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An Sie
ОглавлениеDem Born von Glanz und Helle, ewig klar.
Wo Lobgesänge zu der Harfe Ton
Erklingen von der frommen Engelschar,
Die sich versammelt um Jehovas Thron –
Entschwebt, den Himmeln lassend seinen Kranz,
Sein Sternenkleid und seinen Sllberstab,
Ein Cherub oftmals, dessen Haar den Glanz
Auf seiner Stirn verhüllt, und steigt herab.
Er sah von Gott, wie Menschen wohlzutun:
Er hilft dem Genius tragen sein Geschick,
Er lässt den Greis bei Kindeskindern ruhn.
Und er erheitert des Verzagten Blick.
Der späten Reue leiht er noch sein Ohr,
Erlöst das Mutterherz von Bangigkeit
Und rechnet Gott die frommen Seufzer vor.
Die mitleidsvolle Brust dem Elend weiht.
Von jenen schönen Abgesandten weilt
Ein einziger bei uns, den liebebang
Die Erde festhält, dass er nicht enteilt;
Doch zieht nach oben ihn der Heimatsdrang.
Nicht seiner Stirne leuchtend weißer Schein,
Nicht alles Göttliche der Wesensart,
Nicht seines Auges Feuer tief und rein
Hat seinen Ursprung mir geoffenbart;
Doch von dem Glanz verführt, vermaß mein Herz
Sich, seiner heiligen Natur zu nahn.
Und musste spüren, dass er mit dem Erz
Des fürchterlichen Engels angetan.
Oh! hütet, hütet euch, dass nimmermehr
Den Seraph er erschaut, der heimwärts flieht,
Und nicht das Wort vernimmt von Wiederkehr,
Das durch die Abendluft melodisch zieht!
Ihr säh't sie sonst mit brüderlichem Flug
Die Nacht zerteilend wie ein Wolkenzug
Eingehn ins Sternentor,
Und auf die Leuchtspur ihrer Füße weist
Der Lotse, bangend, was es wohl verheißt,
Wie auf ein Meteor.
»Verstehen Sie, was er eigentlich meint?« fragte Amélie Herrn du Châtelet und warf ihm einen koketten Blick zu.
»Das sind Verse, wie wir sie im Gymnasium mehr oder weniger alle gemacht haben«, antwortete der Baron mit gelangweiltem Gesicht, da er bemüht war, seine Rolle als Kunstrichter, den nichts in Erstaunen setzt, beizubehalten. »Früher fühlten wir uns in den Ossianischen Nebeln wohl. Da war die Rede von Malwina, Fingal, Wolkenerscheinungen, Kriegsmännern, die aus ihren Gräbern emporstiegen und Sterne über ihrem Haupte hatten. Heutzutage ist dieser dichterische Plunder von Jehova, von Harfen, von Engeln, von den Fittichen der Seraphim ersetzt, von der ganzen Garderobe des Paradieses, die mit solchen Worten wie: ungeheuer, unendlich, Einsamkeit, Geist, wieder aufgefrischt wurde. Das ist ein Apparat mit großen Wassern, Motten Gottes, so eine Art christlicher Pantheismus, der mit mühsam zusammengesuchten exotischen Reimen wie: Babel und Schnabel, Kaba und Saba usw., ausgeschmückt wird. Kurz, der Breitegrad ist ein anderer geworden: früher waren wir im Norden, jetzt sind wir im Osten, aber die Finsternis ist noch ebenso dicht.«
»Wenn die Ode dunkel ist,« sagte Zéphirine, »so scheint mir doch die Erklärung nicht schwer zu sein.«
»Und die Rüstung des Erzengels ist ein recht leichtes Musselinkleid«, sagte Francis.
Die Höflichkeit verlangte zwar, dass man um Frau von Bargetons willen die Ode entzückend fand, aber die Frauen, die sich ärgerten, dass sie nicht auch einen Dichter in ihren Diensten hatten, der sie zu Engeln machte, erhoben sich wie gelangweilt und sagten mit eisiger Miene: »Sehr nett! Hübsch! Recht gut!«
»Wenn Sie mich lieben, sagen Sie weder dem Verfasser, noch seinem Engel etwas Schmeichelhaftes«, sagte Lolotte mit despotischer Miene, der er gehorchen musste, zu ihrem lieben Adrian.
»Schließlich sind es Phrasen,« sagte Zéphirine zu Francis, »und die Liebe ist eine Poesie ohne Worte.«
»Zizine, du hast da eine Sache gesagt, die ich mir auch dachte, aber ich hätte mich nicht so fein ausdrücken können«, gab Stanislaus zurück und musterte sich dabei von Kopf bis zu Fuß mit einem zärtlichen Blick.
