und zurechtgeschnitten wurde. Dort befand sich der Ausguss, auf dem vor und nach dem Druck die Formen abgewaschen wurden; es ergoss sich von da ein Gemisch von der Druckerschwärze und den Abwässern der Haushaltung, das ein solches Aussehen hatte, dass die Bauern, die an den Markttagen in die Stadt kamen, glaubten, der Teufel habe sich in dem Hause gewaschen. An diesen Schuppen stieß auf der einen Seite die Küche, auf der andern ein Holzhaufen. Der erste Stock dieses Hauses, über dem nur noch zwei Mansarden waren, enthielt drei Zimmer. Das erste war ebenso lang wie der Hausgang ohne den Raum, den die alte Holztreppe einnahm, und war von der Straße her durch ein kleines rechteckiges Fenster und vom Hof her durch ein rundes Fensterchen erleuchtet; es diente zugleich als Vorzimmer und als Esszimmer. Es war einfach weiß getüncht, und man bemerkte an ihm die zynische Einfachheit des Krämergeizes. Die schmutzige Scheibe wurde niemals gewaschen; das Mobiliar bestand aus drei schlechten Stühlen, einem runden Tisch und einem Büfett, das zwischen zwei Türen stand, von denen die eine in ein Schlafzimmer und die andere in ein Wohnzimmer führte; die Fenster und die Türen waren braun von Schmutz; meist waren sie von Haufen weißen oder bedruckten Papiers versperrt; oft konnte man den Nachtisch, die Flaschen, die Teller vom Mittagessen des Alten auf den Papierballen herumliegen sehen. Das Schlafzimmer, dessen Fenster mit Blei eingefasst war und das vom Hof aus sein Licht empfing, war mit den alten Teppichen behängt, die man in der Provinz am Fronleichnamstag an den Häusern herunterhängen sieht. Es befanden sich darin ein großes, mit Vorhängen drapiertes Säulenbett, auf dem eine Bettdecke aus rotem Rips lag, ferner zwei wurmstichige Polsterstühle, zwei mit einer Stickerei überzogene Nussbaumholzstühle, ein alter Sekretär und auf dem Kamin eine Uhr im Gehäuse. Dieses Zimmer, in dem eine patriarchalische Behaglichkeit zu spüren und das voller brauner Töne war, war von Herrn Rouzeau, dem Vorgänger und frühern Meister Jérôme Nicolas Séchards, eingerichtet worden. Das Wohnzimmer, das die verstorbene Frau Séchard modern eingerichtet hatte, wies ein fürchterliches Getäfel von grellblauer Farbe auf. Die Füllungen waren mit einer Tapete bekleidet, auf der man Szenen aus dem Orient erblickte, die mit Nussfarbe auf weißem Grund gemalt waren. Die Einrichtung bestand aus sechs mit blauem Schafleder überzogenen Stühlen; die Rücklehnen hatten die Form von Lyren. Die zwei Fenster lagen unter einem plumpen Bogen und waren ohne Vorhänge; man sah durch sie auf die Place du Mûrier. Auf dem Kamin standen keine Leuchter und keine Standuhr, und es hing auch kein Spiegel darüber. Frau Séchard war gestorben, ehe sie ihre Verschönerungspläne hatteausführen können, und der Bär, der den Nutzen von Verbesserungen, die nichts einbrachten, nicht einsah, hatte sich nicht darum bekümmert. In diesen Raum führte pede titubante Jérôme Nicolas Séchard seinen Sohn und wies ihm auf dem runden Tisch eine Aufstellung des Inventars seiner Druckerei vor, die der Faktor unter seiner Leitung gemacht hatte.

»Lies das, mein Junge«, sagte Jérôme Nicolas Séchard und ließ seine weinseligen Augen vom Papier zu seinem Sohn und von seinem Sohn zum Papier rollen. »Hier wirst du sehen, was für eine Perle von Druckerei ich dir übergebe.«

»Drei hölzerne Pressen, von Eisenstangen gehalten, mit gegossener Platte ...«

»Das ist eine Verbesserung, die ich gemacht habe«, unterbrach der alte Séchard seinen Sohn. »Mit all ihrem Zubehör, Farbenbehältern und Gestellen usw. eintausendsechshundert Franken.« – »Aber Vater,« sagte David Séchard und ließ das Verzeichnis sinken, »deine Pressen sind Gerümpel, die keine hundert Taler wert sind, und nur gut zum Feueranmachen.«

»Gerümpel, Gerümpel!« rief der alte Séchard. »Nimm das Verzeichnis und komm mit hinunter! Du sollst sehen, ob eure Erfindungen, diese elende Schlosserarbeit, so laufen wie diese ausgeprobten, wackern alten Maschinen. Nachher hast du nicht mehr das Herz, brave Pressen zu beschimpfen, die wie Postwagen laufen und die noch dein ganzes Leben lang gehen werden, ohne die geringste Reparatur zu brauchen. Gerümpel! Freilich ein Gerümpel, womit du dir die Butter aufs Brot verdienen wirst. Gerümpel, das dein Vater zwanzig Jahre lang bedient hat, das ihm dazu verholfen hat, dich zu dem zu machen, was du bist.«

Der Vater torkelte die holprige, abgetretene, unter seinen Schritten zitternde Treppe hinunter, und es sah aus, als ob er hinschlagen wollte; er öffnete die Gangtür, die in die Werkstatt führte, stürzte sich auf die erste seiner Pressen, die der Schlaue vorher hatte ölen und reinigen lassen; er deutete auf die starken Holzteile, die sein Lehrling gesäubert hatte.

»Ist das nicht eine entzückende Presse?« fragte er.

Es war gerade eine Vermählungsanzeige zu drucken. Der alte Bär ließ das Rähmchen auf den Pressdeckel herunter und den Pressdeckel auf die Platte, die er unter der Presse rollen ließ; er zog den Pressbengel, wickelte die Schnur ab, um die Platte zurückzuführen, und brachte den Pressdeckel und das Rähmchen mit einer Gewandtheit zurück, die einem jungen Bären Ehre gemacht hätte. Die also bediente Presse gab einen so reizenden Schrei von sich, dass es klang wie von einem Vogel, der sich an eine Scheibe gestoßen hat und rasch davonfliegt.

»Gibt es eine einzige englische Presse, die imstande ist, so zu laufen?« fragte der Vater seinen erstaunten Sohn.

Der alte Séchard lief hintereinander zur zweiten und zur dritten Presse und vollzog an jeder nicht minder geschickt das nämliche Manöver. Bei der letzten erblickte sein von Weindunst getrübtes Auge eine Stelle, die der Lehrling übersehen hatte; der Betrunkene fing gehörig zu fluchen an, nahm einen Zipfel seines Überrocks, um sie abzuwischen, wie ein Pferdehändler, der das Fell eines Pferdes, das zum Verkauf steht, glatt streicht.

»Mit diesen drei Pressen hier kannst du ohne Faktor deine neuntausend Franken jährlich verdienen, David. Als dein künftiger Teilhaber erlaube ich nicht, dass du sie durch diese verfluchten gegossenen Pressen ersetzest, die die Schrift abnützen. Du hast in Paris Wunder zu sehen geglaubt, als du die Erfindung dieses verdammten Engländers gesehen hast. Er ist ein Feind Frankreichs, die Gießer hat er reich machen wollen. Ah! Stanhopemaschinen hast du anschaffen wollen! Ich danke für deine Stanhopes, von denen jede zweitausendfünfhundert Franken kostet, fast doppelt soviel, als meine drei prächtigen Pressen zusammen wert sind, und dazu zerbrechen sie einem, da sie nicht elastisch sind, noch die Lettern. Ich bin nicht gelehrt wie du, aber merke dir das eine: das Leben der Stanhopepressen ist der Tod der Lettern. Diese drei Pressen halten sich gut, die Arbeit wird sauber gedruckt, die Leute im Angoumois verlangen nichts anderes. Druck du mit Eisen oder mit Holz, mit Gold oder mit Silber, sie zahlen dir keinen Heller mehr.«

»Ferner«, las David, »fünfzig Zentner Schrift aus der Gießerei von Vaflard ...« Bei diesem Namen konnte der Schüler der Firma Didot ein Lächeln nicht zurückhalten. »Lach du nur! Nach zwölf Jahren sind die Lettern noch wie neu. Das nenne ich mir einen Gießer! Herr Vaflard ist ein Ehrenmann, der dauerhafte Ware liefert; und ich für meinen Teil nenne den den besten Gießer, den man am seltensten braucht.«

»Geschätzt auf zehntausend Franken«, las David weiter vor. »Zehntausend Franken, Vater! Aber das sind vierzig Sous für das Pfund, und die Firma Didot verkauft ihre Cicero neu für sechsunddreißig Sous das Pfund. Die elenden Schusternägel, die Ihr da habt, sind nur den Gusspreis wert, zehn Sous das Pfund!«

»Gibst du der Schreibschrift, der Kursivschrift, der Rundschrift des Herrn Gillé, des frühern kaiserlichen Druckers, den Namen Schusternägel! Das sind Lettern, von denen das Pfund sechs Franken wert ist, Meisterwerke der Schriftgießerei, die vor fünf Jahren gekauft sind und von denen manche noch weiß sind, wie sie aus der Gießerei kamen. Da sieh!«

Der alte Séchard griff nach einigen Fächern, in denen Schriftgattungen lagen, die niemals benutzt worden waren, und zeigte sie ihm.

»Ich bin kein Gelehrter, ich kann nicht lesen und nicht schreiben, aber so viel verstehe ich, dass ich weiß, die Schriften des Hauses Gillé waren die Väter der englischen Schriften deiner Herren Didot. Da ist eine Rundschrifttype,« sagte er, indem er auf einen Kasten wies, dem er ein M entnahm, »eine Cicero-Rundschrift, die noch nicht übertroffen worden ist.«

David sah ein, dass es keine Möglichkeit gab, mit seinem Vater zu diskutieren. Man musste allem zustimmen oder alles ablehnen, er war zwischen ein Nein und ein Ja gestellt. Der alte Bär hatte alles in sein Verzeichnis aufgenommen bis auf die Schnüre und Trockenleinen. Der kleinste Rahmen, die Bretter, die Geschirre, der Waschstein und die Waschbürsten, alles war mit der Genauigkeit eines Geizhalses auf Ziffern gebracht. Die Gesamtsumme belief sich auf dreißigtausend Franken, einschließlich des Meisterpatents und der Kundschaft. David fragte sich im stillen, ob das Geschäft möglich sei oder nicht. Als der alte Séchard seinen Sohn stumm über den Zahlen brüten sah, wurde er unruhig; denn eine heftige Auseinandersetzung war ihm lieber als eine stille Zustimmung. Bei dieser Art von Geschäften beweist der Streit, dass es sich um einen leistungsfähigen Vertragschließenden handelt, der sein Interesse vertritt. »Wer zu allem topp sagt,« sagte sich der alte Séchard, »der zahlt nichts.« Er belauerte ängstlich das Nachdenken seines Sohnes und zählte dabei die armseligen Utensilien auf, die eine Provinzdruckerei nötig hat; er führte David hintereinander vor: eine Satinierpresse und eine Beschneidemaschine, die zu den städtischen Arbeiten nötig waren, und rühmte ihm, wie nützlich und wie solid gebaut sie wären.

»Die alten Werkzeuge sind immer die besten,« sagte er, »man sollte sie in der Druckerei teurer bezahlen als die neuen, wie es bei den Goldschlägern der Fall ist.«

Entsetzliche Vignetten, die Hymen, Amore, Tote darstellten, die ihren Grabstein hochhoben und dabei ein V oder ein M beschrieben, ungeheuerliche Einfassungen aus Masken für die Theateranzeigen wurden mit Hilfe der weinseligen Beredsamkeit Jérôme Nicolas' Gegenstände von außerordentlichem Wert. Er erklärte seinem Sohn, die Gewohnheiten der Leute in der Provinz seien so festgewurzelt, dass er ganz vergebens versuchen würde, ihnen etwas Schöneres zu geben. Er selbst, Jérôme Nicolas Séchard, hatte versucht, ihnen bessere Almanache zu verkaufen als den auf Zuckerpapier gedruckten »Großen Lütticher Boten«. Aber was! der wahre Große Lütticher Bote war den wunderschönsten Almanachen vorgezogen worden. David würde bald den Wert dieser alten Scharteken erkennen und sie teurer verkaufen als die kostbarsten Neuheiten.

»Ah, ah! die Provinz ist die Provinz, und Paris ist Paris. Wenn so ein Kerl aus dem Houmeau zu dir kommt, um seine Heiratsanzeige bei dir zu bestellen, und wenn du sie ihm ohne einen Amor mit Girlanden druckst, dann hält er sich nicht für verheiratet und bringt sie dir wieder, wenn er nichts weiter darauf steht als ein M, wie bei deinen Didot, die der Ruhm der Buchdruckerkunst sind, aber deren Erfindungen hundert Jahre brauchen, bis sie sich in der Provinz einbürgern. Das ist die Sache.«

Vornehme Naturen sind schlechte Geschäftsleute. David war eine dieser keuschen und zarten Naturen, die vor einer Auseinandersetzung zurückschrecken und die in dem Augenblick nachgeben, wo der Gegner sie etwas empfindlicher trifft. Seine verfeinerten Gefühle und die Herrschaft, die der alte Trunkenbold über ihn ausübte, machten ihn noch ungeeigneter, eine Auseinandersetzung über Geldsachen mit seinem Vater fortzuführen, zumal er ihm die besten Absichten zuschrieb; denn er führte jetzt Gier und Interessiertheit auf die Liebe zurück, die der Drucker für seine Maschinen hegt. Da indessen Jérôme Nicolas Séchard das Ganze von der Witwe Rouzeau für zehntausend Franken in Assignaten übernommen hatte, und da beim jetzigen Zustand der Einrichtung dreißigtausend Franken ein unerhörter Preis waren, rief der Sohn aus: »Vater, du plünderst mich aus!«

»Was, ich? Habe ich dir nicht das Leben gegeben?« sagte der alte Trunkenbold und hob die Hand zur Decke empor. »Aber, David, wie hoch schlägst du denn das Patent an? Überlegst du auch, wieviel das ›Anzeigeblatt‹ wert ist, wo die Zeile zehn Sous kostet? Das Privileg ganz allein hat im letzten Monat fünfhundert Franken eingebracht. Junge, öffne doch die Bücher, sieh nach, was die Anschläge und die Register der Präfektur einbringen und die Kundschaft des Magistrats und der bischöflichen Kanzlei! Du bist ein dummer Kerl, der reich werden kann und nicht will. Du feilschst noch um das Pferd, das dich zu einem so schönen Herrensitz tragen kann, wie mein Marsac ist.«

Beigefügt war dem Inventar ein Gesellschaftsvertrag zwischen dem Vater und dem Sohn. Der gute Vater vermietete der Gesellschaft sein Haus für eine Summe von zwölfhundert Franken, obgleich er es nur für sechshundert gekauft hatte, und er reservierte sich darin eine der beiden Dachkammern. Solange David Séchard die dreißigtausend Franken nicht bezahlt hätte, sollte der Reingewinn zu gleichen Hälften geteilt werden; von dem Tage an, wo er diese Summe seinem Vater bezahlt hätte, sollte er alleiniger Eigentümer der Druckerei werden. David legte Wert auf das Patent, die Kundschaft und die Zeitung, ohne sich um die Pressen zu kümmern; er glaubte, es könnte ihm gelingen, die Schuld abzutragen, und akzeptierte die Bedingungen. Der Vater, der an die Bauernkniffe gewöhnt war und von den weiterblickenden Berechnungen der Pariser nichts wusste, war über einen so schnellen Entschluss erstaunt. »Sollte mein Sohn Geld haben,« fragte er sich, »oder entschließt er sich in diesem Augenblick, mich nicht zu bezahlen?«

Infolge dieser Gedanken fing er an, ihn auszufragen, ob er Geld mitgebracht habe, er könne es ihm ja in Rechnung stellen. Die neugierige Fragerei des Vaters erweckte das Misstrauen des Sohnes. David blieb zugeknöpft bis zum Halse hinauf. Am nächsten Tag ließ der alte Séchard durch seinen Lehrling seine Möbel in die Kammer des zweiten Stocks bringen; er beabsichtigte, sie durch die Bauernwagen, die sonst leer zurückfuhren, auf sein Landgut bringen zu lassen. Er übergab seinem Sohn die drei Zimmer des ersten Stocks völlig leer, ebenso wie er ihm die Druckerei übergab, ohne ihm einen Heller zur Bezahlung der Arbeiter einzuhändigen. Als David seinen Vater bat, in seiner Eigenschaft als Teilhaber eine Einlage beizusteuern, die zum Weiterbetrieb nötig sei, wollte der alte Drucker von nichts wissen. Er sagte, er habe sich verpflichtet, seine Druckerei zu übergeben, aber kein Geld. Seine Einlage sei schon da. Als er sich von der Logik seines Sohnes bedrängt sah, antwortete er ihm, als er die Druckerei der Witwe Rouzeau abgekauft habe, habe er die Sache ohne einen Sou fertiggebracht. Wenn das ihm, einem armen Arbeiter ohne Kenntnisse, geglückt sei, müsse es bei einem Zögling Didots noch besser gehen. Überdies habe David Geld verdient, was er der Erziehung zu verdanken habe, die mit dem Schweiß seines alten Vaters bezahlt worden wäre, und so könnte er es jetzt gut anlegen.

»Was hast du mit deinem Wochenlohn gemacht?« fragte er ihn und versuchte damit nochmals die Frage zu erhellen, die das Schweigen seines Sohnes am Tage vorher unentschieden gelassen hatte. »Aber habe ich nicht leben müssen? Habe ich nicht Bücher gekauft?« antwortete David ärgerlich. »Ah, du hast Bücher gekauft! Du wirst schlechte Geschäfte machen. Leute, die Bücher kaufen, sind kaum geeignet, sie zu drucken«, antwortete der Bär.

David stand die schrecklichste aller Demütigungen aus, er musste die niedrige Gesinnung seines Vaters über sich ergehen lassen. Er musste die Flut gemeiner, weinerlicher, listiger Gründe bestehen, mit denen der alte Geizhals seine Weigerung motivierte. Er drängte seinen Schmerz in seine Seele zurück, er sah sich allein, ohne Hilfe, denn er fand in seinem Vater einen Spekulanten, den er aus philosophischer Neugier bis zum Grunde kennen lernen wollte. Er ließ die Bemerkung fallen, er habe niemals Rechnungslegung über das Vermögen seiner Mutter verlangt. Wenn dieses Vermögen nicht ausreichte, um den Preis der Druckerei zu erlegen, müsste es doch mindestens als Betriebskapital dienen können.

»Das Vermögen deiner Mutter?« sagte der alte Séchard, »aber das war weiter nichts als ihre Klugheit und ihre Schönheit.«

Bei dieser Antwort durchschaute David seinen Vater völlig und sah ein, dass er, wenn er eine Rechnungslegung erhalten wollte, gegen ihn einen unendlichen, kostspieligen und entehrenden Prozess würde anstrengen müssen. Der vornehme Jüngling nahm die Last auf sich, obwohl er wusste, wie sie ihn drücken musste und wie schwer es sein würde, den Verpflichtungen gegen seinen Vater nachzukommen.

»Ich werde arbeiten«, sagte er sich. »Schließlich, wenn ich zu schuften habe, dem Alten ist es nicht besser gegangen, und überdies werde ich für mich arbeiten.«

»Ich hinterlasse dir einen Schatz«, sagte der Vater, den das Schweigen seines Sohnes beunruhigte.

David fragte, was das für ein Schatz sei.

»Marion«, sagte der Vater.

Marion war ein plumpes Bauernmädchen, das in der Druckerei unentbehrlich war; sie netzte und beschnitt das Papier, besorgte Bestellungen und die Küche, sorgte für die Wäsche, lud das Papier von den Wagen ab, zog Geld ein und reinigte die Tupfballen. Wenn Marion hätte lesen können, hätte sie der alte Sichard an den Setzkasten gestellt.