»Ich weiß nicht, was ich gäbe,« sagte Amélie zu Châtelet, »wenn ich den Hochmut dieser Naïs gedemütigt sehen könnte, die sich als Erzengel hinstellen lässt, als ob sie mehr wäre als wir, und uns mit dem Sohn eines Apothekers und einer Wochenpflegerin zusammen zu sein zwingt, dessen Schwester eine Näherin ist und der bei einem Drucker arbeitet.«
»Sein Vater«, sagte Jacques, »war ein großer Chemiker und Apotheker, er hätte seinem Sohn ein Mittel gegen die Dichteritis eingeben sollen.«
»Da setzt der Sohn das Handwerk seines Vaters fort; denn was er uns vorgesetzt hat, scheint mir eine Apothekerware zu sein«, sagte Stanislaus und nahm eine herausfordernde Haltung an. »Ich muss sagen, mir schmeckt was anderes besser.«
In einem Augenblick waren alle darüber einig, Lucien mit irgendeinem Wort aus dem Schatz ihrer Aristokratenironie zu demütigen. Lili, die fromme Frau, hielt es um der Barmherzigkeit willen für notwendig, zu sagen, es wäre Zeit, Naïs aufzuklären, die nahe daran wäre, eine große Torheit zu begehen. Francis, der Diplomat, übernahm es, diese dumme Verschwörung zu lenken, für die sich alle diese kleinen Geister wie für die Lösung des Knotens eines Dramas interessierten und in der sie ein Abenteuer sahen, von dem man am Tage darauf erzählen konnte. Der frühere Konsul, der keine Lust hatte, sich mit einem jungen Dichter schlagen zu müssen, der über ein beleidigendes Wort in Anwesenheit seiner Geliebten in Wut geraten würde, sah ein, dass man Lucien mit einem geweihten Strahl treffen müsse, gegen den keine Rache möglich war. Er folgte dem Beispiel, das ihm der geschickte Châtelet gegeben, als es sich darum gehandelt hatte, Lucien dazu zu bringen, eines seiner eigenen Gedichte vorzutragen. Er ging zu dem Bischof und plauderte mit ihm. Er tat so, als teilte er die Begeisterung, in die die Ode Luciens den hochehrwürdigen Herrn versetzt hatte; dann mystifizierte er ihn, indem er ihn glauben ließ, die Mutter Luciens wäre eine geistig bedeutende Frau mit übergroßer Bescheidenheit und lieferte ihrem Sohn die Themen zu all seinen Gedichten. »Es bereitete«, sagte er, »Lucien das größte Vergnügen, wenn seine Mutter, die er anbetete, nach Verdienst gewürdigt würde.« Nachdem dem Bischof diese Idee einmal eingepflanzt war, überließ sich Francis den Zufällen des Gesprächs, um das verletzende Wort, das er durch den Bischof sagen lassen wollte, herbeizuführen. Als Francis und der Bischof wieder in den Kreis traten, in dessen Mitte Lucien stand, verdoppelte sich die Aufmerksamkeit unter den Personen, die ihm schon in kleinen Zügen das Gift zu trinken gaben. Der arme Dichter, dem die Künste des Salons völlig fremd waren, konnte sich nicht helfen, blickte nur immer Frau von Bargeton an und antwortete dumm auf die dummen Fragen, die ihm gestellt wurden. Er kannte die Namen und Titel der meisten Anwesenden nicht und wusste nicht, was für ein Gespräch er mit Frauen führen sollte, die ihm Albernheiten sagten, deren er sich schämte. Er fühlte sich überdies von diesen großen Menschen des Angoumois um tausend Meilen getrennt, wenn er hörte, wie sie ihn bald Herr Chardon und bald Herr von Rubempré anredeten, während sie sich untereinander Lolotte, Adrian, Astolf, Lili, Fifine nannten. Seine Verlegenheit stieg aufs äußerste, als er Lili für einen Männernamen gehalten und den brutalen Herrn von Senonches Herr Lili angeredet hatte. Der Nimrod unterbrach Lucien mit einem erstaunten »Herr Lulu?« und Frau von Bargeton wurde rot bis über die Ohren.
»Man muss sehr verblendet sein, um diesen kleinen Bürgersmann hierher und in unsere Gesellschaft zu bringen!« sagte Herr von Senonches halblaut.
»Frau Marquise,« fragte Zéphirine Frau von Pimentel leise, aber so, dass es gehört wurde, »finden Sie nicht eine große Ähnlichkeit zwischen Herrn Chardon und Herrn von Cante-Croix?«
»Eine ideale Ähnlichkeit«, antwortete Frau von Pimentel lächelnd.
»Der Ruhm birgt eine Kraft der Verführung, die man nicht zu leugnen braucht«, sagte Frau von Bargeton zur Marquise. »Es gibt Frauen, die die Größe lieben, wie andere die Kleinheit«, fügte sie hinzu und richtete dabei ihre Augen auf Francis.
Zéphirine verstand nicht, denn sie fand ihren Konsul sehr groß; aber die Marquise schlug sich auf Naïs' Seite und fing zu lachen an.
»Sie sind sehr glücklich,« sagte Herr von Pimentel zu Lucien und machte sich dabei ein Vergnügen, ihn zur Abwechslung von Rubempré zu nennen, nachdem er vorher Herr Chardon zu ihm gesagt hatte; »Sie können sich niemals langweilen.«
»Arbeiten Sie schnell?« fragte ihn Lolotte mit einem Gesicht, mit dem sie einen Tischler gefragt hätte: »Brauchen Sie lange dazu, einen Kasten zu machen?«
Lucien war von diesem Keulenschlag wie betäubt; aber er hob den Kopf wieder hoch, als er Frau von Bargeton lächelnd antworten hörte:
»Meine Liebe, die Poesie wächst im Kopf des Herrn von Rubempré nicht wie das Unkraut in unsern Höfen.«
»Meine Gnädigste,« sagte der Bischof zu Lolotte, »wir können nicht genug Achtung vor den edlen Geistern haben, denen Gott einen seiner Strahlen geschenkt hat. Ja, die Poesie ist eine heilige Sache. Wer Poesie sagt, sagt Leiden. Wie viele stille Nächte haben die Strophen nicht gekostet, die Sie bewundern! Wir wollen den Dichter, der fast immer ein unglückliches Leben führt und für den Gott ohne Zweifel im Himmel unter seinen Propheten einen Platz bereithält, liebevoll aufnehmen. Dieser junge Mann ist ein Dichter,« fügte er hinzu und legte seine Hand auf Luciens Kopf, »sehen Sie nicht etwas wie ein Verhängnis auf dieser schönen Stirn?«
Lucien war glücklich, so edel verteidigt zu werden, und warf dem Bischof einen liebreichen Blick zu. Er ahnte nicht, dass der würdige Prälat sein Henker werden sollte.
Frau von Bargeton warf auf den feindlichen Kreis triumphierende Blicke, die sich wie ebenso viele Dolche in die Herzen ihrer Nebenbuhlerinnen senkten, deren Wut sich verdoppelte.
»Ach, Monseigneur,« antwortete der Dichter und hoffte, diese Dummköpfe mit seinem goldenen Zepter zu treffen, »das gewöhnliche Volk hat weder Ihren Geist noch Ihre fromme Liebe. Man weiß nichts von unsern Schmerzen, niemand kennt unser Mühen. Der Bergmann hat nicht so viel Arbeit, das Gold aus der Mine zu gewinnen, als wir, wenn wir den Eingeweiden der undankbarsten aller Sprachen unsere Bilder entreißen wollen. Wenn es das Ziel der Poesie ist, die Ideen bis zu dem Punkt herauszuarbeiten, wo jedermann sie sehen und empfinden kann, dann muss der Dichter unaufhörlich die Leiter der menschlichen Begabungen auf und ab steigen, um ihnen allen Genüge zu tun; er muss die Logik und das Gefühl, zwei feindliche Gewalten, unter den lebhaftesten Farben verbergen; er muss eine ganze Welt von Gedanken in ein Wort einschließen, ganze Philosophien in ein Bild zusammenziehen; kurz, seine Verse sind Samenkörner, deren Blüten in den Herzen aufsprießen müssen, indem sie dort die Furchen aufsuchen, die die persönlichen Erlebnisse und Gefühle gegraben haben. Muss man nicht alles empfunden haben, um alles wiedergeben zu können? Und heißt nicht lebhaft empfinden so viel wie leiden? Darum entstehen die Dichtungen erst nach mühsamen Reisen in den weiten Gebieten des Gedankens und der Gesellschaft. Sind es nicht unsterbliche Mühen, denen wir Gestalten verdanken, deren Leben ein wirklicheres geworden ist als das von Menschen, die wahrhaft gelebt haben. Gestalten wie die Clarissa von Richardson, die Kamilla von Chénier, die Delia des Tibull, die Angelika des Ariost, die Francesca des Dante, die Alceste von Molière, der Figaro von Beaumarchais, die Rebekka von Walter Scott, der Don Quijote von Cervantes?«
»Und was werden Sie uns so schaffen?« fragte Châtelet.