Der Vater begab sich zu Fuß auf sein Landgut zurück. Obgleich er über seinen Verkauf, der sich unter dem Namen Beteiligung versteckte, sehr glücklich war, beunruhigte es ihn jetzt doch, nach welchem Modus er bezahlt werden würde. Nach den Erregungen des Verkaufs kommen immer die wegen der Bezahlung. Alle Leidenschaften sind in ihrem Kern jesuitisch. Dieser Mann, der die Erziehung für etwas Unnützes ansah, bemühte sich jetzt, an den Einfluss der Erziehung zu glauben. Er stellte seine dreißigtausend Franken mit den Ehrbegriffen sicher, die die Erziehung in seinem Sohne ausgebildet haben musste. Als wohlerzogener junger Mann würde David Blut schwitzen, um seinen Verpflichtungen nachzukommen, seine Kenntnisse würden ihm Quellen erschließen, er hatte ein schönes Empfinden gezeigt, er würde zahlen! Viele Väter, die so verfahren, glauben väterlich verfahren zu sein, und diese Überzeugung hatte schließlich der alte Séchard erlangt, als er wieder in seinem Weingut anlangte. Es war in Marsac gelegen, einem kleinen Dorf, das vier Meilen von Angoulême entfernt war. Dieses Landgut, auf dem der frühere Besitzer ein hübsches Wohnhaus erbaut hatte, hatte sich seit 1809, zu welcher Zeit der alte Bär es an sich gebracht, von Jahr zu Jahr vergrößert. Er vertauschte dort die Sorgen der Presse gegen die der Kelter, und er war, wie er gern sagte, seit zu langer Zeit Weinkenner, um sich nicht darauf zu verstehen. Während des ersten Jahres seiner ländlichen Zurückgezogenheit bot Vater Séchard eine sorgenvolle Miene zwischen seinen Weinstöcken; denn er war immer auf seinem Weinberg, wie er früher in seiner Werkstatt gewohnt hatte. Diese unerhofften dreißigtausend Franken berauschten ihn noch mehr als der junge Septembersaft. Er hatte sie in Gedanken schon zwischen den Fingern. Je weniger er die Summe erwarten konnte, um so mehr wünschte er sie einzustreichen. Daher zog ihn seine Ungeduld oft von Marsac nach Angoulême. Er kletterte die Felsenabhänge hinauf, auf deren Höhe die Stadt liegt, und begab sich in die Druckerei, um zu sehen, ob sein Sohn mit dem Geschäft fertig wurde. Die Pressen waren an ihrem Platz. Der einzige Lehrling trug seine Papiermütze auf dem Kopf und reinigte die Tupfballen. Der alte Bär hörte eine Presse über irgendeine Einladungskarte kreischen, er sah seine alten Lettern wieder, er erblickte seinen Sohn und den Faktor und sah, wie beide in ihren Käfigen ein Buch lasen, das der Bär für Korrekturen hielt. Er aß mit David zu Mittag, kehrte dann auf sein Gut in Marsac zurück und grübelte über seine Besorgnisse. Der Geiz hat wie die Liebe die Gabe des zweiten Gesichts für die kommenden Ereignisse, er wittert sie, er nimmt sie voraus. Wenn er von der Druckerei wieder weg war, wo der Anblick seiner Werkzeuge ihn bestrickte, die ihn in die Zeit zurückversetzten, wo er sein Vermögen erworben, fand der alte Winzer bei seinem Sohne beunruhigende Zeichen von Untätigkeit. Der Name Gebrüder Cointet erschreckte ihn, er sah ihn die Firma Séchard & Sohn überflügeln. Kurz, der alte Mann fühlte das Unglück nahen. Diese Ahnung hatte guten Grund: das Unglück schwebte wirklich über dem Hause Séchard. Aber die Geizigen haben einen Gott. Durch ein Zusammentreffen von unvorhergesehenen Umständen musste dieser Gott dafür sorgen, dass der Preis seines wucherischen Verkaufs vollständig in die Geldtasche des Trunkenbolds kam. Hören wir nun, aus welchen Gründen die Druckerei Séchard zurückging, obwohl es den Anschein hatte, dass sie hätte florieren müssen. David kümmerte sich weder um die religiöse Reaktion, die die Restauration in der Regierung hervorbrachte, noch um den Liberalismus und bewahrte daher in politischen und religiösen Dingen die schädlichste Neutralität. Das war in einer Zeit, wo die Kaufleute der Provinz sich zu einer Meinung bekennen mussten, um Kunden zu haben, denn man musste zwischen der Kundschaft der Liberalen oder der der Royalisten wählen. Eine Liebesneigung, die im Herzen Davids erwachte, seine wissenschaftlichen Beschäftigungen, seine schöne Natur, all das ließ in ihm die Gewinngier nicht aufkommen, die zum rechten Kaufmann gehört und die ihn veranlasst hätte, über die Unterschiede nachzudenken, die die Industrie der Provinz von der der Hauptstadt trennen. Die in den Departements voneinander so verschiedenen Nuancen verschwinden in der großen Bewegung von Paris. Die Gebrüder Cointet schlossen sich den monarchistischen Meinungen an, sie hielten ostentativ die Fasttage inne, gingen fortwährend in den Dom, verkehrten mit den Priestern und druckten sofort, als das Bedürfnis bemerkbar war, religiöse Bücher. Die Cointet bekamen also in diesem einträglichen Geschäfte das Oberwasser und verleumdeten David Séchard, den sie des Liberalismus und des Atheismus bezichtigten. »Wie«, sagten sie, »könnte man einen Menschen beschäftigen, der einen von den Septembermördern, einen Trunkenbold, einen Bonapartisten, einen alten Geizkragen zum Vater hätte, der früher oder später ganze Haufen Gold hinterlassen müsste?« Sie wären arm, hätten für ihre Familie zu sorgen, während David ein Junggeselle wäre und einmal sehr reich würde. Er täte auch nur, was ihm behagte usw. Unter dem Einfluss dieser Anschuldigungen übertrugen schließlich die Präfektur und die bischöfliche Kanzlei das Privileg ihrer Druckaufträge den Gebrüdern Cointet. Bald riefen diese gierigen Gegner, denen die Sorglosigkeit ihres Konkurrenten Mut machte, ein zweites Anzeigeblatt ins Leben. Die alte Druckerei war auf die Druckaufträge der Stadt angewiesen, und die Einnahme aus seinem Anzeigeblatt ging auf die Hälfte zurück. Das Haus Cointet, das an den kirchlichen und religiösen Büchern beträchtliche Summen verdient hatte, schlug bald den Séchard vor, ihm ihre Zeitung zu verkaufen, damit sie die Bekanntmachungen des Departements und die Inserate der Behörden ungeteilt hätten. Sowie David diese Nachricht seinem Vater mitgeteilt hatte, stürzte der alte Winzer, den die Fortschritte des Hauses Cointet schon erschreckt hatten, mit der Schnelligkeit eines Raben, der die Leichen auf einem Schlachtfeld gewittert hatte, von Marsac auf die Place du Mûrter.

»Überlass mir die Verhandlungen mit den Cointet, mische dich nicht in dieses Geschäft«, sagte er zu seinem Sohn.

Der alte Mann hatte bald das Interesse der Cointet erraten, er erschreckte sie durch die Schärfe seiner Bemerkungen. »Sein Sohn habe eine Dummheit begangen, die er gerade noch verhindern konnte«, sagte er.

»Worauf soll unsere Kundschaft sich stützen, wenn er unser Blatt verkauft? Die Advokaten, die Notare, alle Kaufleute des Houmeau sind liberal, die Cointet haben den Séchard Schaden zufügen wollen, als sie sie des Liberalismus bezichtigten, sie haben ihnen damit das Rettungsseil zugeworfen, die Annoncen der Liberalen werden den Séchard verbleiben! Das Blatt verkaufen? Aber ebensogut könnte man die ganze Druckerei und das Patent verkaufen.«

Er verlangte nunmehr von den Cointet sechzigtausend Franken für die Druckerei, um seinen Sohn nicht zu ruinieren: er liebte seinen Sohn, er schützte seinen Sohn. Der alte Winzer bediente sich seines Sohns, wie die Bauern ihrer Frauen: sein Sohn wollte oder wollte nicht, je nach den Vorschlägen, die er einen nach dem andern den Cointet entriss, und er brachte sie nicht ohne Anstrengungen dazu, dass sie eine Summe von zweiundzwanzigtausend Franken für das Journal de la Charente gaben. Aber David musste sich verpflichten, niemals wieder irgendein Blatt zu drucken, widrigenfalls er dreißigtausend Franken Schadloshaltung zu zahlen hätte. Dieser Verkauf war der Selbstmord der Druckerei Séchard, aber der Winzer beunruhigte sich nicht darüber. Nach dem Diebstahl kommt immer der Mord. Der Ehrenmann hatte im Sinne, diese Summe zur Bezahlung seiner Forderung zu verwenden, und um sie in die Hände zu bekommen, hätte er David noch mit dazu verkauft, insbesondere da dieser lästige Sohn Anspruch auf die Hälfte dieses unverhofften Gewinns hatte. Zur Entschädigung überließ der edelmütige Vater ihm die Druckerei, wobei aber die Bestimmung, dass der Sohn für die Miete des Hauses die famosen zwölfhundert Franken zu zahlen hatte, bestehen blieb. Seit dem Verkauf der Zeitung an die Cointet kam der Alte nur noch selten in die Stadt, er schützte sein hohes Alter vor; aber der wahre Grund war das geringe Interesse, das er an einer Druckerei nahm, die ihm nicht mehr gehörte. Trotzdem konnte er die alte Liebe zu seinen Werkzeugen nicht ganz aufgeben. Wenn seine Geschäfte ihn nach Angoulême führten, wäre es sehr schwer gewesen, zu entscheiden, was ihn am meisten in sein Haus zog, seine hölzernen Pressen oder sein Sohn, zu dem er kam, um pro forma seine Miete zu verlangen. Sein früherer Faktor, der jetzt bei den Cointet war, wusste, was er von diesem väterlichen Edelmut halten sollte; er sagte, »der schlaue Fuchs behielte sich auf diese Weise das Recht vor, sich in die Geschäfte seines Sohnes einzumischen, indem er durch die Aufhäufung der Mietschuld bevorrechtigter Gläubiger würde«.

Die Unbekümmertheit David Séchards hatte Ursachen, die für den Charakter des jungen Mannes bezeichnend waren. Einige Tage nachdem er die väterliche Druckerei übernommen, hatte er einen seiner Studienfreunde getroffen, der damals dem tiefsten Elend preisgegeben war. Der Freund David Séchards war ein junger Mann von ungefähr einundzwanzig Jahren, namens Lucien Chardon, der Sohn eines frühern Regimentswundarztes der republikanischen Armeen, der infolge einer Verwundung seinen Dienst eingebüßt hatte. Seine Naturanlage hatte aus Chardons Vater einen Chemiker gemacht, und der Zufall hatte ihn als Apotheker nach Angoulême geführt. Der Tod überraschte ihn inmitten der Vorbereitungen zur Ausbeutung einer großartigen Erfindung, zu der er mehrere Jahre wissenschaftlicher Studien gebraucht hatte. Er wollte jede Art Gicht heilen. Die Gicht ist die Krankheit der Reichen, und die Reichen zahlen die Gesundheit gut, wenn sie ihrer beraubt sind. Daher hatte der Apotheker dieses Problem aus den vielen ausgewählt, die sich seinem Nachdenken dargeboten hatten. Der selige Chardon hatte in seiner Stellung zwischen Wissenschaft und Erfahrung begriffen, dass allein die Wissenschaft sein Vermögen begründen könnte: er hatte also die Ursachen der Krankheit studiert und sein Mittel auf eine gewisse Lebensweise gegründet, die er jedem Temperament anpasste. Er starb während eines Aufenthalts in Paris, wo er die Approbation der Akademie der Wissenschaften hatte einholen wollen, und verlor so die Frucht seiner Arbeit. Der Apotheker hatte, da er ein großes Vermögen vor sich sah, in der Erziehung seines Sohnes und seiner Tochter nichts verabsäumt, und so hatte der Unterhalt seiner Familie alle Erträgnisse der Apotheke verschlungen. Auf solche Weise kam es, dass er seine Kinder nicht nur im Elend zurückließ, sondern dass er sie auch zu ihrem Unglück in der Hoffnung auf eine glänzende Zukunft aufgezogen hatte, die mit ihm erlosch. Der berühmte Desplein, der ihn behandelte, sah ihn unter Wutkrämpfen sterben. Die Quelle dieses Ehrgeizes war die leidenschaftliche Liebe, die der alte Wundarzt zu seiner Frau hegte, die das letzte Glied der Familie von Rubempré war und die er im Jahr 1793 wie durch ein Wunder vom Schafott gerettet hatte. Ohne dass das junge Mädchen dieser Lüge hatte zustimmen wollen, hatte er einen Aufschub erreicht, indem er sagte, sie sei schwanger. Nachdem er sich so das Recht verschafft hatte, sie zu seiner Frau zu machen, heiratete er sie trotz ihrer beider Armut. Die Kinder besaßen, wie alle Kinder der Liebe, als Erbe weiter nichts als die wunderbare Schönheit der Mutter, ein oft verhängnisvolles Geschenk, wenn es mit Not und Elend verknüpft ist. Dieses Hoffen, dieses Arbeiten, dieses Verzweifeln hatten die Schönheit Frau Chardons sehr beeinträchtigt, ebenso wie die stufenweis steigende Not ihre Lebensart verändert hatte, aber ihr und ihrer Kinder Mut war ebenso groß wie ihr Unglück. Die arme Witwe verkaufte die Apotheke, die in der Hauptstraße von Houmeau, der bedeutendsten Vorstadt von Angoulême, gelegen war. Der Preis der Apotheke erlaubte ihr, sich dreihundert Franken Leibrente festzulegen, eine Summe also, die für ihre eigene Existenz nicht ausreichen konnte, aber sie und ihre Tochter fügten sich in ihre Lage ohne falsche Scham und übernahmen Lohnarbeit. Die Mutter widmete sich der Wochenpflege, und sie wurde infolge ihrer guten Manieren in den reichen Häusern jeder andern vorgezogen, sie konnte sich dort verpflegen, ohne ihren Kindern etwas zu kosten, wobei sie täglich noch zwanzig Sous verdiente. Um ihrem Sohn die Beschämung zu ersparen, seine Mutter in einer so erniedrigten Lage zu sehen, hatte sie den Namen Madame Charlotte angenommen. Die Frauen, die ihrer Pflege bedurften, hatten sich an Herrn Postel zu wenden, den Nachfolger Herrn Chardons. Die Schwester Luciens arbeitete bei einer sehr ehrenwerten und in Houmeau geachteten Frau namens Prieur, einer Weißwäscherin, die ihre Nachbarin war, und verdiente täglich ungefähr fünfzehn Sous. Sie führte die Aufsicht über die Arbeiterinnen und erfreute sich in der Wäscherei einer Art Vorzugsstellung, die sie ein wenig über die Klasse der Wäscherinnen erhob. Die geringen Erträgnisse ihrer Arbeit zusammen mit den dreihundert Franken Rente von Frau Chardon beliefen sich ungefähr auf achthundert Franken im Jahr, mit denen diese drei Personen sich nähren, sich kleiden und wohnen mussten. Trotz dieser streng eingeschränkten Lebensweise wollte die Summe, die fast völlig von Lucien verbraucht wurde, kaum ausreichen. Frau Chardon und ihre Tochter Eva glaubten an Lucien, wie die Frau Mahomets an ihren Gatten glaubte; ihre Hingabe an seine Zukunft war grenzenlos. Diese arme Familie hauste in Houmeau in einer Wohnung, die sie für einen sehr niedrigen Preis bei dem Nachfolger Herrn Chardons gemietet hatte und die hinten in einem Hofe über dem Laboratorium gelegen war. Lucien hatte eine elende Mansardenstube inne. Angeregt von seinem für die Naturwissenschaften begeisterten Vater, hatte Lucien sich auf dieses Studium geworfen und war einer der hervorragendsten Schüler des Collège von Angoulême, wo er in der dritten Klasse saß, als Séchard seine Studien eben beendet hatte.

Als der Zufall die beiden Studiengefährten wieder zusammenführte, stand Lucien, der es müde war, den schweren Kelch des Elends zu trinken, im Begriff, einen der verzweifelten Schritte zu tun, zu denen man sich mit zwanzig Jahren entschließt. Vierzig Franken monatlich, die David Lucien großmütig gab, indem er sich erbot, ihn zum Faktor auszubilden, obgleich er durchaus keinen brauchte, retteten Lucien aus seiner Verzweiflung. Die Bande dieser solchermaßen erneuerten Studienfreundschaft gestalteten sich infolge der Ähnlichkeit ihres Geschicks und der Verschiedenheit ihrer Charaktere bald enger. Alle beide hatten den Kopf voller großer Pläne, beide besaßen den hohen Geist, der einen Menschen den Höchsten gleichsetzt, und beide sahen sich auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Diese Ungerechtigkeit des Schicksals war ein starkes Band. Ferner waren beide von verschiedenen Seiten her bei der Poesie angelangt. Obwohl er für die schwierigsten Forschungen der Naturwissenschaften bestimmt war, drängte es Lucien glühend nach literarischem Ruhm, während David, den sein sinnender Geist zur Poesie bestimmte, seinem Geschmack nach den exakten Wissenschaften zuneigte. Diese Vertauschung der Rollen machte sie zu einer Art geistigen Brüdern. Lucien teilte bald David die großen Gesichtspunkte einer Anwendung der Wissenschaft auf die Industrie mit, die er von seinem Vater empfangen hatte, und David zeigte Lucien die neuen Bahnen, die er in der Literatur beschreiten müsste, um sich einen Namen und ein Vermögen zu machen. Die Freundschaft dieser beiden jungen Leute gestaltete sich in wenig Tagen zu einer von den Leidenschaften, wie sie nur in dieser Jugendzeit entstehen. David erblickte bald die schöne Eva und verliebte sich in sie, wie sich die melancholischen und sinnenden Geister verlieben. Das Et nunc et semper et in saecula saeculorum der Liturgie ist der Wahlspruch dieser unbekannten Dichter, deren Werke in wunderbaren Epen bestehen, die zwischen zwei Herzen entstehen und vergehen. Als der Liebende das Geheimnis der Hoffnungen entdeckt hatte, die die Mutter und die Schwester Luciens auf diesen schönen Dichterkopf setzten, als ihre blinde Aufopferung ihm bekannt wurde, fand er es süß, sich seiner Geliebten zu nähern und ihre Opfer und Hoffnungen zu teilen. Wie die Intransigenten, die noch königlicher als der König sein wollten, übertrieb David den Glauben, den Mutter und Schwester Luciens auf sein Genie setzten, und verhätschelte ihn, wie eine Mutter ihr Kind. In einer der Unterhaltungen, die die ewige Geldnot, die ihnen die Hände band, fortwährend erzeugte, überlegten sie, wie alle jungen Leuten, die Mittel hin und her, wie man schnell zu Vermögen kommen könnte, schüttelten vergebens alle Bäume, die schon von Früheren geplündert worden waren, bis Lucien sich an zwei Ideen erinnerte, die sein Vater ausgesprochen hatte. Herr Chardon hatte davon gesprochen, man könnte durch Anwendung eines neuen chemischen Stoffs den Preis des Zuckers auf die Hälfte bringen, und ebenso ließe sich der Preis des Papiers herabsetzen, wenn man von Amerika gewisse pflanzliche Stoffe bezöge, ähnlich denen, deren sich die Chinesen bedienten und die wenig kosteten. David, der die Wichtigkeit der Frage, die schon bei Didot erörtert worden war, kannte, bemächtigte sich dieser Idee, in der er die Grundlage zu einem großen Vermögen erblickte, und sah Lucien als einen Wohltäter an, dem er ewig dankbar sein müsste.

Man kann sich denken, wie die Herrschaft dieser Gedanken und das ganze Innenleben der beiden Freunde sie unfähig machte, eine Druckerei zu führen. Während die Druckerei der Brüder Cointet, der Drucker und Verleger der bischöflichen Kanzlei, der Eigentümer des Courier de la Charente, der von jetzt an das einzige Blatt des Departements war, fünfzehn- bis zwanzigtausend Franken brachte, belief sich die Einnahme der Druckerei Séchard kaum auf dreihundert Franken im Monat, wovon das Gehalt des Faktors, der Lohn Marions, die Steuern und die Miete in Abzug kamen, so dass David auf hundert Franken im Monat angewiesen war. Tätige und betriebsame Männer hätten neue Lettern angeschafft, eiserne Pressen gekauft, hätten sich bei den Pariser Buchhändlern Werke verschafft, die sie zu niedrigem Preis gedruckt hätten; aber der Meister und der Faktor waren völlig von den Arbeiten des Kopfes in Anspruch genommen und begnügten sich mit den Aufträgen, die ihnen ihre letzten Kunden gaben. Die Brüder Cointet waren endlich hinter den Charakter und die Lebensführung Davids gekommen und verleumdeten ihn nicht mehr; im Gegenteil riet ihnen eine weise Politik, diese Druckerei ihr Leben fristen und sie in einem gewissen anständigen kleinen Umfang bestehen zu lassen, damit sie nicht in die Hände eines gefürchteten Konkurrenten fiel; sie schickten sogar selbst die sogenannten Stadtaufträge. Auf diese Weise existierte David Séchard, kaufmännisch zu sprechen, ohne es zu wissen, nur noch durch eine geschickte Kalkulation seiner Konkurrenten. Die Cointet waren glücklich über das, was sie seine Manie nannten, und benahmen sich gegen ihn dem Anschein nach durchaus ehrenhaft und loyal. Aber sie gingen in Wirklichkeit wie die Verwaltung der Privatpost vor, die eine künstliche Konkurrenz schafft, um eine wirkliche zu vermeiden.

Das Äußere des Hauses Séchard stimmte mit dem schmutzigen Geiz, der im Innern herrschte, wo der alte Bär nie etwas repariert hatte, überein. Der Regen, die Sonne, die Unbilden jeder Jahreszeit hatten der Gangtür das Aussehen eines alten Baumstammes gegeben, so sehr war sie von kleineren und größeren Spalten durchzogen. Die Fassade, die aus Steinen und Ziegeln unsymmetrisch durcheinandergebaut war, schien sich unter dem Gewicht eines verwitterten Daches zu biegen, das über und über mit den Hohlziegeln bedeckt war, aus denen alle Dächer im südlichen Frankreich bestehen. An dem morschen Fensterkreuz befanden sich die fest verschließbaren riesigen Läden, wie sie das heiße Klima erfordert. Es wäre nicht leicht gewesen, in ganz Angoulême ein so rissiges Haus wie dieses zu finden, das nur noch durch die Kraft des Mörtels zusammenhielt. Man stelle sich die Werkstatt vor, die vorn und hinten erhellt, in der Mitte dunkel war, die Mauern mit Plakaten bedeckt und unten von dem Vorbeistreifen der Arbeiter, die sich dort seit dreißig Jahren bewegt hatten, schwarz geworden; ihre Leinen und Stricke an der Decke, ihre Papierstöße, die alten Pressen, die Haufen Steine zum Beschweren des nassen Papiers, die Reihen Setzkästen und am Ende die beiden Käfige, wo sich der Meister und der Faktor, jeder auf seiner Seite, aufhielten: dann hat man ein Bild von der Existenz der beiden Freunde.

Im Jahre 1821 in den ersten Maitagen befanden sich David und Lucien in dem Augenblick, wo gegen zwei Uhr ihre vier oder fünf Arbeiter die Werkstatt verließen, um essen zu gehen, in der Nähe des Hoffensters. Als der Meister sah, wie sein Lehrling die Ladentür, die zur Straße ging, hinter sich geschlossen hatte, führte er Lucien in den Hof, wie wenn der Geruch der Papiere, der Farbenbehälter, der Pressen und des alten Holzes ihm unerträglich geworden wäre. Die beiden setzten sich unter eine Laube, von wo sie jeden sehen konnten, der in die Werkstatt kam. Die Sonnenstrahlen, die auf dem Weinlaub des Spaliers spielten, umschmeichelten die beiden Dichter und hüllten sie in ihr Licht wie in einen Glorienschein. Der Gegensatz der beiden jungen Leute, die einander gegenübersaßen, trat nach Charakter und Aussehen mit solcher Entschiedenheit hervor, dass ein Maler, der sie so gesehen, gleich nach seinem Pinsel gegriffen hätte. David hatte Formen, wie sie die Natur den Menschen mit auf den Weg gibt, die zu großen offenen oder geheimen Kämpfen bestimmt sind. Über seiner breiten Brust saßen starke Schultern, die ebenmäßig zu der Fülle seines ganzen Körpers passten. Sein Gesicht, gebräunt, gesund, voll, über einem starken Hals, umgeben von einer Flut schwarzer Haare, glich beim ersten Anblick dem der Mönche, die Boileau besingt; aber bei näherer Prüfung entdeckte man in den Falten der aufgeworfenen Lippen, im Grübchen des Kinns, im Schnitt einer breiten Nase, deren eine Hälfte wie schiefgedrückt war, und vor allem in den Augen das unausgesetzte Feuer einer ausschließlichen Leidenschaft, die Schärfe des Denkers, die glühende Melancholie eines Geistes, der die ganze Weite und alle Tiefen des Horizonts umfasste und durchdrang und der selbst der idealsten Genüsse leicht müde wurde, weil er die Klarheit der Analyse mit hineinnahm. Man ahnte in diesem Gesicht das Aufblitzen des Genies, aber man sah auch die Asche um den Vulkan; die Hoffnung erlosch in diesem Antlitz in einer tiefen Empfindung der sozialen Nichtigkeit, in der die niedrige Abstammung und das mangelnde Vermögen so viele Geister höherer Art festhalten. Neben diesem armen Buchdrucker, dem sein der Intelligenz doch so benachbarter Beruf widerstand, neben diesem Silen, der so schwer auf sich selbst ruhte, der in langen Zügen aus dem Becher der Wissenschaft und der Dichtung schlürfte und sich daran berauschte, um das Elend des Provinzlebens zu vergessen, neben diesem Silen saß Lucien in der anmutigen Haltung, wie sie die Bildhauer für den indischen Bacchus gefunden haben. Sein Gesicht besaß die Linienfeinheit der antiken Schönheit: griechische Stirn und Nase, die weiße Farbe und den Schmelz eines Weibes, Augen, deren tiefe Bläue schwarz wirkte, Augen voller Liebesschmelz, deren Weiß so glänzend war wie bei einem Kinde. Über diesen schönen Augen wölbten sich Brauen, die wie mit einem feinen chinesischen Pinsel gezeichnet waren, und lange kastanienbraune Wimpern beschatteten sie. Die Wangen erglänzten von seidigem Flaum, dessen Farbe mit dem Blond der natürlich gelockten Haare übereinstimmte. Seine weißen Schläfenwaren goldig überhaucht. Ein unvergleichlicher Adel prägte sich in seinem kurzen, leicht aufwärts gebogenen Kinn aus. Das Lächeln der gefallenen Engel schwebte auf seinen Korallenlippen, deren Röte durch das Weiß der Zähne noch gehoben wurde. Er hatte die Hände eines Menschen von vornehmer Geburt, elegante Hände, denen die Männer auf den Wink gehorchen mussten und die die Frauen zu küssen lieben. Lucien war schlank und von mittlerer Figur; wenn man seine Füße sah, konnte man versucht sein, ihn für ein verkleidetes junges Mädchen zu halten, um so mehr, als er, wie die meisten durchtriebenen, um nicht zu sagen verschlagenen Männer, Hüften wie die einer Frau hatte. Dieses Anzeichen, das selten täuscht, traf bei Lucien zu, den die Neigung seines rührigen Geistes oft, wenn er den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft analysierte, auf das Gebiet der Verderbtheit führte, wie sie den Diplomaten eigen ist, die den Erfolg für die Rechtfertigung aller Mittel halten, so schimpflich sie auch sein mögen. Es ist die Schattenseite großer Verstandesbegabung, dass sie mit Notwendigkeit alle Dinge erfasst, die Laster ebensowohl wie die Tugenden.

Diese beiden jungen Leute urteilten um so souveräner über die Gesellschaft, als sie eine niedrige Stellung in ihr einnahmen; denn die Unbekannten rächen oft die Niedrigkeit ihrer Lage mit dem Hochmut ihrer Betrachtungsweise. Aber ebenso war auch ihre Verzweiflung um so bitterer, weil sie gerade dadurch schneller ihrem wahren Geschick entgegengetrieben wurden. Lucien hatte viel gelesen, viel verglichen, David hatte viel gedacht, viel gesonnen. Trotz seines gesunden und bäurischen Aussehens war der Drucker ein melancholischer und kränklicher Geist, er zweifelte an sich selbst; Lucien dagegen hatte einen unternehmenden, aber schwankenden Geist und eine Kühnheit, die im Widerspruch stand zu seiner weichen, fast schwächlichen Gestalt, die voll weiblichen Reizes war. Lucien war im höchsten Maße der Charakter des Gascogners eigen: er war kühn, tapfer, abenteuerlich, ein Charakter, der das Gute übertrieben gut sieht und das Üble nicht allzu schlimm nimmt, der vor keinem Fehltritt zurückschrickt, wenn ein Nutzen dabei herausspringt, und sich nichts aus dem Laster macht, wenn er sich eine Staffel daraus machen kann. Diese Anlage der Ehrsucht wurde damals noch unterdrückt von den schönen Illusionen der Jugend, von der Glut, die ihn die edeln Mittel zu suchen antrieb, die ja ruhmbegierige Männer vor allen anderen anwenden. Er hatte nur erst mit seinen Wünschen und noch nicht mit den Widerwärtigkeiten des Lebens zu kämpfen, mit seiner eigenen Macht und noch nicht mit der Erbärmlichkeit der Menschen, die für schwankende Geister ein so verhängnisvolles Beispiel ist. Lebhaft verführt von seinem blendenden Geist, bewunderte David Lucien, ohne sich über die Irrtümer im unklaren zu sein, in die ihn das französische Ungestüm versetzte. Dieser schlichte Mann hatte einen schüchternen Charakter, der im Widerspruch stand zu seiner kräftigen Konstitution, aber es fehlte ihm nicht an der Festigkeit nördlicher Menschen. Wenn er auch Schwierigkeiten sah, nahm er sich doch vor, sie zu überwinden, ohne zu wanken, und wenn ihm die Festigkeit einer wahrhaft apostolischen Tugend eignete, milderte er sie durch die sanfte Anmut einer unerschöpflichen Nachsicht. In dieser schon nicht mehr jungen Freundschaft liebte einer von beiden wahrhaft vergötternd, und das war David. Und so kommandierte Lucien wie eine Frau, die sich geliebt weiß. David gehorchte mit Vergnügen. Die körperliche Schönheit seines Freundes gab diesem für David eine Überlegenheit, unter die er sich beugte; sich selbst fand er schwerfällig und gewöhnlich.

»Dem Ochsen das geduldige Pflügen, dem Vogel das freie Leben«, sagte sich der Drucker. »Ich werde der Ochse sein, Lucien der Adler!«

Seit ungefähr drei Jahren hatten so die beiden Freunde ihr Schicksal, dessen Zukunft sich so glänzend gestalten sollte, vereinigt. Sie lasen die großen Werke, die seit dem Friedensschluss auf literarischem und wissenschaftlichem Gebiete erschienen waren, die Werke von Schiller, Goethe, Lord Byron, Walter Scott, Jean Paul, Berzelius, Davy, Cuvier, Lamartine usw. Sie wärmten sich an diesen großen Feuern, sie versuchten sich selbst an Werken, die missglückten oder die angefangen, aufgegeben und glühend wieder aufgenommen wurden. Sie arbeiteten unaufhörlich, ohne die unerschöpflichen Kräfte der Jugend zu ermüden. Beide gleich arm, aber von der Liebe zur Kunst und Wissenschaft verzehrt, vergaßen sie ihr gegenwärtiges Elend und beschäftigten sich damit, die Grundlagen ihres künftigen Ruhms zu legen.

»Lucien, weißt du, was ich eben von Paris bekommen habe?« fragte der Drucker und zog einen kleinen Duodezband aus seiner Tasche. »Höre!«

David las, wie die Dichter zu lesen verstehen, die Idylle von André de Chénier vor, die den Namen »Neère« führt, dann den »Jungen Kranken« und schließlich die Elegie über den Selbstmord die erste in antiken Metren und die beiden andern in Jamben.

»Das ist also Andrè de Chénier!« rief Lucien wiederholt aus. »Es ist zum Verzweifeln«, wiederholte er zum drittenmal, als David, der zu erregt war, um weiterzulesen, ihm den Band überließ.

»Ein Dichter, den ein Dichter wieder entdeckt hat!« sagte er beim Anblick der Unterschrift unter der Vorrede.

»Als Chénier«, fing David wieder an, »diesen Band fertig hatte, hielt er ihn für unwert, veröffentlicht zu werden.«

Lucien seinerseits las das epische Stück »Der Blinde« und mehrere Elegien. Als er zu dem Fragment kam: »Wenn sie glücklos sind, wo ist dann Glück auf Erden –« ließ er das Buch sinken, und die beiden Freunde weinten, denn beide waren leidenschaftlich verliebt. Wie von der Berührung einer Fee waren die Weinranken erglüht, die alten, rissigen, zerbeulten, kreuz und quer von hässlichen Sprüngen durchzogenen Mauern des Hauses waren wie mit Säulen, Gewölbebogen, Basreliefs und unzähligen Meisterwerken einer unbekannten Architektur geziert. Die Phantasie hatte ihre Blumen und ihre Rubine auf den kleinen dunklen Hof geschüttet. Die Kamilla André de Chéniers war für David seine angebetete Eva geworden und für Lucien eine große Dame, der er den Hof machte. In ihrem feierlich wallenden Sternengewand war die Poesie durch die Werkstatt geschritten, wo die Affen und die Bären mit ihren Grimassen hin und her huschten. Es schlug fünf Uhr, aber die beiden Freunde verspürten weder Hunger noch Durst; das Leben war ihnen ein goldener Traum, alle Schätze der Erde lagen zu ihren Füßen. Sie gewahrten ein blaues Stückchen Himmel, wie es die Hoffnung denen zeigt, deren Leben schwer und stürmisch ist und denen ihre Sirenenstimme zuruft: »Eilet, flieget, durch dieses Stückchen Silber oder Azur sollt ihr dem Elend entgehen.« In diesem Augenblick öffnete ein Lehrling namens Cérizet, ein Pariser Junge, den David hatte nach Angoulême kommen lassen, die kleine Glastür, die von der Werkstatt in den Hof führte, und zeigte die beiden Freunde einem Unbekannten, der grüßend näher trat.

»Hier habe ich«, sagte er zu David und zog ein umfangreiches Heft aus der Tasche, »eine Denkschrift, die ich drucken lassen möchte. Möchten Sie kalkulieren, was sie kosten wird.«

»Ich bedaure,« antwortete David; ohne das Heft anzusehen, »wir drucken keine so umfangreichen Manuskripte, Sie müssen sich an die Herren Cointet wenden.«

»Wir haben aber doch eine sehr hübsche Schrift, die sich eignen könnte«, fiel Lucien ein und nahm das Manuskript in die Hand. »Sie müssten die Freundlichkeit haben, morgen wiederzukommen und uns Ihr Werk zur Berechnung der Druckkosten hier zu lassen.«

»Habe ich nicht mit Herrn Lucien Chardon die Ehre?«

»Jawohl«, antwortete der Faktor. »Ich bin glücklich,« sagte der Schriftsteller, »einen jungen Dichter kennen zu lernen, dem eine so schöne Zukunft bevorsteht. Ich bin von Frau von Bargeton geschickt.«

Als Lucien diesen Namen hörte, errötete er und stammelte einige Worte, um seine Dankbarkeit für das Interesse auszudrücken, das ihm Frau von Bargeton entgegenbrachte. David bemerkte das Erröten und die Verlegenheit seines Freundes, den er die Unterhaltung mit dem Landedelmann weiterführen ließ. Der war der Verfasser einer Denkschrift über die Seidenwürmerzucht, der aus Eitelkeit gerne gedruckt sein wollte, um von seinen Kollegen von der Landwirtschaftsgesellschaft gelesen zu werden.

»Wie, Lucien,« rief David aus, als der Herr gegangen war, »solltest du Frau von Bargeton lieben?«

»Wahnsinnig!«

»Aber ihr seid durch die Vorurteile der Gesellschaft mehr voneinander getrennt, als wenn sie in Peking lebte und du in Grönland.«

»Der Wille zweier Liebenden überwindet alles«, sagte Lucien und senkte die Augen. »Du wirst uns vergessen«, erwiderte der schüchterne Liebhaber der schönen Eva. »Vielleicht habe ich dir im Gegenteil meine Geliebte geopfert«, rief Lucien. »Wieso?«

»Trotz meiner Liebe, trotz der verschiedenen Interessen, die es ratsam machen, bei ihr zu verkehren, habe ich ihr gesagt, ich käme nie wieder, wenn nicht ein Mann, dessen Begabung größer ist als meine, dessen Zukunft ruhmvoll sein muss, wenn nicht mein Bruder und Freund, David Séchard, von ihr empfangen wird. Ich muss zu Hause eine Antwort vorfinden; aber wenn die Antwort ablehnend ist, werde ich, obwohl heute Abend alle Adligen eingeladen sind, um mich Gedichte lesen zu hören, keinen Fuß mehr über die Schwelle der Frau von Bargeton setzen.«

David wischte sich über die Augen und drückte die Hand Luciens mit Leidenschaft. Es schlug sechs Uhr.

»Eva wird unruhig werden, – leb wohl!« sagte Lucien plötzlich. Er ging und ließ David in einer Erregung zurück, die man nur in diesem Alter so heftig verspürt, besonders in der Lage, in der sich diese beiden jungen Schwäne befanden, denen das Provinzleben noch nicht die Flügel beschnitten hatte.

»Goldenes Herz!« rief David, indem er Lucien, der die Werkstatt durchschritt, mit den Blicken folgte.

Lucien ging durch die schöne Beaulieu-Promenade, die Nue du Minage und das Peterstor nach Houmeau. Er wählte so zwar den längsten Weg, aber er kam dabei an dem Hause der Frau von Bargeton vorbei. Er fühlte selbst unbewusst ein solches Vergnügen, wenn er unter den Fenstern dieser Frau vorbeiging, dass er seit zwei Monaten nicht mehr durch das Palet-Tor nach Houmeau zurückging.

Als er bei den Bäumen von Beaulieu angelangt war, sann er über den Abstand nach, der Angoulême vom Houmeau trennte. Die Sitten des Landes hatten moralische Schranken errichtet, die viel schwerer zu übersteigen waren als die Stufen, über die Lucien hinabging. Der junge Ehrgeizige, der sich im Hause Bargeton eingeführt hatte und so den Ruhm wie eine fliegende Brücke zwischen die Stadt und die Vorstadt geworfen hatte, befand sich der Entscheidung seiner Geliebten wegen in Unruhe; er glich einem Günstling, der die Ungnade fürchtet, nachdem er versucht hat, sein Machtgebiet auszudehnen. Das wird denen unverständlich vorkommen, die die besondern Sitten in solchen Städten, die in eine Oberstadt und eine Unterstadt eingeteilt sind, noch nicht beobachtet haben; aber um so notwendiger ist es, hier einige Erklärungen über Angoulême zu geben, als sie Frau von Bargeton, eine der wichtigsten Personen dieser Geschichte, verständlich machen werden.

Angoulême ist eine alte Stadt, die auf dem Gipfel eines zuckerhutförmigen Felsens erbaut ist, der sich über die Ebene erhebt, in der die Charente dahinfließt. Dieser Felsen grenzt gegen das Périgord an eine lange Hügelkette, die er auf der Straße von Paris nach Bordeaux plötzlich abschließt, indem er eine Art Vorgebirge bildet, das von drei malerischen Tälern durchzogen wird. Welche Bedeutung diese Stadt in der Zeit der Religionskriege besaß, wird von seinen Wällen, seinen Toren und von den Resten einer Feste bezeugt, die sich auf der Kuppe des Felsens erhebt. Seine Lage machte Angoulême ehemals zu einem strategischen Punkt, der den Katholiken und den Kalvinisten in gleicher Weise wertvoll war; aber seine frühere Stärke ist der Grund zu seiner jetzigen Schwäche; seine Wälle und der Felsen, der zu steil abfällt, haben Angoulême verhindert, sich nach der Charente zu auszudehnen, und haben es so zum schlimmsten Stillstande verdammt. Um die Zeit herum, wo diese Geschichte sich zutrug, versuchte die Regierung, die Stadt gegen das Périgord hin zur Ausdehnung zu bringen, indem sie der Hügelkette entlang das Präfekturgebäude, eine Marineschule und militärische Gebäude errichtete und Straßen anlegte. Aber der Handel war in anderer Richtung vorausgegangen. Seit langer Zeit war der Flecken Houmeau wie ein Champignonbeet am Fuße des Felsens und an den Ufern des Flusses angewachsen, an dem die große Straße von Paris nach Bordeaux entlangzieht. Alle Welt kennt die Berühmtheit der Papiermühlen von Angoulême, die sich seit drei Jahrhunderten notwendigerweise an der Charente und ihren Nebenflüssen angesiedelt hatten, wo sie Wasserfälle fanden. Der Staat hatte in Ruelle seine wichtigste Marinegeschützgießerei errichtet. Das Speditionsgeschäft, die Post, die Herbergen, die Stellmachereien, die Fuhrgeschäfte, alle Industrien, die von der Landstraße und vom Flusse leben, gruppierten sich unterhalb von Angoulême, um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die die steilen Zugangsstraßen bereiteten. Natürlich blieben die Gerbereien, die Wäschereien und alle Geschäfte, die Wasser brauchten, bei der Charente; ferner waren die Branntweinlager, die Niederlagen aller möglichen Rohstoffe, die auf dem Flusse hergebracht wurden, endlich der ganze Durchgangsverkehr an den Ufern der Charente. Die Vorstadt Houmeau wurde also eine reiche Industriestadt, ein zweites Angoulême, auf das die Oberstadt, in der die Regierung, der Bischofssitz, die Gerichte und die Aristokratie verblieben waren, eifersüchtig war. So war Houmeau trotz seiner tätigen und wachsenden Macht nur ein Anhängsel von Angoulême. Oben der Adel und die Behörden, unten der Handel und das Geld: zwei soziale Zonen, die einander allenthalben und ständig feindlich gegenüberstehen; auch ist es schwierig, zu sagen, welche von den beiden Städten die Nebenbuhlerin am meisten hasste. Die Restauration hatte seit neun Jahren diesen Stand der Dinge, der unter dem Kaiserreich ziemlich besänftigt gewesen war, verschlimmert. Die meisten Häuser des obern Angoulême sind entweder von Adelsfamilien oder von Patrizierfamilien bewohnt, die von ihren Einkünften leben und eine Art autochthone Nation bilden, in die Fremde nie zugelassen werden. Kaum wird eine Familie, die aus einer Nachbarprovinz gekommen ist, wenn sie zweihundert Jahre da gewohnt hat, etwa nach einer Verbindung mit einer der eingeborenen Familien, aufgenommen; diese Eingeborenen betrachten sie, als ob sie erst gestern ins Land gekommen wären. Die Präfekten, die Obersteuereinnehmer, die Verwaltungen, die einander seit vierzig Jahren gefolgt sind, haben versucht, diese alten Familien, die wie argwöhnische Raben auf ihrem Felsen hocken, zu humanisieren: die Familien haben ihre Feste und ihre Gastmähler angenommen, aber sie bei sich zu empfangen, haben sie hartnäckig abgelehnt. Diese Häuser, deren Glieder boshaft, klatschsüchtig, eifersüchtig und geizig sind, verheiraten sich untereinander und bilden ein geschlossenes Korps, um niemanden eintreten oder hinausgehen zu lassen; die Schöpfungen des modernen Luxus kennen sie nicht; ein Kind nach Paris schicken, bedeutet ihnen, es dem Verderben preisgeben zu wollen. Diese Vorsicht gibt ein Bild von den zurückgebliebenen Sitten und Gebräuchen dieser Familien, die in einem verständnislosen Royalismus stecken, die mehr frömmelnd als fromm sind und alle in Unbeweglichkeit verharren, wie ihre Stadt und ihr Felsen. Angoulême genießt jedoch in den benachbarten Provinzen einen großen Ruf wegen der Erziehung, die man dort erhält. Die benachbarten Städte schicken ihre Töchter dahin in die Pensionate und Klöster. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Einfluss der Kastengeist auf die Gefühle hat, die Angoulême und Houmeau voneinander trennen. Der Kaufmannsstand ist reich, der Adel ist im allgemeinen arm. Einer rächt sich am andern mit einer Verachtung, die auf beiden Seiten gleich ist. Das Bürgertum von Angoulême macht diesen Streit zu seiner ganz besonderen Angelegenheit. Der Kaufmann der Oberstadt sagt von einem Handeltreibenden der Vorstadt mit einer unbeschreiblichen Betonung: »Einer aus Houmeau!« Die Restauration, die dem Adel in Frankreich wieder eine besondere Stellung geben wollte und ihm Hoffnungen machte, die ohne einen allgemeinen Umsturz nicht verwirklicht werden konnten, erweiterte die moralische Kluft, die noch mehr als die örtliche Entfernung Angoulême von Houmeau trennte. Die adlige Gesellschaft, die damals mit der Regierung eins war, wurde dort exklusiver als in jeder andern Stadt Frankreichs. Der Einwohner von Houmeau hatte schon Ähnlichkeit mit einem Paria. Daher kam der dumpfe und tiefe Hass, der den Aufstand von 1830 so schrecklich einmütig machte und die Elemente eines dauernden Gesellschaftszustandes in Frankreich zerstörte. Der Dünkel des Hofadels entfremdete dem Thron den Provinzadel, ebenso wie dieser das Bürgertum abstieß, indem er es in allen seinen Eitelkeiten kränkte. Einer aus Houmeau, der Sohn eines Apothekers, sollte bei Frau von Bargeton eingeführt werden? Das war schon eine kleine Revolution. Wer waren ihre Urheber? Lamartine und Victor Hugo, Casimir Delavigne und Canalis, Beranger und Chateaubriand, Villemain und M. Aignan, Soumet und Tissot, Etienne und Davrigny, Benjamin Constant und Lamennais, Cousin und Michaud, kurz, nicht minder die alten wie die jungen literarischen Berühmtheiten, die Liberalen wie die Royalisten. Frau von Bargeton liebte Künste und schöne Wissenschaften, das war für Angoulême ein extravaganter Geschmack, eine höchst beklagenswerte Manie, und es ist notwendig, sie zu rechtfertigen, indem wir das Leben dieser Frau skizzieren, die zur Berühmtheit geboren war, durch verhängnisvolle Umstände im Dunkel blieb und deren Einfluss das Schicksal Luciens entschied.