»Solche Schöpfungen vorher ankündigen,« antwortete Lucien, »hieße das nicht, sich ein Patent als Genie ausstellen? Und überdies, diese himmlischen Schöpfungen verlangen eine lange Erfahrung in der Welt, ein Studium der Leidenschaften und der menschlichen Interessen, die mir noch fehlen müssen; aber ich fange an«, sagte er bitter und warf einen Rächerblick auf den Kreis. »Der Geist trägt sein Kind lange bei sich, bis...«
»Sie werden eine schwere Niederkunft haben«, unterbrach ihn Herr du Hautoy.
»Ihre treffliche Mutter kann Ihnen beistehen«, sagte der Bischof.
Dieses so geschickt vorbereitete Wort, diese Rache, auf die man gewartet hatte, ließ in allen Augen einen Strahl der Freude aufleuchten. Auf alle Lippen kam ein Lächeln der aristokratischen Genugtuung, das durch die Albernheit Herrn von Bargetons, der nachträglich zu lachen anfing, verstärkt wurde.
»Monseigneur, Sie sprechen in diesem Augenblick ein wenig zu geistlich für uns, die Damen hier verstehen Sie nicht«, sagte Frau von Bargeton und ließ durch dieses einzige Wort das Lächeln verschwinden; alle blickten sie erstaunt an. »Ein Dichter, der alle seine Eingebungen in der Bibel findet, hat in der Kirche eine wahre Mutter. Herr von Rubempré, sprechen Sie uns Ihren ›Johannes auf Patmos‹ oder ›Das Festmahl des Balthasar‹; Monseigneur wird da sehen, dass Rom noch immer die Magna Parens des Vlrgil ist.«
Die Frauen tauschten ein Lächeln aus, als sie Naïs diese zwei lateinischen Worte aussprechen hörten.
Im Beginn des Lebens können die stolzesten und tapfersten Charaktere der Entmutigung nicht immer entgehen. Dieser Streich hatte Lucien zuerst wie in die Tiefe untergetaucht; aber er stieß mit dem Fuß auf den Grund, kam wieder nach oben und schwor sich, über diese Welt Herr zu werden. Wie der Stier, der von tausend Pfeilen getroffen ist, erhob er sich wütend und gehorchte der Stimme seiner Louise, um »Johannes auf Patmos« zu deklamieren; aber die meisten Spieltische hatten ihre Spieler angezogen, die in ihr gewohntes Geleise zurückfielen, in dem sie ein Vergnügen fanden, das die Poesie ihnen nicht gegeben hatte. Dann wäre auch die Rache ihrer gereizten Eigenliebe keine völlige gewesen, wenn man nicht dieser heimischen Poesie negative Missachtung bezeigt und von Lucien und Frau von Bargeton abgefallen wäre. Jeder schien etwas anderes zu tun zu haben: einer musste mit dem Präfekten über eine Kreisstraße sprechen, eine andere begann davon zu reden, man könnte in die Unterhaltung des Abends Abwechslung bringen und ein wenig Musik machen. Die vornehme Gesellschaft von Angoulême, die sich auf dem Gebiet der Poesie schlecht bewandert fühlte, war besonders neugierig, die Meinung der Rastignac und der Pimentel über Lucien zu erfahren, und mehrere Personen begaben sich zu ihnen. Der große Einfluss, den diese beiden Familien im Departement ausübten, wurde in großen Augenblicken immer anerkannt; jeder beneidete sie und jeder machte ihnen den Hof, denn alle sahen sie voraus, dass sie ihre Protektion einmal nötig haben könnten.
»Wie finden Sie unsern Dichter und seine Poesie?« fragte Jacques die Marquise, bei der er oft zur Jagd gewesen war.
»Aber für Provinzverse sind sie nicht schlecht,« sagte sie lächelnd; »überdies kann ein so schöner Dichter nichts schlecht machen.«
Jeder fand dieses Urteil entzückend und wiederholte es, wobei sie mehr Bosheit hineinlegten, als die Marquise beabsichtigt hatte. Châtelet wurde nunmehr gebeten, Herrn von Bartas zu begleiten, der die große Arie des Figaro verhunzte. Nachdem die Musik einmal hereingelassen worden war, musste man sich die Ritterromanze von Châtelet vorsingen lassen, die Chateaubriand in der Kaiserzeit verfasst hatte. Dann kamen die Stücke zu vier Händen, die auf Verlangen der Frau von Brossard, welche nachher das Talent ihrer lieben Kamilla in den Augen des Herrn von Séverac leuchten lassen wollte, von jungen Mädchen vorgetragen wurden.