Herr von Bargeton war der Urenkel eines Schöffen von Bordeaux namens Mirault, der unter Ludwig XIII. nach langer Dienstleistung in seinem Amte geadelt worden war. Unter Ludwig XIV. wurde sein Sohn, der nun Mirault von Bargeton hieß, Offizier in der königlichen Leibgarde und machte eine so reiche Heirat, dass sein Sohn unter Ludwig XV. einfach Herr von Bargeton hieß. Diesem Herrn von Bargeton, dem Enkel des Schöffen Mirault, gelang es so gut, sich als vollkommener Edelmann zu führen, dass er alle Güter der Familie aufzehrte und ihren Glückslauf zum Stillstand brachte. Zwei seiner Brüder, Großonkel des jetzigen Bargeton, wurden wieder Kaufleute, so dass man unter den Handeltreibenden Bordeaux' den Namen Mirault finden kann. Da die Besitzung Bargeton, die im Angoumois als Afterlehen der La Rochefoucauld lag, und ebenso ein Haus in Angoulême, das man das Hotel Bargeton nannte, unveräußerlich waren, erbte der Enkel des ebengenannten Verschwenders von Bargeton diese beiden Besitzungen. Im Jahre 1789 verlor er seine Nutzrechte und hatte nur noch das Einkommen aus dem Grund und Boden, das ungefähr zehntausend Franken Rente betrug. Wäre sein Großvater dem glorreichen Beispiel Bargeton I. und Bargeton II. gefolgt, dann wäre Bargeton V., dem man den Zunamen »der Stumme« geben kann, Marquis von Bargeton gewesen; er hätte sich mit irgendeiner großen Familie verbunden und wäre, wie so viele andere, Herzog und Pair geworden; so aber war es eine große Ehre für ihn, dass er im Jahre 1805 Fräulein Marie Louise Anaïs von Nègrepelisse heiratete, die Tochter eines Edelmanns, der seit langem auf seinem kleinen Edelhof vergessen worden war, obwohl er zum jüngeren Zweig einer der ältesten Familien Südfrankreichs gehörte. Es gab einen Nègrepelisse unter den Geiseln des heiligen Ludwig; aber der Chef des älteren Zweigs trägt den illustren Namen Espard, den er unter Heinrich IV. durch eine Heirat mit der Erbin dieser Familie erwarb. Dieser Edelmann, der jüngere Sohn eines jüngeren Sohnes, lebte auf der Besitzung seiner Frau, einem kleinen Gute in der Nähe von Barbecieux, das er vortrefflich bestellte, indem er zu Markt ging, um sein Korn zu verkaufen, seinen Wein selbst brannte und sich aus dem Spott nichts machte, wenn er nur Dukaten aufhäufte und von Zeit zu Zeit seinen Besitz vergrößern konnte. Umstände, die in der Provinz recht selten sind, hatten Frau von Bargeton Geschmack für die Musik und die Literatur gegeben. Während der Revolution verbarg sich ein Abbé Niollant, der beste Zögling des Abbé Roze, in dem Schlösschen Escarbas und brachte mit dahin, was er als Komponist brauchte. Er hatte die Gastfreundschaft des alten Edelmanns reichlich dadurch bezahlt, dass er die Erziehung seiner Tochter Anaïs, kurz Naïs genannt, übernommen hatte, die ohne dieses Abenteuer sich selbst oder, was noch schlimmer gewesen wäre, irgendeiner schlechten Kammerfrau überlassen gewesen wäre. Der Abbé war nicht nur Musiker, er besaß auch ausgebreitete literarische Kenntnisse und konnte Italienisch und Deutsch. Er unterrichtete also Fräulein von Nègrepelisse in diesen beiden Sprachen und im Kontrapunkt; er erklärte ihr die großen literarischen Werke Frankreichs, Italiens und Deutschlands und ging mit ihr die Musik aller Meister durch. Um endlich den Müßiggang der tiefen Vereinsamung zu bekämpfen, zu der sie beide die politischen Ereignisse verdammten, lehrte er sie Griechisch und Lateinisch und verschaffte ihr gewisse Kenntnisse in den Naturwissenschaften. Da sie keine Mutter mehr hatte, gab es für das junge Mädchen, das schon durch das Landleben sehr zur Unabhängigkeit geneigt war, kein Gegengewicht gegen diese männliche Erziehung. Der Abbé Niollant, ein enthusiastischer und dichterischer Geist, war besonders bemerkenswert durch Eigenschaften, die den Künstlern eigen sind, die ja in verschiedener Hinsicht rühmlich sind, aber vor allem durch die Freiheit des Urteils und durch die Weite des Blicks sich über die bürgerliche Gedankenwelt erheben. Wenn dieser Geist seine Kühnheiten durch seine Tiefe und Ursprünglichkeit in der Welt verzeihlich macht, so kann er dagegen im Privatleben durch die Verirrungen, die er bewirkt, schädlich scheinen. Es fehlte dem Abbé nicht an Gemüt, seine Ideen waren also für ein junges Mädchen ansteckend, bei dem die jungen Menschen natürliche Überspanntheit durch die Einsamkeit des Landlebens verstärkt wurde. Der Abbé Niollant übertrug die Kühnheit seiner Kritik und die Leichtigkeit seines Urteils auf seine Schülerin, ohne daran zu denken, dass diese Eigenschaften, die einem Manne so notwendig sind, bei einer Frau, die zu dem bescheidenen Lose der Mutter bestimmt ist, zu Fehlern werden. Obwohl der Abbé seiner Schülerin unausgesetzt ans Herz legte, um so liebenswürdiger und bescheidener zu werden, je mehr ihr Wissen sich ausbreitete, bekam Fräulein von Nègrepelisse eine ausgezeichnete Meinung von sich selbst und eine starke Verachtung gegen die Menschheit. Da sie in ihrer Umgebung nur untergeordnete oder dienstfertige Menschen sah, eignete ihr der Hochmut der großen Dame, aber nicht die gefälligen Manieren einer solchen. In all ihrer Eitelkeit fühlte sie sich durch einen armen Abbé geschmeichelt, der in ihr sich selbst bewunderte, wie ein Autor sich in seinem Werk, und so hatte sie das Unglück, keinen Vergleichungspunkt zu finden, der ihr zu einem Urteil über sich selbst verholfen hätte. Der Mangel an Gesellschaft ist einer der größten Nachteile des Landlebens. Da man nicht genötigt ist, den anderen die kleinen Opfer zu bringen, die der Anstand und die Toilette erfordern, verliert man die Gewohnheit, sich anderer wegen Zwang aufzuerlegen. Alles in uns artet dann aus, die Form und der Geist. Da die Ideenfreiheit des Fräuleins von Nègrepelisse nicht durch den Verkehr in der Gesellschaft eingeschränkt wurde, ging sie in ihr Benehmen, in ihre Haltung und in ihren Blick über; sie hatte jene hochfahrende Miene, die im Anfang originell erscheint, die aber nur Abenteurerinnen gut steht. So musste diese Erziehung, deren Härten sich in den höhern sozialen Schichten abgeschliffen hätten, sie in Angoulême, sobald ihre Anbeter aufhörten, Verirrungen zu vergöttern, die nur in der Jugend anmutig sind, lächerlich machen. Herr von Nègrepelisse seinerseits hätte alle Bücher seiner Tochter hergegeben, um einen kranken Ochsen zu retten, denn er war so geizig, dass er ihr über das Einkommen, auf das sie Anspruch hatte, nicht einen Heller bewilligt hätte, selbst wenn es sich darum gehandelt hätte, ihr die für ihre Ausbildung nötigste Kleinigkeit zu kaufen. Der Abbé starb im Jahre 1802, vor der Verheiratung seines lieben Kindes, die er ohne Frage widerraten hätte. Der alte Edelmann fand sich nach dem Tode des Abbé durch seine Tochter sehr behindert. Er fühlte sich zu schwach, um den Kampf aushalten zu können, der zwischen seinem Geiz und dem unabhängigen Geist seiner unbeschäftigten Tochter ausbrechen musste. Wie alle jungen Mädchen, die von der gebahnten Straße, auf der die Frauen bleiben müssen, abgekommen sind, war Naïs mit ihrem Urteil über die Ehe fertig und kümmerte sich wenig ums Heiraten. Es war ihr widerwärtig, ihren Verstand und ihre Person den Männern ohne Wert und persönliche Größe unterzuordnen, die sie in ihrem zurückgezogenen Leben hatte kennen lernen können. Sie wollte befehlen und sollte gehorchen. Wenn ihr die Wahl gestellt worden wäre zwischen dem Gehorsam gegen plumpe Launen, der Unterwerfung unter einen Menschen ohne Verständnis für ihre Neigungen und der Flucht mit einem Geliebten, an dem sie Gefallen gefunden hätte, sie hätte nicht gezögert. Herr von Nègrepelisse war noch Edelmann genug, dass er eine unpassende Verbindung fürchtete. Wie viele Väter entschloss er sich, seine Tochter zu verheiraten, weniger um ihretwillen, als wegen seiner Bequemlichkeit. Sie sollte einen nicht allzu klugen Adligen oder Landmann haben, der nicht imstande wäre, ihm wegen der Mündelabrechnung, die er seiner Tochter ablegen musste, Schwierigkeiten zu machen, dessen Kopf und Energie unbedeutend genug wären, dass Naïs ihr Leben nach ihrer Laune einrichten konnte, und der uneigennützig genug wäre, sie ohne Mitgift zu heiraten. Aber wie sollte man einen Schwiegersohn finden, der in gleicher Weise dem Vater und der Tochter gefiel? Ein solcher Mann war der Phönix der Schwiegersöhne. Nach diesen zwei Seiten hin machte sich Herr von Nègrepelisse daran, die Männer in der Provinz zu studieren, und Herr von Bargeton schien ihm der einzige zu sein, der seinem Programm entsprach. Herr von Bargeton, ein von den Liebschaften seiner Jugend recht mitgenommener Vierziger, war wegen seiner bemerkenswerten Geistesschwäche bekannt; aber er hatte noch genau so viel Verstand, um sein Vermögen zu verwalten, und so viel Benehmen, um sich in der Welt von Angoulême bewegen zu können, ohne sich unmöglich oder lächerlich zu machen. Herr von Nègrepelisse setzte seiner Tochter ganz rückhaltlos den negativen Wert des Mustergatten, den er ihr vorschlug, auseinander und wies sie auf den Vorteil hin, den sie daraus für ihr eigenes Glück ziehen konnte: sie heiratete ein Wappen, das schon zweihundert Jahre alt war. Unter dem Schutz ihres Mannes, der ihr eine Art Anstandsdame wäre, könnte sie nach Belieben ihr Geschick unter der Deckung einer ehrenhaften Firma lenken und würde dabei unterstützt von den Verbindungen, die Geist und Schönheit ihr in Paris verschafften. Naïs wurde von der Aussicht auf eine solche Freiheit verführt. Herr von Bargeton glaubte eine glänzende Partie zu machen, da er der Meinung war, sein Schwiegervater würde ihm bald die Besitzung hinterlassen, die er mit solcher Liebe immer mehr vergrößert hatte; aber es schien jetzt, als ob es Herrn von Nègrepelisse beschieden wäre, seinem Schwiegersohn die Grabschrift zu verfassen.

Frau von Bargeton war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und ihr Mann achtundfünfzig. Diese Ungleichheit fiel noch mehr auf, da Herr von Bargeton wie ein Siebziger aussah, während seine Frau ungestraft das junge Mädchen spielen, sich rosa kleiden oder eine Kinderfrisur tragen konnte. Obwohl ihr Vermögen nicht mehr als zwölftausend Franken Rente betrug, zählte es unter die sechs beträchtlichsten Vermögen der alten Stadt, abgesehen von den Kaufleuten und den Administratoren. Die Notwendigkeit, sich mit ihrem Vater gut zu stellen, dessen Erbschaft Frau von Bargeton abwarten musste, um nach Paris gehen zu können, und der so lange darauf warten ließ, dass sein Schwiegersohn vor ihm starb, zwang Herrn und Frau von Bargeton, in Angoulême zu wohnen, wo die glänzenden Eigenschaften des Geistes und der Reichtum des Herzens, der in Naïs noch ungehoben schlummerte, fruchtlos verloren gehen und sich mit der Zeit in Lächerlichkeiten verwandeln mussten. In der Tat sind unsere Lächerlichkeiten zum großen Teil von einem schönen Gemütsleben oder von Tugenden und Eigenschaften, die ins Äußerste getrieben sind, verursacht. Der Stolz, den der Umgang in der großen Welt nicht mildert, wird Schroffheit, wenn er sich auf Kleinigkeiten erstreckt, während er sich in einem Kreis erhöhten seelischen Lebens hätte verstärken können. Die Begeisterung, diese Tugend, in der Tugend, die die Heiligen erzeugt, die die verborgenen Opfer und die leuchtenden Dichtungen hervorbringt, wird zur Überspanntheit, wenn sie sich an die Nichtigkeiten der Provinz verschwendet. Fern von dem Mittelpunkt, wo die großen Geister glänzen, wo die Luft mit Gedanken geladen ist, wo alles immer in Erneuerung ist, veraltet die Bildung, und der Geschmack verschlechtert sich wie ein stehendes Wasser. Aus Mangel an Übung nehmen die Leidenschaften ab, gerade weil sie die Bedeutung winziger Dinge übertreiben. Daher schreiben sich der Geiz und der Klatsch, die das Leben der Provinz verpesten. Bald gewinnt die Nachahmung des engen Gedankenlebens und der erbärmlichen Manieren selbst über die trefflichsten Menschen Gewalt. So gehen Männer, die zu Großem geboren sind, und Frauen zugrunde, die entzückend gewesen wären, wenn sie durch den Unterricht, den die Welt gibt, Schliff und durch überlegene Geister Formung erfahren hätten. Frau von Bargeton griff um jeder Kleinigkeit willen zur Leier, ohne das, was nur im Privatleben poetisch ist, vom Allgemeingültigen zu unterscheiden. Man muss in der Tat die Empfindungen, die nicht verstanden werden, für sich behalten. Ein Sonnenuntergang ist gewiss ein großes Gedicht, aber macht sich eine Frau nicht lächerlich, wenn sie ihn mit großen Worten vor Leuten schildert, die nur materielle Interessen haben? Es gibt Wonnen, die nur zu zweien gekostet werden können, zwischen zwei Dichtern, zwei Herzen. Sie hatte den Fehler, dass sie ungeheure Sätze bildete, die mit pathetischen Worten gespickt waren, Sätze, wie sie die Sprache der Pariser Journalisten so trefflich als »Brotscheiben« bezeichnet: sie schneiden täglich ihren Abonnenten sehr wenig verdauliche zum Frühstück vor, und die schlingen sie hinunter. Sie verschwendete maßlos Superlative, die ihre Unterhaltung schwerfällig machten und die geringsten Dinge ins Riesenhafte wachsen ließen. In dieser Zeit fing sie an, alles zu typisieren, individualisieren, synthetisieren, dramatisieren, superiorisieren, analysieren, poetisieren, prosaisieren, kolossifizieren, neologisieren und tragieren; denn man muss für einen Augenblick die Sprache vergewaltigen, um die modernen Verschrobenheiten zu schildern, die manche Frauen betreiben. Ihr Geist entzündete sich überdies gerade an ihrer Sprache. Der Dithyrambus war in ihrem Herzen wie auf ihren Lippen. Um jeden Vorfall bebte sie, fiel in Ohnmacht oder wurde hingerissen um die Aufopferung einer Grauen Schwester und die Hinrichtung der Brüder Faucher, um die »Ibsiboe« d'Harlincourts wie für die »Anaconda« von Lewis, um die Flucht des La Valette wie um eine ihrer Freundinnen, die mit lauter Stimme Diebe in die Flucht gejagt hatte. Für sie war alles erhaben, außerordentlich, seltsam, göttlich, wunderbar. Sie regte sich auf, wurde wütend, verzagte, schwang sich auf, klappte wieder zusammen, betrachtete den Himmel oder die Erde, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie verbrauchte ihr Leben in unausgesetztem Bewundern und verzehrte sich in seltsamem Verachten. Sie war begeistert für den Pascha von Janina, sie hatte Lust, mit ihm in seinem Serail zu kämpfen, und fand etwas Großes darin, in einen Sack genäht und ins Meer geworfen zu werden. Sie beneidete Lady Esther Stanhope, diesen Blaustrumpf der Wüste. Sie bekam Lust, eine Schwester vom Orden der heiligen Kamilla zu werden und zur Pflege der Kranken nach Barcelona zu gehen, um dort am gelben Fieber zu sterben: das war ein großes, edles Los! Kurz, sie dürstete nach allem, was nicht das seichte, stehende Wasser ihres Daseins war. Sie betete Lord Byron oder Jean Jacques Rousseau an, wie alle poetischen und dramatischen Persönlichkeiten. Sie hatte Tränen für alles Elend und triumphierte über alle Siege. Sie hatte Mitgefühl mit dem besiegten Napoleon und ebenso mit Mehemet Ali, der die Tyrannen Ägyptens niedermetzelte. Kurz, sie sah die genialen Menschen mit einem Glorienschein umgeben und glaubte, sie lebten von Duft und Licht. Vielen Leuten erschien sie als eine harmlose Geisteskranke; aber einem guten Beobachter wären diese Dinge als Trümmer einer wundervollen Liebe erschienen, die ebenso schnell wieder einstürzte, wie sie erbaut war, die Reste eines himmlischen Jerusalem, kurz, die Liebe ohne den Liebenden. Und so war es auch. Die Geschichte der achtzehn ersten Jahre der Ehe der Frau von Bargeton ist in wenig Worten erzählt. Sie lebte eine Zeitlang von sich selbst und von fernen Hoffnungen. Dann merkte sie, dass ihr geringes Vermögen ihr nicht erlaubte, wie sie es erstrebte, in Paris zu leben, und ging daran, die Personen ihrer Umgebung zu prüfen. Es schauderte ihr über ihre Einsamkeit. Es gab in ihrer Nähe keinen Mann, der sie zu irgendeiner Tollheit hätte bringen können, zu einer der Tollheiten, zu denen die Frauen die Verzweiflung über ein Leben ohne Sinn, ohne Ereignis, ohne Interesse hinreißt. Sie konnte auf nichts rechnen, nicht einmal auf den Zufall, denn es gibt Lebensläufe, denen der Zufall fehlt. Zu der Zeit, wo das Kaiserreich in seinem ganzen Glanze strahlte, als Napoleon nach Spanien fuhr und seine edelsten Truppen hinschickte, erwachten die Hoffnungen dieser Frau, die bis dahin immer enttäuscht worden waren. Die Neugier trieb sie natürlich, diese Helden zu sehen, die sich anschickten, auf eine Parole hin Europa zu erobern, und die die sagenhaften Ausfahrten des Rittertums wieder erneuerten. Die geizigsten und reaktionärsten Städte waren genötigt, der kaiserlichen Garde Feste zu geben, die Maires und die Präfekten mit feierlichen Ansprachen zum Empfang zu schicken, wie wenn ein König in die Stadt käme. Frau von Bargeton, die zu einem Ball gegangen war, den ein Regiment der Stadt gegeben hatte, verliebte sich in einen Edelmann, einen einfachen Unterleutnant, dem der schlaue Napoleon den Marschallstab Frankreichs gezeigt hatte. Diese verhaltene edle, große Liebe, die in Gegensatz stand zu den Liebesabenteuern, die damals so leicht begannen und so schnell wieder endeten, wurde von der Hand des Todes geheiligt. Bei Wagram zertrümmerte eine Kanonenkugel über dem Herzen des Marquis von Cante-Croix das einzige Bildnis, das von der Schönheit der Frau von Bargeton Kunde gab. Sie beweinte diesen jungen Mann lange Zeit, der, vom Ruhm und von der Liebe angefeuert, in zwei Feldzügen es bis zum Oberst gebracht hatte und dem ein Brief von Naïs lieber war als alle Gunstbeweise des Kaisers. Der Schmerz legte über das Gesicht dieser Frau einen Schleier von Traurigkeit. Dieses Gewölk zerstreute sich erst in dem schrecklichen Alter, wo die Frau anfängt, sehnsüchtig nach ihren schönen Jahren zurückzublicken, die vorübergegangen sind, ohne dass sie sie genossen hat, wo ihre Rosen zu welken beginnen, wo die Sehnsucht nach Liebe wiedererwacht und mit ihr das Verlangen, das letzte Lächeln der Jugend noch nicht schwinden zu sehen. Alle ihre überlegenen Eigenschaften taten ihrer Seele weh, da der tödliche Frost der Provinz sie befiel. Wie der Hermelin wäre sie vor Ekel gestorben, wenn sie sich in der Berührung mit Männern beschmutzt hätte, die keinen andern Gedanken hatten, als am Abend nach dem Essen um ein paar Pfennige zu spielen. Ihr Stolz bewahrte sie vor den traurigen Liebeshändeln der Provinz. Bei der Wahl zwischen der Nichtigkeit der Männer, die sie umgaben, und dem Nichts musste eine so überlegene Frau das Nichts vorziehen. Die Ehe und die Welt waren so für sie ein Kloster. Sie lebte von der Dichtung, wie die Karmeliterin von der Religion. Die Werke der berühmten Ausländer, die bis dahin unbekannt gewesen waren und in den Jahren 1815-1821 veröffentlicht wurden, die großen Schriften der de Bonald und de Maistre, dieser beiden kühnen Denker, endlich die weniger großartigen Werke der jungen französischen Literatur, die so kräftig ihre ersten Zweige trieb, verschönten ihre Einsamkeit, machten aberweder ihren Geist noch ihren Charakter fügsamer. Sie blieb aufrecht und stark wie ein Baum, der vom Blitz getroffen wurde und stehen geblieben ist. Ihre Würde wurde geschraubt, ihre königliche Haltung machte sie preziös und klügelnd. Wie alle, die sich von beliebigen Hofmachern anbeten lassen, saß sie mitsamt ihren Fehlern auf dem Thron. Das war die Vergangenheit der Frau von Bargeton, kurz und kalt erzählt, wie es notwendig war, um ihre Verbindung mit Lucien verständlich zu machen, der seltsam genug bei ihr eingeführt wurde. Während des letzten Winters war eine Persönlichkeit in die Stadt gekommen, die das eintönige Dasein, das Frau von Bargeton führte, belebt hatte. Die Stelle des Direktors der indirekten Steuern war erledigt gewesen, und Herr von Barante besetzte sie mit einem Manne, dessen abenteuerliches Schicksal genügend für ihn einnahm, dass weibliche Neugier ihm den Zutritt zur Königin des Landes verschaffte.