Frau von Bargeton war über die Geringschätzung verletzt, die die ganze Gesellschaft ihrem Dichter gegenüber zum Ausdruck brachte, und setzte Verachtung gegen Verachtung: sie ging, solange man musizierte, in ihr Boudoir. Ihr folgte der Bischof, den sein Generalvikar über die tiefe Ironie seines unfreiwilligen Witzes aufgeklärt hatte und der sie wieder gutmachen wollte. Fräulein von Rastignac schlich sich ohne Wissen ihrer Mutter, von der Poesie angezogen, ebenfalls in das Boudoir. Louise konnte, als sie sich auf das Kanapee setzte, zu dem sie Lucien geführt hatte, ohne gehört oder gesehen zu werden, ihm ins Ohr flüstern: »Süßer Freund, sie haben dich nicht begriffen! Aber ›dein Lied ist süß, es klingt mir noch im Ohr‹.«
Lucien war von dieser Schmeichelei getröstet und vergaß für einen Augenblick seine Schmerzen.
»Es gibt keinen billigen Ruhm«, so sprach Frau von Bargeton, die seine Hand ergriff und sie drückte, ihm zu. »Leiden Sie, leiden Sie, mein Freund, Sie werden groß werden, Ihre Schmerzen sind der Preis Ihrer Unsterblichkeit. Ich wollte, ich hätte die Mühen eines Kampfes zu überstehen. Gott behüte Sie vor einem schlaffen und kampflosen Leben, wo die Schwingen des Adlers nicht Raum genug finden! Ich beneide Sie um Ihre Leiden, denn Sie leben wenigstens! Sie werden Ihre Kräfte zur Geltung bringen. Sie erhoffen den Sieg: Ihr Kampf wird glorreich sein. Wenn Sie in dem herrlichen Reich angelangt sind, wo die großen Geister thronen, dann erinnern Sie sich der Armen, die vom Schicksal enterbt sind, deren Geist unter dem Druck moralischer Stickluft vernichtet wird und die zugrunde gehen mit dem beständigen Wissen um das Leben, ohne dass sie doch hätten leben können, die scharfe, durchdringende Augen gehabt und doch nichts gesehen haben, einen feinen Geruchssinn und doch keinen Duft empfunden haben als von verpesteten Blüten. Besingen Sie alsdann in Ihrer Dichtung die Pflanze, die inmitten eines Waldes vertrocknet, erstickt von Lianen, von wuchernden Schmarotzerpflanzen, ohne dass die Sonne sie gekost hätte, die stirbt, ohne geblüht zu haben! Wäre das nicht ein Gedicht von grausiger Melancholie, ein ganz und gar phantastischer Stoff? Was für ein himmlisches Bild, die Zeichnung eines jungen Mädchens, das unter dem Himmel Asiens geboren wurde, oder der Tochter der Wüste, die in irgendein kaltes Land des Okzidents verpflanzt wurde und nach ihrer geliebten Sonne ruft, die an Schmerzen stirbt, die niemand begreift, und in gleicher Weise von der Kälte und von der Liebe vernichtet wird! Das wäre der Typus so gar manchen Menschendaseins.«
»Sie würden dann die Seele beschreiben, die sich des Himmels erinnert«, sagte der Bischof. »Übrigens muss dieses Gedicht früher einmal gemacht worden sein, ich habe mit Freude ein Fragment davon im Hohenliede gefunden.«
»Das müssen Sie machen«, sagte Laura von Rastignac und brachte mit diesen Worten einen naiven Glauben an Luciens Genie zum Ausdruck.
»Es fehlt Frankreich ein großes religiöses Gedicht«, sagte der Bischof. »Glauben Sie mir, auf den Mann von Talent, der für die Religion arbeitet, warten Ruhm und Reichtum.«
»Er wird es machen, Monseigneur,« entgegnete Frau von Bargeton emphatisch. »Sehen Sie nicht, wie die Idee dieses Gedichts schon wie ein flammendes Morgenrot in seinen Augen aufblitzt?«
»Naïs behandelt uns schlecht,« sagte Fifine; »was macht sie denn?«
»Hören Sie nicht?« entgegnete Stanislaus; »sie reitet auf ihren großen Worten, die nicht Kopf noch Schwanz haben.«
Amélie, Fifine, Adrian und Francis erschienen in der Tür des Boudoirs. Sie hatten sich Frau von Rastignac angeschlossen, die ihre Tochter suchte, da sie wegfahren wollte.
»Naïs,« sagten die beiden Frauen, die sich freuten, dass sie die Abgeschiedenheit des Boudoirs störten, »es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie uns ein Stück spielten.«
»Meine Liebe,« antwortete Frau von Bargeton, »Herr von Rubempré will uns seinen ›Johannes auf Patmos‹ rezitieren, ein prächtiges biblisches Gedicht.«
»Biblisch?« wiederholte Fifine erstaunt.
Amélie und Fifine kehrten in den Salon zurück und brachten dieses Wort dahin als neuen Stoff für den Spott. Lucien entschuldigte sich, er könne das Gedicht nicht rezitieren, da er es nicht auswendig wisse. Als er wieder erschien, erregte er nicht mehr das geringste Interesse. Alle plauderten oder spielten. Der Dichter war aller seiner Strahlen beraubt worden; die Grundbesitzer sahen in ihm nichts, was irgend nützlich sein könnte; die Prätentiösen fürchteten ihn als eine Macht, die gegen ihre Unwissenheit feindlich auftrat; die Frauen, die auf Frau von Bargeton, die Beatrice dieses neuen Dante, wie der Generalvikar sie genannt hatte, eifersüchtig waren, warfen ihm Blicke voll kalter Verachtung zu.
»Das ist also die große Welt!« sagte Lucien zu sich selbst, als er über die Treppen von Beaulieu nach Houmeau hinabstieg, denn es gibt im Leben Augenblicke, wo man den längeren Weg vorzieht, um im Gehen sich seinen Gedanken zu überlassen.
Lucien war nicht entmutigt, im Gegenteil, die Wut des Ehrgeizigen, der eine Niederlage erlitten hat, gab ihm neue Kräfte. Wie alle Leute, die von ihrem Trieb in eine höhere Sphäre geführt werden, wo sie anlangen, ehe sie sich halten können, versprach er sich, alles zu opfern, um in der hohen Gesellschaft festen Fuß zu fassen. Während er ging, entfernte er die Giftpfeile, die auf ihn abgeschossen worden waren, einen nach dem andern, sprach laut mit sich selbst, fand große Worte gegen die Dummköpfe, mit denen er zu tun gehabt, feine Antworten auf die dummen Fragen, die man ihm gestellt, und war verzweifelt über diesen seinen Treppenwitz. Als er auf der Straße nach Bordeaux angekommen war, die sich über den Ufern der Charente am Fuß des Berges hinschlängelt, glaubte er im Mondschein Eva und David in der Nähe einer Fabrik auf einem Balken am Ufer sitzen zu sehen und stieg auf einem Fußpfad zu ihnen hinab.
Während Lucien sich zu seiner Folter bei Frau von Bargeton begeben hatte, hatte seine Schwester ein Kleid aus gestreiftem rosa Perkal, ihren genähten Strohhut und einen kleinen Seidenschal angetan. In diesem einfachen Anzug nahm sie sich aus, als ob sie geschmückt wäre, wie es allen Frauen geht, deren angeborene Hoheit die geringsten Zutaten hervorhebt. Daher war David überaus verschüchtert, als sie jetzt so anders vor ihn hintrat, als bisher in ihrem einfachen Arbeitsgewand. Der Drucker hatte sich zwar vorgenommen, von sich zu sprechen, fand aber nichts mehr zu sagen, als er der schönen Eva den Arm reichte und sie zusammen durch Houmeau gingen. Es gibt in der Liebe häufig diese respektvolle Furcht, die jener gleicht, in die die Herrlichkeit Gottes die Gläubigen versetzt. Schweigend überschritten die beiden Liebenden die St. Annabrücke, um das linke Ufer der Charente zu gewinnen. Eva, der das Schweigen peinlich war, blieb mitten auf der Brücke stehen, um den Fluss zu betrachten, der von dieser Stelle bis zu dem Platz, wo die Pulvermühle erbaut war, eine breite, ruhige Fläche bildet, über die jetzt die untergehende Sonne einen leuchtenden Lichtstreifen warf.