Herr du Châtelet, der als einfacher Sixtus Châtelet zur Welt gekommen war, aber im Jahre l806 den guten Einfall gehabt hatte, sich adeln zu lassen, war einer der angenehmen jungen Leute, die unter Napoleon dadurch allen Aushebungen entgingen, dass sie in der Nähe der kaiserlichen Sonne weilten. Er hatte seine Karriere als Geheimsekretär einer kaiserlichen Prinzessin begonnen. Herr du Châtelet war im Besitz aller Unfähigkeiten, die seine Stellung erforderte. Er war ein wohlgebauter, hübscher Mann, ein guter Tänzer, geschickter Billardspieler, gewandt in allen Leibesübungen, ein mäßiger Schauspieler bei Liebhaberaufführungen, ein Romanzensänger, gab ein gutes Publikum für Witze ab, war zu allem bereit, schmiegsam, missgünstig, und wusste alles und nichts. Er verstand nichts von Musik und konnte eine Dame schlecht und recht am Klavier begleiten, wenn sie aus Gefälligkeit eine Romanze singen wollte, die sie einen Monat lang mit unsäglicher Mühe geübt hatte. Er hatte keinerlei Sinn für Poesie und pflegte in Gesellschaft keck um die Erlaubnis zu bitten, zehn Minuten auf und ab gehen zu dürfen, um etwas zu improvisieren, irgendeinen Vierzeiler, der platt wie ein Pfannkuchen war und in dem der Reim den Gedanken ersetzen musste. Herr du Châtelet besaß auch das Talent, die Stickerei auszufüllen, deren Blumen von der Prinzessin angefangen worden waren; er hielt mit unbeschreiblicher Grazie die Seidensträhnen, die sie aufspulte, und sagte ihr dabei Nichtigkeiten, in denen die Zote unter einem mehr oder weniger durchlöcherten Schleier versteckt war. Er verstand nichts von Malerei und konnte eine Landschaft kopieren, ein Profil zeichnen oder ein Kostüm entwerfen und kolorieren. Kurz, er hatte all die kleinen Talente, die in einer Zeit, in der die Frauen mehr Einfluss auf die Geschäfte gehabt haben, als man glaubt, von so großem Wert für die Karriere waren. Er spielte sich als stark in der Diplomatie auf, in der Wissenschaft derer, die keine haben und die tief sind infolge ihrer Leere, einer Wissenschaft, die überdies sehr bequem ist, indem sie sich nämlich durch die Ausübung so hoher Verrichtungen wie folgende betätigt: da sie diskrete Menschen braucht, erlaubt sie denen, die nichts wissen, nichts zu sagen, sich auf geheimnisvolles Wiegen des Kopfes zu beschränken; und schließlich ist der Mann der stärkste in dieser Wissenschaft, der seinen Kopf über dem Fluss der Ereignisse hält, wenn er schwimmt, und ihn so zu lenken scheint, was zu einer Frage des möglichst geringen spezifischen Gewichts wird. Hier wie in den Künsten kommen tausend Mittelmäßigkeiten auf einen Mann von Genie. Trotz seinem ordentlichen und außerordentlichen Dienst bei der kaiserlichen Hoheit hatte ihn der Einfluss seiner Gönner nicht in den Staatsrat bringen können, er hätte zwar einen ausgezeichneten vortragenden Rat abgegeben, so gut wie viele andere, aber die Prinzessin fand ihn bei sich selbst besser untergebracht als irgendwo anders. Jedoch wurde er zum Baron ernannt, ging nach Kassel als außerordentlicher Gesandter und machte dort in der Tat eine sehr außerordentliche Erscheinung. Mit andern Worten: Napoleon benutzte ihn in kritischer Zeit als diplomatischen Kurier. In dem Augenblick, wo das Kaiserreich zusammenbrach, war dem Baron du Châtelet bereits zugesagt, er solle Gesandter in Westfalen bei Jérôme werden. Nachdem ihm also fehlgeschlagen war, was er einen Botschafterposten in der Familie genannt hatte, ergriff ihn die Verzweiflung; er machte mit dem General Armand de Montriveau eine Reise nach Ägypten. Er war durch höchst absonderliche Ereignisse von seinem Gefährten getrennt worden und zwei Jahre lang von Wüste zu Wüste, von Stamm zu Stamm geirrt, war Gefangener der Araber geworden, die ihn sich einander abkauften, ohne den geringsten Nutzen von seinen Talenten zu haben. Endlich erreichte er das Gebiet des Imam von Maskat, während Montriveau sich nach Tanger gewandt hatte; aber er hatte das Glück, in Maskat ein englisches Schiff zu treffen, das unter Segel ging, und konnte ein Jahr vor seinem Reisegefährten in Paris eintreffen. Sein jüngstes Missgeschick, einige Verbindungen älteren Datums, Dienste, die er Leuten erwies, die gerade in Gunst waren, empfahlen ihn dem Ministerpräsidenten, der ihn für die nächste Direktorstelle, die frei wurde, bei Herrn von Barante unterbrachte. Die Rolle, die Herr du Châtelet bei der kaiserlichen Hoheit gespielt hatte, sein Ruf als Mann, der sein Glück zu machen verstand, die seltsamen Ereignisse seiner Reise, die Leiden, die er ausgestanden hatte, alles erregte die Neugierde der Frauen von Angoulême. Der Baron Sixtus du Châtelet erkundigte sich nach Brauch und Gepflogenheiten der Oberstadt und richtete sein Benehmen danach ein. Er spielte den Kranken, Blasierten, der an nichts mehr Vergnügen findet. Bei jeder Gelegenheit griff er sich nach dem Kopf, wie wenn seine Leiden ihn nicht einen Augenblick verließen. Dieses kleine Manöver brachte seine Reise in Erinnerung und machte ihn interessant. Er besuchte die höhern Beamten, den General, den Präfekten, den Hauptsteuereinnehmer und den Bischof; aber er zeigte sich überall gemessen, kalt, fast herablassend, wie ein Mann, der nicht an seinem Platz ist und die Freundlichkeit der Mächtigen abwartet. Er ließ seine geselligen Talente erraten, die dadurch gewannen, dass man sie nicht kennen lernte; dann, nachdem er auf sich gespannt gemacht hatte, ohne die Neugier zu ermüden, nachdem er die Nichtigkeit der Männer durchschaut und die Frauen mehrere Sonntage hintereinander im Dom weise geprüft hatte, erkannte er in Frau von Bargeton die Person, deren Intimität ihm zusagte. Er zählte auf die Musik, um sich die Tore dieses Hauses zu öffnen, das gegen Fremde hermetisch verschlossen war. Er verschaffte sich heimlich eine Messe von Miroir und studierte sie sich am Klavier ein; dann bezauberte er an einem schönen Sonntag, wo die ganze gute Gesellschaft von Angoulême in der Messe war, diese Verständnislosen mit seinem Orgelspiel und erweckte das Interesse, das sich an seine Person geknüpft hatte, indem er von den Angehörigen des niedern Klerus überall in der Kirche seinen Namen nennen ließ. Beim Verlassen der Kirche beglückwünschte ihn Frau von Bargeton und bedauerte, keine Gelegenheit zu haben, mit ihm zu musizieren; während dieses Zusammentreffens, das er gesucht hatte, ließ er sich in ganz natürlicher Weise den Zutritt zu ihrem Hause gewähren, den er nicht erlangt hätte, wenn er darum gebeten hätte. Der geschickte Baron kam zu der Königin von Angoulême, der er kompromittierende Aufmerksamkeiten erwies. Dieser alte Geck, denn er war fünfündvierzig Jahre alt, gewahrte in dieser Frau eine ganze, noch ungelebte Jugend, Schätze, die darauf warteten, gehoben zu werden, vielleicht eine reiche Witwe, die zu heiraten man hoffen konnte, schließlich eine Verbindung mit der Familie der Nègrepelisse, die es ihm ermöglichte, in Paris bei der Marquise d'Espard Zutritt zu erlangen, deren Einfluss ihm die politische Laufbahn wiedereröffnen konnte. Trotz der düstern und üppig ins Kraut schießenden Mistel, die diesen schönen Baum beschädigte, beschloss er, ihm seine Sorgfalt zu widmen, ihn zu verschneiden, zu pflegen und schöne Früchte von ihm zu ernten. Das adlige Angoulême entsetzte sich über die Einführung eines Glaurs in die Kaaba, denn der Salon der Frau von Bargeton war das Allerheiligste einer Gesellschaft, die von jeder unedlen Mischung frei war. Nur der Bischof verkehrte da regelmäßig, der Präfekt wurde zwei- oder dreimal im Jahr empfangen; der Generaldirektor der Steuern hatte keinen Zutritt; Frau von Bargeton besuchte seine Abende, seine Konzerte, aber sie speiste nie bei ihm. Den Generaldirektor nicht empfangen und einen einfachen Direktor der indirekten Steuern annehmen, dieser Umsturz der Hierarchie schien den missachteten Autoritäten unfassbar.

Wer sich solche Kleinigkeiten, die man übrigens in jeder Schicht der Gesellschaft findet, vorstellen kann, muss verstehen, wie das Haus Bargeton der Bürgerschaft Angoulêmes imponierte. Und gar für Houmeau glänzte die Großartigkeit dieses kleinen Louvre, die Glorie dieses Hotel de Rambouillet des Angoumois, wie eine fernstrahlende Sonne. Die sich dort versammelten, waren ohne Ausnahme die kläglichsten Köpfe, die armseligsten Geister, die erbärmlichsten Tröpfe in einer Runde von zwanzig Meilen. Die Politik ergoss sich in wortreichen und leidenschaftlichen Trivialitäten; die »Quotidienne« schien ihnen lau, Ludwig XVIII. behandelten sie als Jakobiner. Die Frauen waren fast alle dumm, reizlos, zogen sich schlecht an, alle hatten sie irgendeine Unvollkommenheit, die ihnen Abbruch tat, nichts an ihnen war fertig, die Unterhaltung so wenig wie die Kleidung, der Geist so wenig wie das Fleisch. Wenn nicht seine Pläne mit Frau von Bargeton gewesen wären, hätte es Châtelet dort nicht ausgehalten. Trotzdem füllten die Manieren und der Geist der Kaste, das adlige Behaben, der Stolz des Schlossedelmanns, die Kenntnis der Gesetze der Höflichkeit diese ganze Leere aus. Der Adel der Gefühle hatte in Angoulême viel mehr Tatsächlichkeit als in der Sphäre der Pariser Größen; es herrschte dort eine intransigente Anhänglichkeit an die Bourbonen, die durchaus achtbar war. Diese Gesellschaft konnte, wenn das Bild erlaubt ist, einem Silbergerät von alter Form verglichen werden, das vom Alter geschwärzt, aber gewichtig ist. Die Unbeweglichkeit ihrer politischen Meinungen war fast Treue zu nennen. Der Abstand zwischen ihr und dem Bürgertum, die Schwierigkeit, zu ihr zu gelangen, gaben ihr einen Anstrich von Erhabenheit und die Bedeutung, die der Konvention immer innewohnt. Jeder dieser Adligen hatte für die Einwohner seinen Preis, wie die Kauri bei den Negern von Bambara das Geld vertritt. Mehrere Frauen, denen Herr Châtelet geschmeichelt hatte und die in ihm überlegene Eigenschaften erkannten, die den Männern ihrer Gesellschaft fehlten, beruhigten den Ausstand der Eigenliebe: alle hofften sie, die Erbschaft der kaiserlichen Hoheit anzutreten. Die Fanatiker dachten, man würde den Eindringling bei Frau von Bargeton sehen, aber er würde in keinem andern Haus empfangen werden. Du Châtelet war mehreren Demütigungen ausgesetzt, aber er hofierte den Klerus und hielt sich dadurch in seiner Stellung. Alsdann schmeichelte er den Fehlern, die der Provinzboden in der Königin von Angoulême zur Entstehung gebracht hatte, brachte ihr alle neuen Bücher und las ihr die neu erschienenen Gedichte vor. Sie begeisterten sich zusammen an den Werken der jungen Dichterschule, sie aufrichtig, er aber langweilte sich, ertrug jedoch diese romantischen Dichter, für die er als Mann des Empire wenig Verständnis besaß. Frau von Bargeton, die über die Renaissance, die man dem Einfluss der Lilien verdankte, entzückt war, liebte Chateaubriand, weil er Victor Hugo ein göttliches Kind genannt hat. Sie war traurig, dass sie das Genie nur aus der Entfernung kannte, und sehnte sich nach Paris, wo die großen Männer lebten. Herr du Châtelet glaubte alsdann wunder was zu tun, als er ihr mitteilte, es gäbe in Angoulême ein anderes göttliches Kind, einen jungen Dichter, der, ohne es zu wissen, an Glanz die neu aufgegangenen Sterne am pariser literarischen Himmel überstrahlte. Ein künftiger großer Mann war in Houmeau geboren! Der Direktor des Lyzeums hatte dem Baron wunderbare Gedichte gezeigt. Es handelte sich fast noch um ein Kind, das arm und bescheiden war, um einen Chatterton ohne politische Niedertracht, ohne den wilden Hass gegen die sozial Hochgestellten, der den englischen Dichter stachelte, Pamphlete gegen seine Wohltäter zu schreiben. Frau von Bargeton hatte bisher fünf oder sechs Menschen, die ihre Neigung zu Kunst und Literatur teilten. Der eine, weil er die Geige kratzte, der andere, weil er das weiße Papier mehr oder weniger mit Tusche verschmierte, ein dritter in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Landwirtschaftsgesellschaft, der vierte im Zusammenhang mit einer Bass-Stimme, mit der er das Se fiato in corpo avete nach Art eines Jagdrufs sang; unter diesen grotesken Gestalten kam sie sich vor wie ein Hungriger bei einer Mahlzeit auf der Bühne, wo die Gerichte aus Pappe sind. So war ihre Freude in dem Augenblick, wo sie diese Nachricht empfing, nicht zu beschreiben. Sie wollte diesen Dichter, diesen Engel sehen! Sie war närrisch nach ihm, sie war begeistert, stundenlang sprach sie von ihm. Zwei Tage nachher hatte unser früherer diplomatischer Kurier mit Hilfe des Lyzeumsdirektors die Einführung Luciens bei Frau von Bargeton vermittelt.

Ihr allein, arme Heloten der Provinz, für die die sozialen Entfernungen schwerer zu durchlaufen sind als für die Pariser – denn für die verkürzen sie sich von Tag zu Tag –, ihr, die ihr so schwer leidet unter den Gittern, hinter denen jede der verschiedenen Welten der Welt sich entsetzt und Racha! sagt, ihr allein versteht die Erschütterung, die Hirn und Herz Lucien Chardons in Aufregung brachte, als sein ehrwürdiger Direktor ihm sagte, die Tore des Hauses Bargeton sollten sich vor ihm öffnen! Der Ruhm hatte sie ihm aufgeschlossen! Er sollte in diesem Hause aufgenommen werden, dessen alte Giebel seinen Blick auf sich gezogen hatten, wenn er abends mit David auf der Beaulieu-Promenade gewesen war, wobei sie sich gesagt hatten, ihre Namen drängen vielleicht niemals zu diesen Ohren, die Wissenschaft und Kunst nur kannten, wenn sie nicht aus niedrigem Stande erwuchsen. Seine Schwester allein wurde in das Geheimnis eingeweiht. Als gute Wirtschafterin nahm die ahnungsvolle Eva einige Goldstücke aus dem Sekretär und kaufte Lucien beim besten Schuhmacher von Angoulême ein paar feine Schuhe und beim berühmtesten Schneider einen neuen Anzug. Sie versah sein bestes Hemd mit einer Spitzenkrause, die sie selbst wusch und fältete. Welche Freude, als sie ihn so gekleidet sah! Wie war sie stolz auf ihren Bruder! Wieviel Ratschläge hatte sie ihm zu geben! Es fielen ihr tausend Kleinigkeiten ein. Das angestrengte Nachdenken hatte Lucien zu der Gewohnheit gebracht, wenn er sich hinsetzte, immer gleich den Kopf aufzustützen, er zog sogar manchmal einen Tisch zu sich heran, um sich darauf zu stützen. Eva empfahl ihm dringend, sich in dem aristokratischen Heiligtum keinerlei ungenierten Bewegungen zu überlassen. Sie begleitete ihn bis zum Peterstor, ging fast bis zum Dom und sah ihm nach, wie er in die Rue de Beaulieu einbog, um zur Promenade zu gehen, wo ihn Herr du Châtelet erwartete. Das arme Mädchen blieb in großer Erregung zurück, wie wenn ein wichtiges Ereignis geschehen wäre. Lucien bei Frau von Bargeton, das war für Eva das Herannahen des Glücks. Das fromme Kind ahnte nicht, dass, wo der Ehrgeiz beginnt, die unschuldigen Gefühle verschwinden. Als Lucien in der Rue du Minage angelangt war, setzten ihn die äußern Dinge, die ihn umgaben, keineswegs in Erstaunen. Dieser Louvre, den seine Phantasie so vergrößert hatte, war ein Haus, das aus einer besondern mürben Steinart erbaut war, wie man sie in der Gegend findet, und das von der Zeit wie vergilbt aussah. Wie es von der Straße her ziemlich düster sich ausnahm, war es im Innern sehr einfach: es war da der in der Provinz übliche frostig-saubere Hof; eine nüchterne, fast mönchische, wohlerhaltene Architektur. Lucien stieg eine Treppe mit Geländer aus Kastanienholz hinan, deren Stufen nur bis zum ersten Stock aus Stein waren. Er durchschritt ein ärmliches Vorzimmer, einen großen, schlecht erleuchteten Saal und fand die Gebieterin in einem kleinen Salon, der mit geschnitzten Täfelungen im Geschmack des letzten Jahrhunderts bekleidet und in Grau gemalt war. Das Gesims über den Türen war grau in Grau. Ein alter roter Damaststoff, der schlecht dahin passte, bekleidete die Wände, die altmodisch geformten Möbel waren recht armselig mit rot und weiß karierten Überzügen bedeckt. Der Dichter sah Frau von Bargeton auf dem kleinen gesteppten Polster eines Kanapees sitzen, hinter einem runden Tisch mit grüner Decke. Es stand ein Leuchter mit zwei Kerzen darauf, deren Licht durch einen Schirm gemildert war.

Die Königin stand nicht auf. Sie bog sich sehr anmutig auf ihrem Platz dem Dichter entgegen und lächelte ihm zu, und er fand diese erregende Schlangenbewegung sehr vornehm. Die außerordentliche Schönheit Luciens, die Schüchternheit seines Benehmens, alles an ihm fesselte Frau von Bargeton. Der Poet war schon die Poesie. Der junge Mann betrachtete mit heimlichen Seitenblicken diese Frau, die ihm in Einklang mit ihrem Rufe zu stehen schien; sie enttäuschte keine der Vorstellungen, die er sich von der großen Dame gemacht hatte. Frau von Bargeton trug nach einer neuen Mode ein Barett mit Puffen aus schwarzem Samt. Dieser Kopfputz erinnert etwas ans Mittelalter, und das imponiert einem jungen Mann, dem es sozusagen die Frau erhöht. Dem Barett entquollen üppige rotblonde Haarmassen, deren schimmernde Locken vom Licht vergoldet waren. Die edle Dame hatte den blendenden Teint, mit dem eine Frau das angeblich Missliche dieser hochblonden Farbe wieder aufwiegt. Ihre grauen Augen funkelten, ihre Stirn, die schon kleine Fältchen zeigte, thronte weiß und kühn gemeißelt darüber; sie waren von perlmutterschimmernden Rändern umgeben, und auf beiden Seiten der Nase ließen zwei blaue Adern das lichte Weiß dieser zarten Umrahmung noch stärker hervortreten. Die Nase hatte eine bourbonische Krümmung, die den Schwung des ovalen Gesichts noch mehr hervorhob, indem sie gewissermaßen einen glänzenden Punkt bildete, worin das Hinreißende und Königliche der Condé zum Ausdruck kam. Die Haare bedeckten den Nacken nicht völlig. Das leicht zusammengenommene Gewand ließ einen schön gebauten Hals sehen, und das Auge erriet darunter eine Brust von schneeiger Weiße. Mit ihren schmalen, gepflegten, aber etwas trockenen Fingern wies Frau von Bargeton dem jungen Dichter mit freundlicher Geste den Stuhl an, der neben ihr stand. Herr du Châtelet setzte sich in einen Lehnstuhl. Lucien bemerkte jetzt, dass sie allein waren. Die Unterhaltung Frau von Bargetons machte den Dichter aus Houmeau trunken. Die drei Stunden, die er bei ihr verbrachte, waren für Lucien einer der Träume, denen man ewige Dauer wünscht. Er fand diese Frau mehr abgemagert als mager, eine Liebende ohne Liebe, zart trotz ihres starken Geistes, ihre Fehler, die von ihren Manieren noch unterstrichen wurden, gefielen ihm, denn die jungen Leute fangen damit an, dass sie die Überspanntheit lieben, diese Lüge der schönen Seelen. Er bemerkte nicht, wie welk und an den Backenknochen gerötet die Wangen waren, ein wie wächsernes Aussehen sie von Sehnsucht, Langweile und manchen Leiden bekommen hatten. Seine Phantasie bemächtigte sich zunächst dieser glänzenden Augen, der feinen Locken, in denen das Licht funkelte, ihrer strahlenden Gesichtsfarbe, und das waren leuchtende Punkte, zu denen es ihn zog, wie den Schmetterling zu den Kerzen. Dann sprach auch diese Seele zu sehr zu seiner, als dass er das Weib hätte beurteilen können. Der Schwung dieser weiblichen Begeisterung, der große Zug dieser nicht mehr ganz jungen Phrasen, die Frau von Bargeton seit langer Zeit wiederholte, die ihm aber neu schienen, bezauberten ihn um so mehr, als er alles schön finden wollte. Er hatte keine Gedichte zum Vorlesen mitgebracht, aber es war nicht die Rede davon: er hatte seine Verse vergessen, um das Recht zu haben, wiederzukommen. Frau von Bargeton hatte nicht davon gesprochen, um ihn zu veranlassen, ihr an einem andern Tag etwas vorzulesen. War das nicht ein erstes Einverständnis? Herr Sixtus du Châtelet war unzufrieden mit diesem Empfang. Zu spät erkannte er in diesem schönen jungen Mann einen Nebenbuhler. Er führte ihn bis zur Ecke der ersten Treppe unterhalb Beaulieus, in der Absicht, ihn mit seiner Diplomatie zu besiegen. Lucien war nicht wenig erstaunt, als er vernahm, wie der Direktor der indirekten Steuern sich rühmte, ihn eingeführt zu haben, und ihm aus diesem Grunde Ratschläge gab.

»Möge es Gott gefallen, dass Lucien besser behandelt würde als er«, sagte Herr du Châtelet. »Der Hof wäre weniger anmaßend als diese Gesellschaft von Dummköpfen. Man empfinge dort tödliche Wunden, man erduldete furchtbare Demütigungen. Die Revolution von 1789 müsste wieder anfangen, wenn diese Leute nicht anders würden. Er für sein Teil ginge nur noch in dieses Haus, weil ihm Frau von Bargeton gut gefalle. Das wäre die einzige Frau in Angoulême, die etwas taugte. Er hätte ihr aus Langweile den Hof gemacht und sich schrecklich in sie verliebt. Er würde sie bald besitzen, seine Liebe würde erwidert, alles künde es ihm an. Die Unterwerfung dieser stolzen Königin wäre die einzige Rache, die er an dieser dummen Sippe von Krautjunkern nähme.«

Châtelet sprach von seiner Leidenschaft im Ton eines Mannes, der imstande wäre, einen Nebenbuhler zu töten, wenn er einen träfe. Der alte verliebte Narr fiel mit seinem ganzen Gewicht über den Dichter her und versuchte ihn mit seiner Bedeutung zu erdrücken und ihm Angst zu machen. Er machte sich wichtig, indem er die Gefahren seiner Reise übertrieb; aber er imponierte zwar der Phantasie des Dichters, konnte jedoch den Liebenden nicht schrecken. Seit diesem Abend war Lucien trotz des alten Gecken, seiner Drohungen und seines Auftretens als kleinbürgerlicher Raufbold weiter zu Frau von Bargeton gekommen. Zuerst geschah es mit der Zurückhaltung eines Mannes, der aus Houmeau stammte, dann aber gewöhnte er sich bald an das, was ihm zuerst wie eine ungeheure Gunst erschienen war, und kam immer öfter zu Besuch. Der Apothekerssohn wurde von den Leuten dieser Gesellschaft als eine Erscheinung für sich genommen, die keine weitern Folgen haben konnte. Wenn anfangs manche Edelleute oder Frauen, die zu Naïs zu Besuch kamen, Lucien dort trafen, hatten sie all die niederschmetternde Höflichkeit für ihn, die die gute Gesellschaft anwendet, wenn sie mit Leuten unter ihrem Stande zusammen ist. Lucien fand zuerst diese Welt sehr liebenswürdig, aber später verstand er die Stimmung, aus der diese erheuchelte Höflichkeit hervorging. Bald gewahrte er bei einigen so eine Art Protektionsmiene, die seine Galle erregte und ihn in den hasserfüllten republikanischen Ideen bestärkte, die oft in diesen künftigen Patriziern während der ersten Zeit ihres Umgangs mit der großen Gesellschaft hochkommen. Aber wieviel Leiden hätte er nicht für Naïs erduldet! So hörte er sie in diesem Kreise nennen; denn wenn die Intimen dieser Kaste unter sich waren, nannten sie sich wie die spanischen Granden und die Auslese der Gesellschaft in Wien mit ihren Kosenamen, Männer wie Frauen. Das war die neuste Nuance, die von der Aristokratie des Angoumois angenommen worden war, um sich von den gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden.