»Welch schöner Abend!« sagte sie, nach einem Gesprächsstoff suchend; »die Luft ist zugleich lau und frisch. Die Blumen duften, der Himmel ist wunderbar.«
»Alles redet zum Herzen,« antwortete David, der mit Hilfe von Analogien auf das Thema seiner Liebe zu kommen hoffte. »Liebende finden ein unendliches Vergnügen darin, in den Bildern einer Landschaft, in der durchsichtigen Luft, in den Düften des Bodens die Poesie zu finden, die ihre Seele erfüllt. Die Natur redet für sie.«
»Und sie löst ihnen auch die Zunge«, sagte Eva lachend. »Sie waren, als wir durch Houmeau gingen, so schweigsam. Es war mir ganz peinlich...«
»Ich fand Sie so schön, dass ich beklommen war«, antwortete David naiv.
»Da bin ich also jetzt weniger schön?« fragte sie.
»Nein, aber ich bin so glücklich, allein mit Ihnen spazieren zu gehen...«
In größter Verlegenheit unterbrach er sich und blickte nach den Hügeln hinüber, über die sich die Straße von Saintes hinabzieht.
»Wenn Sie an diesem Spaziergang Freude haben, bin ich glücklich, denn ich fühlte die Verpflichtung, Ihnen für den Abend, den Sie mir geopfert haben, einen andern zu schenken. Als Sie es zurückwiesen, zu Frau von Bargeton zu gehen, waren Sie ganz ebenso edelmütig wie Lucien, als er es auf sich nahm, sie mit seiner Forderung zu erzürnen.«
»Nicht edelmütig, sondern klug«, antwortete David. »Da wir allein sind, nur den Himmel über uns, ohne andere Zeugen als das Schilf und die Büsche am Ufer der Charente, gestatten Sie mir, liebe Eva, Ihnen von den Sorgen zu sprechen, die mir der Weg macht, den Lucien jetzt schreitet. Nach dem, was ich Ihnen eben gesagt habe, werden Ihnen meine Befürchtungen hoffentlich als übergroße Freundschaftssorge erscheinen. Sie und Ihre Mutter haben alles getan, um ihn über die Lage, in der Sie sich befinden, hinauszuheben,– aber haben Sie ihn nicht, als Sie so seinen Ehrgeiz erregten, unbedachterweise auf einen Weg gebracht, auf dem ihn große Leiden erwarten? Wie wird er sich in der Welt halten können, in die seine Neigung ihn hineintreibt? Ich kenne ihn! Er hat eine Natur, die die mühelose Ernte liebt. Die Pflichten der Gesellschaft werden ihm seine Zeit stehlen, und die Zeit ist das einzige Kapital der Menschen, deren ganzes Vermögen in ihrem Geist besteht; er liebt zu glänzen, die Welt wird seine Begierden reizen, keine Summe wird groß genug für sie sein, er wird Geld ausgeben und keins verdienen; schließlich haben Sie ihn daran gewöhnt, sich für einen großen Mann zu halten; aber die Welt verlangt weithin sichtbare Erfolge, ehe sie Größe irgendeiner Art anerkennt. Die literarischen Erfolge nun werden nur in der Einsamkeit und in schwerer Arbeit errungen. Was wird Frau von Bargeton Ihrem Bruder zum Ersatz für so viele Tage geben, die er zu ihren Füßen liegt? Lucien ist zu stolz, um von ihr etwas anzunehmen, und wir wissen, er ist noch zu arm, um dauernd in dieser Gesellschaft zu leben, die in zwiefachem Sinne kostspielig ist. Früher oder später wird diese Frau unsern lieben Bruder verlassen, nachdem sie ihm die Lust zur Arbeit genommen hat, nachdem sie in ihm den Hang zum Luxus, die Verachtung unseres schlichten Lebens, die Genuss-Sucht, seinen Hang zum Nichtstun, diese Gefahr aller Dichter, ausgebildet hat. Ja fürwahr, ich zittere, dass diese große Dame sich mit Lucien nur wie mit einem Spielball ein Vergnügen macht: entweder liebt sie ihn aufrichtig und bringt ihn dazu, dass er alles vergisst, oder sie liebt ihn nicht und macht ihn unglücklich, denn er ist wahnsinnig in sie verliebt.«