Naïs wurde geliebt, wie jeder Jüngling die erste Frau liebt, die ihm schmeichelt, denn Naïs sagte Lucien eine große Zukunft, einen herrlichen Ruhm voraus. Frau von Bargeton wandte ihre ganze Geschicklichkeit an, um ihren Dichter an sich zu fesseln: nicht nur pries sie ihn über alles Maß, sondern sie stellte ihn als ein armes Kind ohne Vermögen hin, dem sie eine Stellung verschaffen wollte; sie machte ihn kleiner, als er war, um ihn zu behalten; sie machte ihren Vorleser, ihren Sekretär aus ihm; aber sie liebte ihn mehr, als sie, nach dem schrecklichen Unglück, das sie betroffen, geglaubt hatte noch lieben zu können. Sie behandelte sich im geheimen sehr schlecht, sie sagte sich, es sei ein Wahnsinn, einen jungen Menschen von zwanzig Jahren zu lieben, den schon seine Stellung so weit von ihr entfernte. Diese Skrupel brachten sie oft dazu, ihre Vertraulichkeit plötzlich, wie aus einer Laune heraus, mit Anwandlungen von Hochmut wechseln zu lassen. Sie war stolz und gönnerhaft und dann wieder zärtlich und schmeichlerisch. Lucien, den zuerst der hohe Rang dieser Frau verschüchterte, hatte also alle Qualen, alle Hoffnungen, alle Verzweiflungen auszustehen, die die erste Liebe zur Folter machen und sie mit der Gewalt abwechselnder Schläge des Schmerzes und der Freude im Herzen befestigen. Zwei Monate hindurch sah er in ihr eine Wohltäterin, die sich mütterlich seiner annehmen würde. Frau von Bargeton nannte ihren Dichter »lieber Lucien«, dann einfach »Lieber«. Der Dichter wurde kühn und nannte diese große Dame »Naïs«. Als sie hörte, wie er ihr diesen Namen gab, hatte sie einen der Zornanfälle, die für einen jungen Menschen so irreführend sind; sie warf ihm vor, dass er ihr denselben Namen gab wie alle Welt. Die stolze Nègrepelisse erlaubte dem schönen Jüngling, ihr den Namen zu geben, der noch ungenutzt war, sie wollte für ihn »Louise« heißen. Lucien fühlte sich im siebenten Himmel der Liebe. Eines Abends war Lucien bei ihr eingetreten, als Louise gerade ein Porträt betrachtete, das sie schnell wegsteckte. Er wollte es sehen. Um die Verzweiflung eines ersten Eifersuchtsanfalles zu beruhigen, zeigte ihm Louise das Porträt des jungen Cante-Croix und erzählte nicht ohne Tränen die schmerzliche Geschichte ihrer keuschen und so grausam getöteten Liebe. Sann sie auf eine Untreue gegen ihren Toten, oder dachte sie daran, Lucien aus diesem Porträt einen Nebenbuhler zu schaffen? Lucien war zu jung, um seine Geliebte enträtseln zu können, er geriet in ehrliche Verzweiflung, denn sie eröffnete das Gefecht, in dem die Frauen in mehr oder weniger schlau verteidigte Skrupel Bresche schießen. Ihre Diskussionen über die Pflichten, die Sitte, die Religion gleichen befestigten Plätzen, die sie im Sturm genommen zu sehen wünschen. Der unschuldige Lucien brauchte diese Koketterien nicht, er hätte den Krieg ganz natürlich geführt.

»Ich werde nicht sterben, ich nicht, ich werde für Sie leben«, sagte Lucien eines Abends. Er war kühn geworden und wollte mit Herrn von Cante-Croix ein Ende machen. Dabei warf er Louise einen Blick zu, aus dem eine Leidenschaft sprach, die zu ihrem Höhepunkt gelangt war.

Sie war erschreckt über die Fortschritte, die diese neue Liebe in ihr und in ihrem Dichter gemacht hatte, und fragte ihn nach den Versen, die er ihr für die erste Seite ihres Albums versprochen hatte; er hatte mit ihrer Niederschrift immer gezögert, und so griff sie, um abzulenken, nach diesem Thema, um mit ihm zu streiten. Wie wurde ihr aber, als sie die beiden folgenden Stanzen las, die sie natürlich schöner fand als die besten von Canalis, dem Dichter der Aristokratie?

Nicht von der Muse zauberisch berührt

Wird jede Hand sein, die den Pinsel führt

Und meine Seiten schmückt;

Doch oft wird meiner schönen Herrin Stift

Mir anvertrauen, was sie schmerzlich trifft

Und was sie still beglückt.

Wenn sie mein gelbgewordenes Papier

Dereinst um die Geschicke fragt, die ihr

Die Zukunft noch verhüllt.

Dann mag die Liebe sehn, dass, treu bewahrt,

Ihr die Erinnerung an diese Fahrt

Noch sanft das Herz erfüllt.

»Habe wirklich ich Ihnen diese Verse eingegeben?« fragte sie.

Dieser Zweifel, den ihr die Koketterie einer Frau eingab, der es Vergnügen machte, mit dem Feuer zu spielen, ließ Lucien Tränen in die Augen treten; sie beruhigte ihn, indem sie zum erstenmal seine Stirn küsste. Lucien war entschieden ein großer Mann, den sie bilden wollte; es kam ihr in den Sinn, ihn Italienisch und Deutsch zu lehren und ihm bessere Manieren beizubringen; es ergaben sich daraus Vorwände, ihn immer bei sich zu haben, ihren langweiligen Hofmachern zum Trotz. Welches Interesse war wieder in ihr Leben gekommen! Sie wandte sich für ihren Dichter wieder der Musik zu, sie weihte ihn in die Welt der Musik ein, sie spielte ihm einige schöne Stücke von Beethoven und entzückte ihn; glücklich über seine Freude, sagte sie, als sie ihn fast außer sich sah, heuchlerisch zu ihm: »Ist es mit diesem Glück nicht genug?« Der arme Dichter beging die Dummheit, »Ja« zu antworten.

Endlich waren die Dinge an dem Punkt angelangt, dass Louise Lucien, eine Woche vor dem Zeitpunkt, an dem wir halten, bei sich zum Essen hatte. Herr von Bargeton war der dritte. Trotz dieser Vorsichtsmaßregel erfuhr die ganze Stadt die Sache und hielt sie für so maßlos unbegreiflich, dass sich jeder fragte, ob sie wahr sein könnte. Es gab einen schrecklichen Aufruhr. Manchem schien die Gesellschaft vor dem Untergang zustehen. Andere riefen aus: »Da sieht man, wohin die liberalen Lehren führen!«

Der eifersüchtige du Châtelet hatte nunmehr ausgekundschaftet, dass Madame Charlotte, die bei den Frauen die Wochenpflege hielt, Frau Chardon war, »die Mutter des Chateaubriand von Houmeau«, wie er sagte. Dieser Ausdruck galt für einen guten Witz. Frau von Chandour war die erste, die zu Frau von Bargeton eilte.

»Wissen Sie, liebe Naïs, wovon ganz Angoulême spricht?« sagte sie zu ihr. »Dieses kleine Dichterlein hat Madame Charlotte zur Mutter, die vor zwei Monaten meine Schwiegertochter im Wochenbett pflegte.«

»Meine Liebe,« sagte Frau von Bargeton mit ihrer königlichsten Miene, »was ist daran Außerordentliches? Ist sie nicht die Witwe eines Apothekers? Ein trauriges Geschick für ein Fräulein von Rubempré! Nehmen wir an, wir ständen ohne einen Pfennig Vermögen da, was täten wir, um zu leben? Wie wollten Sie Ihre Kinder ernähren?«

Die Kaltblütigkeit Frau von Bargetons unterdrückte alles Klagegeschrei des Adels. Die großen Seelen sind immer imstande, aus der Not eine Tugend zu machen. Außerdem besitzt die Beharrlichkeit, mit der man etwas Gutes tut, das einem zur Anschuldigung erhoben wird, einen unbesieglichen Reiz. Die Unschuld hat das Anziehende des Lasters. Am Abend füllte sich der Salon Frau von Bargetons mit ihren Freunden, die kamen, ihr Vorhaltungen zu machen. Sie ließ die ganze Schärfe ihres Witzes spielen; sie sagte, wenn die Herren Edelleute keine Molière, Racine, Rousseau, Voltaire, Massillon, Beaumarchais, Diderot sein könnten, dann müsste man wohl oder übel die Tapezierer, die Uhrmacher, die Messerschmiede empfangen, deren Kinder große Männer würden. Sie sagte, das Genie sei immer von Adel. Sie schalt die Krautjunker, dass sie ihre wahren Interessen so schlecht verstanden. Kurz, sie sagte viele Dummheiten, die für weniger alberne Menschen etwas hätten durchblicken lassen, in diesem Kreise aber für originell galten. Sie beschwor also das Gewitter mit Hilfe von Kanonenschlägen. Als Lucien, den sie bestellt hatte, zum erstenmal in den alten, verblichenen Salon eintrat, wo man an vier Tischen Whist spielte, empfing sie ihn aufs herzlichste und stellte ihn in der Haltung einer Königin vor, die Gehorsam verlangt. Sie nannte den Steuerdirektor »Herr Châtelet« und versteinerte ihn fast, als sie ihm so zu verstehen gab, dass sie wusste, auf wie illegalem Weg das Wörtchen »von« vor seinem Namen entstanden war. Lucien wurde an diesem Abend gewaltsam in die Gesellschaft Frau von Bargetons eingeführt; aber er wurde dort wie ein Giftstoff aufgenommen, den jeder sich vornahm mit Hilfe der Gegengifte der Unverschämtheit wieder auszutreiben. Trotz diesem Triumph verlor Naïs an Einfluss: es gab Abtrünnige, die den Versuch machten, auszuwandern. Auf den Rat des Herrn Châtelet entschloss sich Amélie, das war Frau von Chandour, einen Gegenaltar zu errichten, indem sie an den Mittwochen bei sich empfing. Frau von Bargeton öffnete ihren Salon jeden Abend, und die Menschen, die zu ihr kamen, waren solche Gewohnheitsmenschen, waren so sehr daran gewöhnt, sich in denselben Räumen zu versammeln, dasselbe Tricktrack zu spielen, die Menschen, die Leuchter zu sehen, ihre Mäntel; ihre Überschuhe, ihre Hüte im selben Vorraum zu lassen, dass sie die Treppenstufen ebensosehr liebten wie die Herrin des Hauses. »Alle ließen sich den Stieglitz im heiligen Hain gefallen«, bemerkte Alexandre de Brébian witzig. Schließlich beruhigte der Präsident der Landwirtschaftsgesellschaft den Aufruhr durch eine meisterhafte Bemerkung.

»Vor der Revolution«, sagte er, »empfingen die größten Herren Duclos, Grimm, Crébillon, lauter Leute, die, wie dieser kleine Dichter aus Houmeau, sonst nichts weiter zu bedeuten hatten; aber sie empfingen durchaus keine Steuereinnehmer, und was ist schließlich Châtelet weiter?«

Du Châtelet zahlte für Chardon die Zeche, jeder behandelte ihn kühl. Als er merkte, dass er es auszubaden hatte, ging der Steuerdirektor, der sich seit dem Augenblick, wo sie ihn Châtelet genannt, geschworen hatte, er wolle Frau von Bargeton besitzen, auf ihre Absichten ein; er kam dem jungen Dichter zu Hilfe und nannte sich seinen Freund. Dieser große Diplomat, dessen sich der Kaiser zu seinem Unglück beraubt hatte, schmeichelte Lucien und hieß sich seinen Freund. Um den Dichter zu lancieren, gab er ein Diner, an dem der Präfekt, der Generaldirektor der Steuern, der Oberst des Regiments, das in Angoulême in Garnison lag, der Direktor der Marineschule, der Gerichtspräsident, kurz, alle Spitzen der Behörden teilnahmen. Der arme Dichter wurde so großartig gefeiert, dass jeder andere als ein junger Mensch von zweiundzwanzig Jahren gegen die Lobsprüche, mit denen man ihn täuschte, misstrauisch geworden wäre. Beim Nachtisch veranlasste Châtelet seinen Nebenbuhler, seine Ode »Der sterbende Sardanapal« vorzutragen, die zurzeit seine beste Dichtung war. Als er fertig war, klatschte der Lyzeumsdirektor, ein phlegmatischer Mensch, in die Hände und sagte, Jean Baptiste Rousseau habe nichts Besseres gemacht. Der Baron Sixtus Châtelet dachte, der kleine Reimschmied werde früher oder später in der Treibhausluft dieser Lobpreisungen zugrunde gehen, oder er werde sich im Rausche seines verfrühten Ruhmes Frechheiten erlauben, die ihn wieder in das Dunkel schleuderten, aus dem er gekommen war. Bis zum Dahinscheiden dieses Genies schien er seine Ansprüche zu den Füßen der Frau von Bargeton zu opfern; aber er hatte mit der Geschicklichkeit eines Roués seinen Plan festgelegt, verfolgte mit der Aufmerksamkeit eines Strategen die weitere Entwicklung des Verhältnisses der beiden Liebenden und lauerte auf die Gelegenheit, Lucien den Garaus zu machen. Es erhob sich nun in Angoulême und der Nachbarschaft ein dunkles Gerücht, das von dem Vorhandensein eines großen Mannes im Angoumois wissen wollte. Frau von Bargeton wurde für die sorgsame Pflege, die sie dem heranwachsenden Genie widmete, allgemein gelobt. Nachdem sie so einmal Zustimmung gefunden, wollte sie die allgemeine Billigung ernten. Sie erließ im ganzen Departement Einladungen zu einer Abendunterhaltung mit Gefrornem, Kuchen und Tee. Das war eine große Neuerung in einer Stadt, wo man den Tee noch als Mittel gegen Verdauungsstörungen beim Apotheker kaufte. Die Blüte der Aristokratie war geladen, um ein großes Werk zu hören, das Lucien vorlesen sollte. Louise hatte die Schwierigkeiten, die sie zu überwinden gehabt, ihrem Freund verhehlt, aber sie ließ einige Worte von der Verschwörung fallen, die die Welt gegen ihn angezettelt hatte, denn sie wollte nicht, dass ihm die Gefahren der Laufbahn eines genialen Mannes unbekannt blieben, auf der es Hindernisse gibt, die nur ungewöhnliche Tapferkeit zu überwinden vermag. Sie machte aus diesem Sieg eine Nutzanwendung. Sie zeigte ihm mit ihren weißen Händen, wie der Sieg mit unaufhörlichen Martern erkauft werden muss, sie sprach ihm von dem Scheiterhaufen der Märtyrer, den man betreten müsste, sie flocht ihm ihre schwungvollsten Sätze und zierte sie mit den prunkvollsten Worten. Das Wortgebäude, das sie vor ihm auftürmte, sah aus wie die Improvisationen, die den Roman »Corinna« verunstalten. Louise fand sich in ihren Improvisationen so groß, dass sie den Benjamin, der sie ihr eingab, noch mehr liebte; sie gab ihm den Rat, seinen Vater kecklich zu verleugnen und den Adelsnamen »von Rubempré« anzunehmen, ohne sich um das Geschrei zu kümmern, das sich bei dieser Namensänderung erheben würde, die der König übrigens legitim machen würde. Sie sei mit der Marquise d'Espard, einer geborenen von Blamont-Chauvry, verschwägert, die von großem Einfluss bei Hofe sei, und sie nehme es auf sich, diese Gunst zu erlangen. Bei diesen Worten, »der König, die Marquise d'Espard, der Hof« drehte es sich Lucien wie ein Feuerwerk vor den Augen, und die Notwendigkeit dieser Umtaufe war ihm erwiesen.

»Lieber junger Freund« sagte Louise mit zärtlichem Spott zu ihm, »je eher es geschieht, um so schneller wird es anerkannt.«

Sie zeigte ihm der Reihe nach die übereinandergelagerten Schichten der Gesellschaft und ließ den Dichter die Sprossen zählen, die er durch diesen geschickten Entschluss plötzlich übersprang. In einem Augenblick brachte sie Lucien dazu, dass er seine schimärischen demokratischen Gleichheitsideen von 1793 aufgab. Sie erweckte in ihm den Durst, sich auszuzeichnen, den die kühle Vernunft Davids besänftigt hatte; sie zeigte ihm die hohe Gesellschaft als die einzige Bühne, auf der er auftreten durfte. Der hasserfüllte Liberale wurde ein geheimer Monarchist. Lucien fand Geschmack am aristokratischen Luxus und am Ruhm. Er schwor, er wolle seiner Dame eine Krone zu Füßen legen, selbst wenn sie blutig sein sollte; er würde sie um jeden Preis erobern, quibusunque viis. Um seinen Mut zu beweisen, erzählte er Louise seine gegenwärtigen Nöte, die er bisher vor ihr verborgen hatte; jene undefinierbare Scham hatte ihn dazu getrieben, die mit den ersten Gefühlen verknüpft ist und es dem jungen Menschen verwehrt, sein großes Verhalten zur Schau zu stellen, so sehr wünscht er, dass seine Seele in ihrem Inkognito gewürdigt wird. Er schilderte den Druck eines Elends, das mit Stolz ertragen wurde, seine Arbeiten bei David, seine dem Studium geweihten Nächte. Diese junge Glut erinnerte Frau von Bargeton, deren Blick traurig wurde, an den sechsundzwanzigjährigen Oberst. Als Lucien sah, wie seine stolze Herrin von ihrer Schwäche übermannt wurde, ergriff er eine Hand, die sie ihm überließ, und küsste sie mit dem Feuer des Dichters, des Jünglings, des Liebenden. Louise ging so weit, dem Apothekerssohn zu erlauben, ihre Stirn in die Hände zu nehmen und seine zitternden Lippen darauf zu drücken.

»Kind! Kind! wenn man uns sähe, machte ich mich sehr lächerlich«, sagte sie und befreite sich gewaltsam aus ihrer Hingenommenheit und Erstarrung.

An diesem Abend richtete der Geist der Frau von Bargeton in dem, was sie die Vorurteile Luciens nannte, große Verheerungen an. Wenn man sie hörte, hatten geniale Menschen keine Geschwister und keine Eltern, die großen Werke, die sie errichten müssten, legten ihnen einen scheinbaren Egoismus auf und zwängen sie, alles ihrer Größe zu opfern. Wenn die Familie im Anfang unter schweren Kontributionen litte, die ein gigantisches Hirn von ihnen eintriebe, sie erhielte später hundertfach den Preis der Opfer aller Art wieder, die für die ersten Kämpfe eines königlichen Menschen gegen Feinde aller Art erfordert würden, und teilten die Früchte des Sieges. Das Genie sei nur sich selbst unterworfen, es sei der alleinige Richter seiner Mittel, denn es allein kenne das Ende: es müsse sich also über die Gesetze stellen, da es dazu berufen sei, sie zu erneuern; wer sich überdies seines Jahrhunderts bemächtigte, konnte alles nehmen und alles wagen, denn alles gehörte ihm. Sie erinnerte ihn an die Lebensanfänge von Bernhard Palissy, Ludwig XI., Fox, Napoleon, Kolumbus, Cäsar, an alle berühmten, wagemutigen Spieler, die zuerst von Schulden aufgefressen wurden, oder unglücklich, unverstanden waren, für Narren, schlechte Söhne, schlechte Väter, schlechte Brüder gehalten wurden, aber die später der Stolz der Familie, des Landes, der Welt wurden. Diese Erwägungen stimmten gut zu der geheimen Lasterhaftigkeit Luciens und förderten das Verderben seines Herzens, denn in der Hitze seiner Wünsche bewilligte er sich die Mittel a priori. Aber nicht zum Ziele kommen, war ein soziales Majestätsverbrechen. Hatte nicht ein Besiegter alle Bürgertugenden ermordet, auf denen die Gesellschaft beruht, die mit Entrüstung jeden Marius verjagt, der auf ihren Ruinen sitzt? Lucien, der nicht wusste, dass er zwischen dem schmählichen Bagno und den Palmen des Genies schwebte, stand hoch oben auf dem Sinai der Propheten, ohne zu seinen Füßen das Tote Meer, das grauenhafte Leichentuch Gomorras, zu sehen.

Louise befreite Herz und Geist ihres Dichters so gut von den Gängelbändern, an denen ihn das Provinzleben bisher festgehalten hatte, dass Lucien es unternahm, Frau von Bargeton auf die Probe zu stellen, um zu erfahren, ob er, ohne sich der Schande einer Zurückweisung auszusetzen, diese stolze Beute erobern könnte. Die Abendunterhaltung, die angekündigt war, gab ihm Gelegenheit, diese Probe anzustellen. Der Ehrgeiz mischte sich in seine Liebe. Er liebte und wollte hochkommen, ein Doppelwunsch, der bei jungen Leuten sehr natürlich ist, die ein Herz haben, das nach Befriedigung lechzt, und die Not, der sie entrinnen wollen. Die Gesellschaft, die heutzutage alle ihre Kinder an denselben Tisch ladet, erweckt ihren Ehrgeiz schon im Morgen des Lebens. Sie nimmt der Jugend ihre Anmut und verdirbt die meisten ihrer edelmütigen Gefühle, da sie sie mit Berechnung vermengt. Die Poesie möchte, dass es anders wäre; aber die Tatsachen strafen zu oft die Dichtung, an die man glauben möchte, Lügen, als dass man sich erlauben könnte, den jungen Mann anders darzustellen, als er im neunzehnten Jahrhundert ist. Die Berechnung, die Lucien machte, schien ihm einem edlen Gefühl zu dienen, seiner Freundschaft für David.

Lucien schrieb seiner Louise einen langen Brief, denn er war mit der Feder kühner als mit dem gesprochenen Wort. Auf zwölf Blättern, die er dreimal abschrieb, erzählte er von dem Genie seines Vaters, seinen gescheiterten Hoffnungen und dem schrecklichen Elend, dem er preisgegeben war. Er schilderte seine liebe Schwester als einen Engel, David als einen Cuvier der Zukunft, der, ehe er ein großer Mann wurde, ihm Vater, Bruder und Freund war; er schrieb, dass er sich unwürdig glaubte, von Louise, auf die er so stolz war, geliebt zu werden, wenn er sie nicht bäte, für David dasselbe zu tun, was sie für ihn täte. Er verzichtete lieber auf alles, als dass er David Sèchard verriete, er wollte, dass David bei seinem Erfolg zugegen wäre. Er schrieb einen der tollen Briefe, in denen die jungen Menschen jeder Weigerung die Pistole entgegenhalten, in denen die Willkür des Kindes und die unsinnige Logik der schönen Seelen in der kostbarsten Wortfülle sich ausspricht, die mit den naiven Erklärungen geschmückt wird, wie sie dem Herzen entschlüpfen, ohne dass es der Schreiber weiß, und wie sie die Frauen so sehr lieben. Lucien hatte diesen Brief der Kammerfrau übergeben und war dann in die Druckerei gegangen, um den Tag damit zu verbringen, Korrekturen zu lesen, diese und jene Arbeiten zu überwachen und allerlei Kleinigkeiten zu ordnen, und hatte zu David nichts gesagt. In den Tagen, wo das Herz noch jung ist, haben die jungen Leute diese göttliche Verschwiegenheit, überdies fing Lucien vielleicht an, das Beil des Phokion zu fürchten, das David handhabte, vielleicht fürchtete er die Klarheit eines Blicks, der bis in den Grund der Seele drang. Nachdem sie Chénier zusammen gelesen hatten, war sein Geheimnis ihm aus dem Herzen über die Lippen gesprungen. Ein Vorwurf hatte es herausgebracht, den er empfand wie den Finger, den ein Chirurg auf eine Wunde bringt.

Nun stelle man sich die Gedanken vor, die Lucien bestürmen mussten, während er von Angoulême nach Houmeau hinabging. Ob sich die große Dame geärgert hatte? Ob sie David empfangen würde? Ob der Ehrgeizige nicht wieder in sein Loch in Houmeau geworfen würde? Obwohl Lucien, bevor er Louise auf die Stirn geküsst hatte, den Abstand, der eine Königin von ihrem Günstling trennt, zur Genüge hatte ermessen können, sagte er sich nicht, dass David den Raum, zu dem er fünf Monate gebraucht hatte, nicht in einem Augenblick durchschreiten konnte. Er wusste nicht, wie absolut der gegen die kleinen Leute ausgesprochene Ostrazismus war; und es war ihm daher unbekannt, dass ein zweiter Versuch dieser Art Frau von Bargetons Verderben sein musste. Des Verbrechens angeklagt und überführt, sich mit dem Pöbel eingelassen zu haben, wäre Louise gezwungen gewesen, die Stadt zu verlassen, wo ihre Kaste sie geflohen hätte, wie man im Mittelalter einen Aussätzigen floh. Die Horde der hohen Aristokratie und sogar die Geistlichkeit würden Naïs gegen jeden verteidigt haben, wenn sie einen Fehltritt begangen hätte, aber das Verbrechen, schlechte Gesellschaft bei sich zu sehen, wäre ihr nie verziehen worden; denn wenn man die Fehler der Machthaber entschuldigt, so verdammt man sie nach ihrer Abdankung. Und David zu empfangen, wäre dasselbe gewesen wie abdanken. Wenn Lucien diese Seite der Frage nicht gesehen hatte, so ließ ihn doch sein aristokratischer Instinkt viele andere Schwierigkeiten ahnen, die ihn schreckten. Der Adel der Gefühle verleiht nicht notwendigerweise auch den Adel der Manieren. Racine wirkte wie der adligste Höfling, Corneille aber sah aus wie ein Viehhändler. Descartes hatte das Benehmen eines wohlhabenden holländischen Kaufmanns. Die Besucher von la Brede hielten oft Montesquieu, wenn sie ihn trafen, mit seinem Rechen über der Schulter und der Nachtmütze auf dem Kopf, für einen gewöhnlichen Gärtner. Wenn der feine Weltton nicht eine Gabe hoher Geburt ist, ein Wissen, das mit der Muttermilch eingesogen oder im Blute vererbt ist, stellt er eine Zucht vor, die der Zufall durch eine gewisse Eleganz der Formen, durch eine feine Besonderheit in den Zügen, durch einen gewissen Ton in der Stimme unterstützen muss. All diese wichtigen kleinen Dinge fehlten David, während die Natur seinen Freund damit begabt hatte, Lucien, der von Mutterseite her adliger Abstammung war. Lucien hatte sogar den hochgewölbten Fuß des Franken, während David Séchard die Plattfüße des Kelten und den gebeugten Nacken seines Vaters, des Buchdruckers, hatte. Lucien hörte in den Ohren schon die Spottreden, die auf David niederprasselten, es schien ihm, er sähe das Lächeln, das Frau von Bargeton unterdrückte. Kurz, ohne sich geradezu seines Bruders zu schämen, nahm er sich doch vor, in Zukunft nicht mehr so auf seine erste Regung zu hören und sie erst zu prüfen. Nach der Stunde der Poesie und der Opferwilligkeit, nach einer Lektüre, die den beiden Freunden eben den literarischen Himmel, von einer neuen Sonne beleuchtet, gezeigt hatte, schlug jetzt für Lucien die Stunde der Politik und der Berechnung. Als er in Houmeau angelangt war, bereute er seinen Brief, er wünschte, ihn wieder zurücknehmen zu können, denn ihm kam eine Ahnung von den unerbittlichen Gesetzen der Welt. Er wusste, wie sehr das Glück, das er erlangt hatte, den Ehrgeiz begünstigte, und es kam ihn schwer an, seinen Fuß von der ersten Sprosse der Leiter zurückzuziehen, auf der er zur Größe emporsteigen sollte. Dann erwachten wieder in seiner Erinnerung die Bilder seines einfachen und ruhigen, mit den schönsten Blumen des Empfindens geschmückten Lebens, dieser geniale David, der ihn so edel unterstützt hatte, der ihm, wenn es nottäte, sein Leben opferte, seine Mutter, die in ihrer niedrigen Lage nicht aufhörte, die große Dame zu sein, die von ihm glaubte, er wäre ebenso gut, wie er geistvoll war, seine Schwester, die in ihrem stillen Dulden, ihrer reinen Kindlichkeit und ihrer Unschuld so anmutig war, seine Hoffnungen, die noch kein Sturmwind entblättert hatte, all dessen gedachte er. Er sagte sich jetzt, es wäre schöner, sich mit den Streichen des Erfolges durch die geschlossenen Heerhaufen des aristokratischen oder bürgerlichen Lagers hindurchzuhauen, als durch die Gunst einer Frau ans Ziel zu gelangen. Früher oder später musste sein Geist leuchten und berühmt werden, wie der so vieler Männer, seiner Vorgänger, die mit der Gesellschaft fertig geworden waren, dann würden ihn die Frauen lieben! Das Beispiel Napoleons, das im neunzehnten Jahrhundert durch die Wünsche, die es mittelmäßigen Menschen einflößt, so verhängnisvoll ist, stellte sich vor Lucien hin, und er machte sich seine Berechnungen zum Vorwurf und streute sie in den Wind. So war Lucien beschaffen, er ging mit gleicher Leichtigkeit vom Bösen zum Guten und vom Guten zum Bösen. Statt der Liebe, die der Mann der Wissenschaft seiner stillen Zurückgezogenheit widmen sollte, empfand Lucien seit einem Monat eine Art Schamgefühl, wenn er den Laden sah, an dem in gelben Lettern auf grünem Grund zu lesen war:

Apotheke von Postel

Chardon Nachfolger.

Der Name seines Vaters, der so an einer Stelle geschrieben stand, an der alle Wagen vorbeifuhren, tat ihm in den Augen weh. Am Abend, wenn er seine Tür öffnete, die mit einem kleinen, recht geschmacklosen Gitterwerk geziert war, um nach Beaulieu unter die elegantesten jungen Leute der Oberstadt zu gehen und Frau von Bargeton den Arm zu reichen, hatte er das Missverhältnis zwischen dieser Wohnung und seinem Glücke oft bitter beklagt.

»Frau von Bargeton lieben, sie vielleicht bald besitzen und in diesem Rattennest wohnen!« sagte er sich, als er durch den Hausgang in den kleinen Hof ging, in dem mehrere Bündel gekochter Kräuter an den Mauern aufgehängt waren, in dem der Lehrling die Kochkessel des Laboratoriums scheuerte, in dem Herr Postel, seine Apothekerschürze vorgebunden und eine Retorte in der Hand, ein chemisches Präparat untersuchte, wobei er aber den Laden nicht aus den Augen verlor; denn wenn er sein Präparat noch so aufmerksam ansah, hatte er doch das Ohr bei der Klingel.

Der Geruch von Kamillen, Pfefferminz und verschiedenen andern destillierten Pflanzen erfüllte den Hof und das bescheidene Gemach, zu dem man auf einer steilen Treppe, die statt des Geländers zwei Stricke hatte, emporstieg. Oben war nur ein Mansardenzimmer, das Lucien bewohnte.

»Guten Tag! mein Junge«, sagte Herr Postel, der der richtige Typus des Provinzkrämers war, zu ihm. »Was macht unsere liebe Gesundheit? Ich mache ein Experiment über die Melasse, aber dein Vater wäre nötig, um herauszufinden, was ich suche. Das war ein Prachtkerl! Wenn ich sein geheimes Mittel gegen die Gicht wüsste, könnten wir heute alle beide in der Equipage fahren!«

Es verging keine Woche, in der der Apotheker, der ebenso dumm wie gutmütig war, Lucien nicht einen Dolchstich gab, indem er von der verhängnisvollen Verschwiegenheit zu ihm sprach, die sein Vater über seine Entdeckung bewahrt hatte.

»Ja, es ist ein großes Unglück«, antwortete Lucien kurz. Er fing an, den früheren Schüler seines Vaters furchtbar ordinär zu finden, den er doch früher oft gepriesen hatte; denn mehr als einmal hatte der wackere Postel die Witwe und die Kinder seines frühern Meisters unterstützt.

»Was gibts denn?« fragte Herr Postel und stellte seine Retorte auf den Tisch des Laboratoriums. »Ist ein Brief für mich gekommen?«

»Ja, einer, der wie Balsam duftet! Er ist im Kontor, auf meinem Pult.«

Der Brief von Frau von Bargeton mitten unter den Apothekerflaschen! Lucien stürzte in den Laden.

»Eile dich, Lucien, dein Essen wartet seit einer Stunde, es wird kalt werden«, rief eine angenehme Stimme in sanftem Ton durch ein halbgeöffnetes Fenster. Lucien hörte nicht mehr.

»Ihr Bruder hat den Rappel, Fräulein«, sagte Postel und hob die Nase hoch.

Dieser Junggeselle, der einige Ähnlichkeit mit einem kleinen Branntweinfässchen hatte, auf das die Phantasie eines Malers ein plumpes, gerötetes und blatternarbiges Gesicht gesetzt hätte, nahm, als er Eva erblickte, eine feierliche und liebliche Miene an, die erkennen ließ, dass er mit der Absicht umging, die Tochter seines Vorgängers zu heiraten, ohne dass er mit dem Zwiespalt fertig werden konnte, den die Liebe und das Interesse in seinem Herzen miteinander ausfochten. Daher sagte er zu Lucien oft lächelnd die Worte, die er auch jetzt zu ihm sagte, als der junge Mann wieder bei ihm vorbeikam: »Sie ist ganz reizend, deine Schwester! Du bist auch nicht übel! Euer Vater hat alles gut gemacht!«

Eva war groß, brünett, hatte schwarze Haare und blaue Augen. Obwohl sie Proben eines männlichen Charakters zeigte, war sie sanft, zart und hingebend. Ihre Unschuld, ihr kindliches Wesen, ihre ruhige Fügung in ein Leben der Arbeit, ihre Klugheit, die ohne jede Bosheit war, hatten David Séchard bestricken müssen. So war denn auch von ihrem ersten Beisammensein an eine stille, schlichte Liebe zwischen ihnen entstanden, eine deutsche Liebe, ohne leidenschaftliches Wesen und stürmische Erklärungen. Jeder von beiden hatte im geheimen an den andern gedacht, wie wenn ein eifersüchtiger Gatte sie getrennt hätte, für den dieses Gefühl eine Kränkung gewesen wäre. Alle beide verbargen ihr Gefühl vor Lucien, dem sie vielleicht irgendeinen Schaden anzutun fürchteten. David fürchtete sich, er könnte Eva nicht gefallen, und sie wiederum überließ sich der ganzen Verzagtheit, die die Not mit sich bringt. Eine richtige Arbeiterin wäre kühn gewesen, aber ein wohlerzogenes Mädchen, das in schlechte Lage gekommen ist, passt sich dem Unglück an. Eva, deren Wesen bescheiden, die aber in Wirklichkeit stolz war, wollte es nicht auf den Sohn eines Mannes absehen, der für reich galt. In diesem Augenblick schätzten die Leute, die den wachsenden Wert des Grundbesitzes kannten, das Landgut in Marsac auf mehr als achtzigtausend Franken, die Ländereien ungerechnet, die der alte Séchard, der viel Ersparnisse und glückliche Ernten hatte und im Verkauf geschickt war und die rechten Gelegenheiten abpasste, noch dazukaufen musste. David war vielleicht der einzige Mensch, der nichts von dem Vermögen seines Vaters wusste. Für ihn war Marsac ein heruntergekommenes Anwesen, das sein Vater im Jahre 1810 für fünfzehn- oder sechzehntausend Franken gekauft hatte, das er einmal im Jahr zur Zeit der Weinlese besuchte, wo der Vater dann mit ihm durch die Weinberge ging und ihm von den reichen Ernten erzählte, die der Drucker nie zu sehen bekam und um die er sich sehr wenig kümmerte. Die Liebe eines an die Einsamkeit gewöhnten Gelehrten, dessen Gefühle sich dadurch noch steigerten, dass er sich die Schwierigkeiten übertrieben groß vorstellte, hätte ermutigt werden müssen, denn für David war Eva ein stolzeres Weib, als es eine große Dame für einen armen Kommis ist. Er war in der Nähe seiner Verehrten linkisch und unruhig, hatte es ebenso eilig, wieder fortzugehen wie hinzukommen, und hielt seine Gefühle zurück, anstatt sie zum Ausdruck zu bringen. Oft am Abend ersann er einen Vorwand, um Lucien noch sprechen zu müssen, und stieg von der Place du Mûrier durchs Palet-Tor nach Houmeau hinab; aber wenn er an der grünen Tür mit dem eisernen Gitter angekommen war, kam ihm die Furcht, er komme zu spät oder er falle Eva, die sich vielleicht schon hingelegt hatte, lästig, und ergriff die Flucht. Obschon diese große Liebe nur an kleinen Zeichen zu erkennen war, hatte sie Eva wohl bemerkt; es schmeichelte ihr, ohne dass sie hochmütig wurde, der Gegenstand der tiefen Verehrung zu sein, die in den Blicken, den Worten, dem Benehmen Davids zum Ausdruck kam. Aber was ihr an ihm vor allem gefiel, war seine fanatische Freundschaft zu Lucien; er hätte auf kein besseres Mittel kommen können, Eva zu gefallen. Wollte man sagen, worin sich die stummen Wonnen dieser Liebe von einer lebhaften, lauten Leidenschaft unterschieden, so müsste man sie den Feldblumen im Gegensatz zu den grellen Gartenblumen vergleichen. Es waren sanfte, zarte Blicke, wie die blauen Lotosblumen, die auf dem Wasser schwimmen, flüchtige Liebeszeichen, wie der schwache Duft der Heckenrose, sanfte Traurigkeit, wie der Samt des Mooses; Blumen zweier schönen Seelen, die aus einem reichen, fruchtbaren, unwandelbaren Boden erwachsen. Eva hatte schon öfter die verborgene Kraft, die unter diesen schwachen Äußerungen schlummerte, erraten. Sie war David für alles, was er nicht wagte, so dankbar, dass der geringste Zwischenfall eine innigere Verbindung ihrer Seelen herbeiführen konnte.

Eva hatte Lucien die Tür schon geöffnet, und er ließ sich schweigend an einem kleinen Tisch ohne Tischtuch nieder, auf dem sein Gedeck lag. Der arme kleine Haushalt besaß nicht mehr als drei silberne Bestecke, die Eva alle für den geliebten Bruder benutzte.

»Was liest du denn da?« fragte sie, nachdem sie eine Platte auf den Tisch gestellt, die sie eben vom Feuer genommen hatte. Zugleich löschte sie mit dem Dämpfer die Flamme ihres kleinen Ofens.

Lucien antwortete nicht. Eva nahm einen Teller, der zierlich mit Weinblättern garniert war, und stellte ihn mit einer Schale voll Rahm auf den Tisch.

»Hier, Lucien, ich habe Erdbeeren für dich.«

Lucien war so in seine Lektüre vertieft, dass er nicht hörte. Eva setzte sich neben ihn, ohne im geringsten ärgerlich zu sein; denn es macht einer Schwester großes Vergnügen, von ihrem Bruder ungeniert behandelt zu werden.

»Aber was hast du denn?« rief sie, als sie Tränen in den Augen ihres Bruders schimmern sah. »Nichts, nichts, Eva«, sagte er. Er legte den Arm um sie, zog sie an sich und küsste sie mit plötzlicher Zärtlichkeit auf die Stirn und die Haare und dann auf den Nacken. »Du verbirgst etwas vor mir?«

»Sie liebt mich!«

»Ich wusste wohl, dass du nicht mich umarmst«, sagte die arme Schwester in schmollendem Ton und wurde rot.

»Wir werden alle glücklich sein«, rief Lucien und aß dabei hastig seine Suppe.

»Wir?« wiederholte Eva, und fügte dann in derselben Ahnung, die sich Davids bemächtigt hatte, hinzu: »Du wirst uns nicht mehr so lieb haben!«

»Wie kannst du das glauben, da du mich kennst?«

Eva drückte ihm die Hand. Dann trug sie den leeren Teller und die braune irdene Suppenschüssel ab und stellte ihm das Gericht hin, das sie für ihn bereitet hatte. Anstatt zu essen, las Lucien den Brief Frau von Bargetons noch einmal, den die zurückhaltende Eva nicht zu sehen verlangte; so viel Achtung hatte sie vor ihrem Bruder: wenn er ihr ihn mitteilen wollte, musste sie warten, und wenn er nicht wollte, konnte sie es verlangen? Sie wartete. Der Brief lautete:

»Mein Freund! Warum sollte ich Ihrem Freund und Studiengenossen die Unterstützung versagen, die ich Ihnen geliehen habe? In meinen Augen sind die Talente gleichberechtigt; aber Sie kennen die Vorurteile der Menschen nicht, die meine Gesellschaft bilden. Wir werden es nicht durchsetzen, dass der Adel des Geistes von denen erkannt wird, die die Aristokratie der Dummheit sind. Wenn ich es nicht vermag, ihnen Herrn David Séchard aufzuzwingen, bringe ich Ihnen gern diese Armseligen zum Opfer. Das wird wie eine antike Hekatombe sein. Aber, lieber Freund, Sie wollen doch gewiss nicht, dass ich jemanden empfange, dessen Geist oder Manieren mir nicht gefallen könnten. Ihre Schmeicheleien haben mich gelehrt, wie leicht die Freundschaft blind ist! Werden Sie mir böse sein, wenn ich an meine Einwilligung eine Bedingung knüpfe? Ich will Ihren Freund sehen, einen Eindruck von ihm bekommen und durch eigenes Urteil im Interesse Ihrer Zukunft feststellen, ob Sie sich nicht täuschen. Ist das nicht eine der mütterlichen Sorgen, die für Sie, mein lieber Dichter, haben muss

Louise von Nègrepelisse?«

Lucien wusste nicht, mit welcher Kunst in der großen Welt das Ja gehandhabt wird, wenn man nein sagen will, und umgekehrt. Dieser Brief war ein Triumph für ihn. David würde zu Frau von Bargeton gehen und da die Majestät des Genies glänzen lassen. In dem Rausch, in den ihn ein Sieg versetzte, der ihn an die Macht seines Einflusses auf die Menschen glauben ließ, nahm er eine so stolze Haltung an, so viel Hoffnungen spiegelten sich auf seinem vor freudiger Erregung strahlenden Gesicht, dass seine Schwester sich nicht enthalten konnte, ihm zu sagen, er wäre schön.

»Wenn sie Geist hat, muss sie dich wohl lieben, diese Frau! Und heute Abend wird sie sich grämen, denn alle Frauen werden sich um dich reißen. Du wirst schön sein, wenn du deinen ›Johannes auf Patmos‹ vorliest. Ich wollte, ich wäre eine Maus, um heimlich dabei sein zu können! Komm, ich habe deinen Anzug im Zimmer unserer Mutter bereitgelegt.«

Dieses Zimmer sprach von verschämter Armut. Es befand sich ein Nussbaumbett darin, über dem weiße Vorhänge angebracht waren und neben dem ein kümmerlicher grüner Teppich lag. Ferner vervollständigten die Einrichtung eine Kommode, über der ein Spiegel hing, und Stühle aus Nussbaumholz. Auf dem Kamin erinnerte eine Standuhr an die Tage des früheren Wohlstandes. Am Fenster hingen weiße Gardinen. Die Wände hatten graue Tapeten mit grauen Blumen. Der Fußboden, den Eva gestrichen hatte und immer putzte, glänzte vor Sauberkeit. In der Mitte des Zimmers stand ein Nipptischchen, auf dem auf einem roten Tablett, das mit goldenen Röschen verziert war, drei Tassen und eine Zuckerdose aus Porzellan von Limoges standen. Eva schlief in einer anstoßenden Kammer, die ein schmales Bett, einen alten Lehnstuhl und ein Nähtischchen nah am Fenster enthielt. Die Enge dieser Kajüte machte es nötig, dass die Glastür immer offen stand, um Luft hineinzulassen. Trotz der Not, von denen die Sachen deutlich genug redeten, zeugten sie von der Bescheidenheit eines arbeitsamen Lebens. Für solche, die die Mutter und ihre beiden Kinder kannten, war es ein Bild rührender Harmonie.

Lucien legte seine Krawatte an, als in dem kleinen Hof der Schritt Davids vernehmbar wurde, und schon trat auch der Buchdrucker mit dem Schritt und der Haltung eines Menschen ein, der es eilig hat.

»Holla, David,« rief unser Ehrgeiziger, »wir siegen! Sie liebt mich! Du wirst hingehen.«

»Nein,« sagte der Buchdrucker mit verlegenem Gesicht, »ich muss dir für diesen Freundschaftsbeweis danken, über den ich inzwischen reiflich nachgedacht habe. Mein Leben, Lucien, ist festgelegt. Ich bin David Séchard, königlicher Buchdrucker in Angoulême, dessen Name an allen Mauern unten an den Plakaten zu lesen steht. Für die Menschen dieser Kaste bin ich ein Handwerker, ein Kaufmann, wenn du willst, jedenfalls ein Gewerbetreibender, der seinen Laden in der Rue de Beaulieu, Ecke der Place du Mûrier hat. Noch besitze ich weder das Vermögen eines Keller noch die Berühmtheit eines Desplein, welche zwei Arten von Macht die Adligen zwar noch nicht gelten lassen wollen, die aber da sind, allerdings jedoch, darin stimme ich mit ihnen überein, nichts sind ohne die Lebensgewandtheit und die Manieren des Edelmanns. Womit wollte ich diese plötzliche Erhöhung rechtfertigen? Ich würde mich bei den Bürgern sowohl wie bei den Adligen zum Gespött machen. Deine Lage ist eine ganz andere. Ein Faktor ist zu nichts verpflichtet. Du arbeitest, um Kenntnisse zu erlangen, die zum Gelingen deiner Pläne unentbehrlich sind, du kannst deine gegenwärtige Beschäftigung mit deiner Zukunft erklären. Übrigens kannst du morgen etwas anderes anfangen, die Rechte oder die Diplomatie studieren, oder zur Verwaltung übergehen. Kurz, du hast keinen festen Beruf und bist noch nicht rubriziert. Genieße deine soziale Jungfräulichkeit, gehe allein deines Weges und strecke die Hand nach den Ehren aus, die dir winken! Genieße froh alle Freuden, selbst die, die die Eitelkeit verschafft. Sei glücklich, ich werde deine Erfolge mitgenießen, du wirst mein zweites Ich sein. Ja, in Gedanken werde ich dein Schicksal mitleben. Für dich die Feste, den Glanz der Welt und die rasche Schwungkraft ihrer Intrigen; für mich das ernste, arbeitsame Leben des Kaufmanns und die geduldige Beschäftigung der Wissenschaft. Du wirst unsere Aristokratie sein«, sagte er und blickte dabei Eva an. »Wenn du stürzen wirst, wird mein Arm dich halten. Wenn du einen Verrat zu beklagen hast, flüchte dich an unser Herz, da findest du unwandelbare Liebe. Wenn der Schutz, die Gunst, der gute Wille der Menschen sich auf zwei verteilen sollten, könnten sie müde werden, wir würden uns gegenseitig schaden. Geh voran, du wirst mich nachschleppen, wenn es nötig ist. Ich beneide dich nicht, im Gegenteil, ich weihe mich dir. Was du da für mich getan hast, indem du die Gefahr auf dich nahmst, deine Wohltäterin, vielleicht deine Geliebte zu verlieren, ehe du mich verließest, mich verleugnetest, diese schlichte, große Tat, Lucien, müsste mich für ewig an dich binden, wenn wir nicht schon wie zwei Brüder wären. Du brauchst keine Gewissensbisse zu haben und nicht zu besorgen, dass du das bessere Teil erwählt hättest. Diese ungleiche Teilung sagt mir zu. Und schließlich, auch wenn du mir einige Schmerzen zufügen solltest, wer weiß, ob ich nicht ewig dein Schuldner wäre.«

Bei diesen Worten warf er einen überaus schüchternen Blick auf Eva, der die Augen voller Tränen standen, denn sie verstand alles.

»Schließlich«, sagte er zu dem verdutzten Lucien, »bist du hübsch, hast eine schöne Gestalt, deine Kleider sitzen dir gut, du siehst in deinem blauen Rock mit den gelben Knöpfen, mit einer ganz einfachen Nankinghose wie ein Edelmann aus, ich dagegen stünde in dieser vornehmen Welt wie ein Handwerker da, ich wäre linkisch, verlegen, sagte dummes Zeug oder gar nichts. Du kannst, um dich dem Vorurteil der Titel und Namen zu fügen, den Namen deiner Mutter annehmen, kannst dich ›Lucien von Rubempré‹ heißen lassen, ich bin und bleibe immer David Séchard. In der Welt, in die du gehst, ist dir alles dienlich und mir alles von Nachteil. Du bist dazu geschaffen, ans Ziel zu kommen. Die Frauen werden dein himmlisches Gesicht vergöttern. Nicht wahr, Eva?«

Lucien fiel David um den Hals und küsste ihn. Diese bescheidene Zurückhaltung machte vielen Schwierigkeiten ein Ende. Wie sollte er nicht diesem Manne gegenüber seine Zärtlichkeit verdoppeln, der aus Freundschaft auf dieselben Gedanken gekommen war, zu denen ihn der Ehrgeiz geführt hatte? Der Ehrgeizige und der Liebende in ihm spürten ebene Bahn vor sich, und in das Herz des Jünglings und des Freundes zog Freude ein. Es war einer der seltenen Augenblicke im Menschenleben, wo alle Kräfte sanft angespannt sind, alle Saiten vibrieren und vollen Ton erklingen lassen. Aber diese Klugheit einer schönen Seele verstärkte in Lucien noch die Tendenz, die den Menschen dazu bringt, alles auf sich zu beziehen. Wir sagen alle mehr oder weniger wie Ludwig XIV.: »Der Staat bin ich!« Die hingebende Zärtlichkeit seiner Mutter und seiner Schwester, die Aufopferung Davids, die Gewohnheit, sich als Gegenstand der geheimen Bemühungen dieser drei Menschen zu sehen, gaben ihm die Fehler des Schoßkindes, erzeugten in ihm jenen Egoismus, der den Edlen verzehrt, dem Frau von Bargeton, da sie ihn dazu brachte, seine Verpflichtungen gegen seine Mutter, seine Schwester und David zu vergessen, schmeichelte. Es war noch nicht so weit; aber hatte er nicht zu befürchten, er würde, wenn er den Kreis seines Ehrgeizes erweiterte, gezwungen sein, nur an sich zu denken, um sich zu halten?

Nach diesem erregten Auftritt sagte David zu Lucien, sein Gedicht »Johannes auf Patmos« wäre vielleicht zu biblisch, um in einer Gesellschaft vorgelesen zu werden, der die Poesie der Apokalypse wenig vertraut sein konnte. Lucien, der vor dem schwierigsten Publikum der Charente auftreten sollte, schien unruhig zu werden. David riet ihm, den André de Chénier mitzunehmen und ein zweifelhaftes Vergnügen durch ein sicheres zu ersetzen. Lucien las vorzüglich, er würde ohne Frage Beifall finden und zugleich eine Bescheidenheit zeigen, die ihm ohne Zweifel nützlich sein würde. Wie die meisten jungen Leute, liehen sie der großen Welt ihren eigenen Verstand und ihre Vorzüge. Wenn die Jugend, die noch nicht Schiffbruch gelitten hat, gegen die Fehler der andern unduldsam ist, so schenkt sie ihnen doch auch ihr wundervolles Vertrauen. Man muss in der Tat viel Erfahrung im Leben hinter sich haben, ehe man erkennt, dass nach einem schönen Wort Raffaels ›verstehen‹ ›gleichstellen‹ heißt. Im allgemeinen ist Sinn und Verständnis für Poesie in Frankreich selten, wo der Witz die Quelle heiliger Begeisterungstränen schnell austrocknet, wo niemand sich die Mühe geben will, das Erhabene zu verstehen und ihm auf den Grund zu gehen, um seine Unendlichkeit zu gewahren. Lucien sollte seine erste Erfahrung über die Verständnislosigkeit und Kälte der großen Welt machen! Er ging bei David vorbei, um dort den Gedichtband mitzunehmen.

Als die beiden Liebenden allein waren, kam David in eine Verlegenheit, wie er sie nie im Leben empfunden hatte. Er war in tausend Ängsten, hoffte, dass sie ihn lobte, und fürchtete es, er wünschte zu fliehen, denn auch die Scham hat ihre Koketterie! Der arme Liebhaber wagte kein Wort zu sagen, das so hätte klingen können, als ob er einen Dank erwartete; er fand alle Worte peinlich und blieb schweigsam in der Haltung eines Verbrechers. Eva, die die Qualen seiner Schüchternheit ahnte, gefiel es, dieses Schweigen zu genießen; aber als David seinen Hut hin und her drehte und Miene machte, fortzugehen, lächelte sie.

»Herr David,« sagte sie zu ihm, »da Sie den Abend nicht bei Frau von Bargeton weilen, könnten wir ihn zusammen verbringen. Es ist schönes Wetter, wollen wir am Ufer der Charente spazieren gehen? Wir können von Lucien plaudern.«

David hatte Lust, diesem entzückenden Mädchen zu Füßen zu fallen. Eva hatte in den Ton ihrer Stimme einen Lohn gelegt, der alle seine Hoffnungen überstieg; sie hatte durch die Freundlichkeit der Rede die Schwierigkeit der Situation gelöst; ihr Vorschlag war mehr als ein Lob, war die erste Liebesgunst.

»Nur«, sagte sie, auf eine Bewegung, die David machte, »lassen Sie mir einige Augenblicke zum Umkleiden.«

David, der in seinem Leben keine Melodie behalten hatte, sang, als er die Treppe hinunterging, leise vor sich hin, was dem braven Postel auffiel und ihn zu argwöhnischen Gedanken über die Beziehungen zwischen Eva und dem Buchdrucker brachte.

Die geringsten Umstände dieses Abends übten starke Wirkung auf Lucien, dessen Eigenheit es war, die kleinsten Eindrücke zu empfinden. Wie alle unerfahrenen Liebhaber, kam er so früh hin, dass Louise noch nicht im Salon war. Nur Herr von Bargeton war da. Lucien hatte schon ein paar von den kleinen Erbärmlichkeiten erlernt, mit denen der Liebhaber einer verheirateten Frau sein Glück erkauft und die den Frauen anzeigen, wieviel sie verlangen können; aber er war noch nie mit Herrn von Bargeton allein zusammen gewesen.

Dieser Edelmann war einer der kleinen Geister, die sich behutsam zwischen der harmlosen Nichtigkeit, die noch versteht, und der hochmütigen Dummheit, die nichts annehmen und nichts von sich geben will, bewegen. Er war von seinen Pflichten gegen die Welt durchdrungen und bemühte sich, ihr angenehm zu sein, und so bildete nun das Lächeln eines Tänzers seine einzige Sprache. Ob er zufrieden oder unzufrieden war, er lächelte. Er lächelte bei einer Unglücksbotschaft ebensowohl wie bei der Nachricht von einem glücklichen Ereignis. Dieses Lächeln war durch den Ausdruck, den ihm Herr von Bargeton gab, gut für alles. Wenn eine direkte Zustimmung unumgänglich notwendig war, verstärkte er sein Lächeln durch ein freundliches Lachen, und nur im äußersten Notfall gab er ein Wort von sich. Ein Zusammensein unter vier Augen war die einzige Verlegenheit, die sein vegetatives Leben störte; er war dann gezwungen, in der Unendlichkeit seiner inneren Leere nach etwas zu suchen. Meistens zog er sich dadurch aus der Verlegenheit, dass er die naiven Gewohnheiten seiner Kindheit wieder aufnahm: er dachte laut, weihte seinen Partner in die geringsten Kleinigkeiten seines Lebens ein, drückte ihm seine Bedürfnisse, seine kleinen Stimmungen aus, die er schon für Ideen hielt. Er sprach weder vom Regen noch vom schönen Wetter; er machte keinen Gebrauch von den Gemeinplätzen der Unterhaltung, die die Zuflucht der Schwachköpfe sind, er sprach dann vielmehr von intimeren Angelegenheiten des Lebens.

»Aus Gefälligkeit gegen Frau von Bargeton habe ich diesen Vormittag Kalbfleisch gegessen, das sie gern hat, und habe Magenschmerzen«, sagte er wohl. »Ich weiß das, ich bekomme sie immer davon; woher kommt das?« Oder auch: »Ich werde klingeln und mir ein Glas Zuckerwasser kommen lassen; wollen Sie auch gleich eins?« Oder auch: »Ich werde morgen ausreiten und meinen Schwiegervater besuchen.«

Diese kleinen Sätze, die keine Diskussion erlaubten, brachten aus dem Partner ein Nein oder ein Ja heraus, und die Unterhaltung lag wieder am Boden. Herr von Bargeton flehte alsdann seinen Besucher um Hilfe an, indem er seine Stumpfnase zur Seite drehte und ihn mit seinen großen glasigen Augen in einer Weise ansah, die bedeuten sollte: »Sie sagten?« Die langweiligen Menschen, die von nichts anderem reden können als von sich selbst, behandelte er sehr zärtlich, er hörte ihnen mit biederer und zarter Aufmerksamkeit zu, und das machte ihn ihnen so wertvoll, dass die Schwätzer von Angoulême ihm heimlichen Verstand zuschrieben und behaupteten, er werde falsch beurteilt. Daher kamen diese Leute auch, wenn ihnen niemand mehr zuhören wollte, zu Herrn von Bargeton, um bei ihm ihre Geschichten oder ihre Betrachtungen zu vollenden, und waren sicher, sein zustimmendes Lächeln zu finden. Da der Salon seiner Frau immer sehr besucht war, fühlte er sich im allgemeinen wohl darin. Er beschäftigte sich mit den kleinsten Einzelheiten: er achtete darauf, wer eintrat, grüßte den Ankömmling lächelnd und führte ihn seiner Frau zu, er lauerte auf die, die fortgingen, gab ihnen das Geleite und empfing ihre Abschiedsworte mit seinem ewigen Lächeln. Wenn die Unterhaltung belebt war und er jeden beschäftigt sah, blieb der glückliche Stumme, wie ein Storch auf seinen Stelzen, auf seinen hohen Beinen aufgepflanzt und gab sich die Miene, als höre er einem politischen Gespräch zu, oder er sah einem Spieler in die Karten, ohne etwas davon zu verstehen, denn er kannte kein Spiel; oder er ging auf und ab, sog dabei den Rauch seines Tabaks ein, schnaufte und verdaute. Anaïs war der strahlende Punkt in seinem Leben, sie gab ihm unendliche Freuden. Wenn sie ihre Rolle als Herrin des Hauses spielte, streckte er sich in einem Lehnstuhl aus und bewunderte sie; denn sie sprach für ihn. Dann wollte er sich das Vergnügen machen, den Sinn ihrer schwülstigen Sätze zu verstehen; und da er sie oft erst lange, nachdem sie ausgesprochen waren, verstand, gestattete er sich häufig ein Lächeln, das einen Eindruck machte wie Granaten, die sich in die Erde gebohrt hatten und nachträglich platzten. Die Verehrung, die er ihr entgegenbrachte, ging überdies bis zur Anbetung. Genügt eine Anbetung nicht, gleichviel von wem und warum, glücklich zu machen? Als eine Frau von Geist und Edelmut hatte Anaïs ihren Vorteil nicht missbraucht. Sie erkannte in ihrem Mann die lenkbare Natur eines Kindes, das nichts anderes verlangt, als beherrscht zu werden. Sie sorgte für ihn, wie man für einen Mantel sorgt: sie hielt ihn sauber, bürstete ihn, verwahrte ihn und ging gut mit ihm um; und da sich Herr von Bargeton gut behandelt, gebürstet und gepflegt fühlte, hatte er für seine Frau eine hündische Liebe gewonnen. Es ist so leicht, ein Glück zu geben, das nichts kostet! Frau von Bargeton kannte kein anderes Vergnügen ihres Mannes als eine gute Tafel und ließ ihm also ausgezeichnete Mahlzeiten vorsetzen; sie hatte Mitleid mit ihm; niemals hatte sie sich über ihn beklagt, und manche Leute, die ihren schweigenden Stolz nicht verstanden, schrieben Herrn von Bargeton verborgene Vorzüge zu. Sie hatte ihn überdies an militärische Disziplin gewöhnt, und der Gehorsam dieses Mannes gegen die Wünsche seiner Frau war unbedingt. Sie sagte zu ihm: »Mach' Herrn Soundso oder Frau Soundso einen Besuch«, und er ging hin wie ein Soldat auf seinen Posten. Er stand unbeweglich vor ihr und präsentierte.

Es stand gerade jetzt in Frage, diesen Stummen zum Deputierten zu ernennen. Lucien besuchte das Haus noch nicht lange genug, um dahintergekommen zu sein, was hinter diesem unglaublichen Charakter steckte. Herr von Bargeton, der in seinem Lehnstuhl lag und alles zu sehen und alles zu verstehen schien, der mit einer solchen Würde zu schweigen verstand, machte ihm einen höchst imponierenden Eindruck. Anstatt ihn als Prellstein zu nehmen, machte Lucien infolge der Neigung, die phantasievolle Menschen dazu bringt, alles vergrößert zu sehen und allen Gestalten eine Seele zu leihen, aus diesem Edelmanne eine furchtbare Sphinx und hielt es für notwendig, ihm zu schmeicheln.

»Ich bin der erste«, sagte er und grüßte etwas ehrerbietiger, als es der Wackere von anderen gewohnt war. »Das ist ganz natürlich«, antwortete Herr von Bargeton. Lucien nahm diese Bemerkung als spitzes Wort eines eifersüchtigen Gatten, wurde rot, sah in den Spiegel und suchte sich eine stramme Haltung zu geben.

»Sie wohnen in Houmeau«, sagte Herr von Bargeton; »die Leute, die weit entfernt wohnen, kommen immer früher als die, die in der Nähe wohnen.«

»Woher kommt das wohl?« fragte Lucien und nahm eine recht freundliche Miene an.

»Ich weiß nicht«, antwortete Herr von Bargeton, der in seine Starrheit zurückgefallen war.

»Sie wollen nur nicht danach suchen«, fing Lucien wieder an. »Ein Mann, der imstande ist, die Bemerkung zu machen, muss auch die Ursache finden.«

»Ach,« machte Herr von Bargeton, »die letzten Ursachen! Ha, ha!«

Lucien zermarterte sich das Hirn, um der Unterhaltung weiterzuhelfen, die wieder ins Stocken geraten war.

»Frau von Bargeton kleidet sich wohl an?« fragte er und wurde zugleich wütend über die Dummheit dieser Frage. »Jawohl, sie kleidet sich an«, antwortete der Gatte mit ruhiger Natürlichkeit.

Lucien hob die Augen, um die beiden vorspringenden Balken zu betrachten, die in Grau gemalt waren; vermochte aber auf keine Bemerkung zu kommen, mit der er die Unterhaltung hätte fortsetzen können. Doch nicht ohne Schrecken sah er, dass der kleine Kronleuchter mit den alten Kristallgehängen nicht mehr in Gaze eingehüllt war und dass Kerzen darauf steckten. Die Möbelüberzüge waren weggenommen worden, und das rote indische Seidenzeug zeigte seine verblichenen Blumen. Diese Zurüstungen deuteten auf einen außerordentlichen Abend. Dem Dichter kamen Zweifel über die Schicklichkeit seines Anzuges, denn er war in Stiefeln. Mit der dumpfen Starrheit der Furcht betrachtete er eine japanische Vase, die auf einem Pfeilertischchen im Stil Louis XV. stand. Dann bekam er es mit der Angst, er könnte diesem Gatten missfallen, wenn er ihm nicht den Hof machte, und er beschloss zu erforschen, ob der Gute ein Steckenpferd hätte, dem man schmeicheln könnte.

»Sie verlassen selten die Stadt?« fragte er Herrn von Bargeton und trat wieder zu ihm. »Selten.«

Wieder trat Schweigen ein. Herr von Bargeton belauerte wie eine argwöhnische Katze die geringsten Bewegungen Luciens, der ihn in seiner Ruhe zu stören drohte. Alle beide hatten Angst voreinander.

»Sollte er wegen meiner häufigen Besuche Verdacht geschöpft haben?« dachte Lucien. »Er scheint sehr feindselig gegen mich!«

Zum Glück für Lucien, den die unruhigen Blicke, mit denen Herr von Bargeton, auf und ab gehend, ihn verfolgte, sehr störten, trat der alte Diener, der sich in eine Livree gesteckt hatte, herein und meldete du Châtelet an. Der Baron trat ungezwungen ein, grüßte seinen Freund Bargeton und nickte Lucien mit einer leichten Kopfbewegung zu, die damals in der Mode war, die unser Dichter aber als eine bourgeoise Unverschämtheit empfand. Sixtus du Châtelet trug eine Hose von blendender Weiße mit verborgenen Stegen, die sie in den Falten hielten. Er trug feine Schuhe und feingewebte Strümpfe. Über seiner weißen Weste hing das schwarze Band seiner Lorgnette. An seinem schwarzen Rock schließlich merkte man pariserischen Zuschnitt. Er war der Geck, den sein Vorleben erwarten ließ; aber sein Alter hatte ihm bereits ein rundes Bäuchlein gegeben, das ziemlich schwer in den Grenzen der Eleganz zu halten war. Er färbte sich Haare und Backenbart, die infolge der Leiden seines Reiseerlebnisses weiß geworden waren, und das gab ihm ein steifes Aussehen. Sein Teint, der früher sehr zart gewesen war, hatte die Kupferfarbe der Leute angenommen, die aus Indien zurückgekehrt sind; aber seine Haltung offenbarte doch, obwohl sie durch sein prätentiöses Wesen, das er nicht ablegte, lächerlich wurde, den angenehmen Geheimsekretär einer kaiserlichen Hoheit. Er nahm seine Lorgnette vor die Augen, besah sich die Nankinghose, die Stiefel, die Weste, den in Angoulême verfertigten blauen Rock Luciens, kurz, seinen Nebenbuhler von Kopf bis zu Fuß; dann steckte er kaltblütig die Lorgnette wieder in die Westentasche, wie wenn er hätte sagen wollen: »Ich bin zufrieden.« Lucien, der sich schon durch die Eleganz des Finanzmanns niedergedrückt fühlte, dachte, er werde seine Revanche haben, wenn die Gesellschaft sein von dem Vortrag beseeltes Antlitz sähe; aber nichtsdestoweniger litt er lebhaft und fühlte sich in ein nicht geringeres Unbehagen versetzt als vorher durch die vermeintliche Feindseligkeit des Herrn von Bargeton. Es schien, als werfe der Baron das ganze Gewicht seines Reichtums auf Lucien, um sein Elend möglichst zu demütigen. Herr von Bargeton, der darauf gerechnet hatte, nichts mehr sagen zu brauchen, war bestürzt über das Schweigen, das die beiden Nebenbuhler, die einander beständig prüfend betrachteten, bewahrten; aber er hatte, wenn er sich am Ende seiner Bemühungen sah, immer noch eine Frage, die er sich aufbewahrte wie eine Birne für den Durst, und er hielt es für nötig, sie jetzt loszulassen. Er nahm eine geschäftige Miene an und fragte Châtelet:

»Nun, mein Lieber, was gibt es Neues? Spricht man von etwas?«

»Aber«, antwortete boshaft der Steuerdirektor, »Herr Chardon ist das Neue. Wenden Sie sich an ihn. – Haben Sie uns ein hübsches Gedicht mitgebracht?« fragte der mutwillige Baron und strich sich eine Locke über der Schläfe zurecht, die ihm in Unordnung schien.

»Um zu wissen, ob es mir gelungen ist, hätte ich Sie zu Rate ziehen müssen,« antwortete Lucien; »Sie haben die Poesie schon vor mir betrieben.«

»Bah! ein paar hübsche Vaudevilles, die ich aus Gefälligkeit machte, Gelegenheitsgedichte, Romanzen, denen die Musik erst Wert gab, meine große Epistel an eine Schwester Bonapartes – der Undankbare! –, das gibt keinen Anspruch auf Unsterblichkeit.«

In diesem Augenblick trat Frau von Bargeton im ganzen Glanze einer ausgesuchten Toilette herein. Sie trug einen jüdischen Turban, der mit einer orientalischen Agraffe geziert war. Eine Gazeschärpe, unter der die Steine einer Halskette glitzerten, war anmutig um ihren Hals geschlungen. Ihr Gewand aus gemaltem Muffelin mit kurzen Ärmeln erlaubte ihr, mehrere Armbänder zu zeigen, die an ihren schönen weißen Armen aufgereiht waren. Dieser theatralische Aufzug entzückte Lucien. Herr du Châtelet richtete an diese Königin galant widerwärtig übertriebene Komplimente, und sie lächelte vor Vergnügen, so glücklich war sie darüber, in Luciens Anwesenheit gepriesen zu werden. Sie tauschte mit ihrem lieben Dichter nur einen Blick und antwortete dem Steuerdirektor mit einer Höflichkeit, die ihn bestürzte, weil sie ihn ihrer Intimität ausschloss.

Verlorene Illusionen

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