»Mir wird wie Eis im Herzen, wenn Sie so reden«, sagte Eva und blieb am Wehr der Charente stehen. »Aber solange meine Mutter die Kraft hat, ihrem schweren Beruf nachzugehen, und solange ich lebe, wird der Ertrag unserer Arbeit vielleicht für die Ausgaben Luciens genügen und es ihm möglich machen, den Augenblick abzuwarten, wo sein Glück beginnt. Mir wird der Mut nicht ausgehen, denn der Gedanke, dass ich für einen geliebten Menschen arbeite,« fuhr Eva lebhafter fort, »nimmt der Arbeit alle Bitterkeit und alles, was sie sonst wohl ermüdend macht. Ich bin glücklich, wenn ich daran denke, für wen ich mir so viel Mühe mache, wenn es überhaupt Mühe ist. Ja, fürchten Sie nichts, wir werden genug Geld verdienen, damit Lucien in die große Welt gehen kann. Dort ist für ihn das Glück.«
»Und sein Verderben dazu«, erwiderte David. »Hören Sie mich, liebe Eva. Das langsame Werden der Geisteswerke erfordert, dass man über ein beträchtliches Vermögen verfügt oder den erhabenen Zynismus besitzt, der zu einem Leben voll Arbeit gehört. Glauben Sie mir! Lucien hat einen solchen Abscheu vor den Entbehrungen des Elends, er hat den Duft der Gelage, den Weihrauch des Erfolgs schon so genossen, seine Eigenliebe ist in dem Boudoir der Frau von Bargeton so gewachsen, dass er eher alles versuchen wird, als jetzt noch Schiffbruch zu leiden, und die Erträge Ihrer Arbeit werden für seine Bedürfnisse nie hinreichen.«
»Sie sind also nur ein falscher Freund!« rief Eva in Verzweiflung, »sonst würden Sie uns nicht so entmutigen.«
»Eva! Eva!« antwortete David, »ich wollte, ich wäre der Bruder Luciens. Sie allein können mir diesen Namen geben, der es ihm erlaubt, alles von mir anzunehmen, und der mir das Recht gäbe, mich ihm mit der heiligen Liebe zu widmen, die Sie in Ihre Opfertaten legen, aber doch dabei die kühle Ruhe der Überlegung zu bewahren. Eva, teures, geliebtes Kind, sorgen Sie dafür, dass Lucien einen Schatz hat, aus dem er schöpfen kann, ohne sich zu schämen! Wird die Börse eines Bruders nicht so gut wie seine eigene sein? Wenn Sie alle Gedanken kennten, auf die Luciens neue Lage mich gebracht hat! Wenn er zu Frau von Bargeton gehen will, darf der arme Junge nicht mehr mein Faktor sein, er darf nicht mehr in Houmeau wohnen, Sie dürfen nicht mehr Arbeiterin bleiben, Ihre Mutter darf ihrem Beruf nicht mehr nachgehen. Wenn Sie einwilligen, meine Frau zu werden, dann wird alles gehen: Lucien kann bei mir im ersten Stock wohnen, während ich für ihn über dem Schuppen im Hofe ein Gelass baue, wenn nicht mein Vater einen zweiten Stock errichten will. Wir würden ihm so ein sorgenloses Leben, ein Leben der Unabhängigkeit schaffen. Mein Verlangen, Lucien zu helfen, wird mir neuen Mut geben, ein Vermögen zu erringen, den ich nicht hätte, wenn es sich nur um mich handelte; aber von Ihnen hängt es ab, mir das Recht zu all diesen Opfern zu geben. Vielleicht geht er eines Tages nach Paris, wo der einzige Schauplatz ist, auf dem er sich zeigen kann, auf dem seine Talente gewürdigt und belohnt werden. Das Pariser Leben ist teuer, und wir drei werden nicht zuviel sein, um ihn dort über Wasser zu halten. Und brauchen nicht überdies Sie und Ihre Mutter einen Beistand! Teure Eva, heiraten Sie mich aus Liebe für Lucien. Vielleicht lieben Sie mich später, wenn Sie die Anstrengungen sehen, die ich mache, um ihm zu dienen und Sie glücklich zu machen. Wir sind alle beide bescheiden in unsern Ansprüchen ans Leben, wir brauchen nicht viel; das Glück Luciens wird der Angelpunkt unseres Daseins sein und sein Herz der Schatz, dem wir Glück, Gefühl und Sinn, dem wir alles weihen!«
»Das Herkommen trennt uns«, sagte Eva, die mit Bewegung gewahrte, wie seine große Liebe sich klein machte. »Sie sind reich, und ich bin arm. Man muss sehr lieben, um über eine solche Schranke hinwegzukommen.«
»Sie lieben mich also noch nicht genug«, rief David wie außer sich.
»Aber Ihr Vater würde vielleicht Einspruch erheben...«
»Dann ist’s gut,« antwortete David, »wenn nur mein Vater im Wege steht, werden Sie meine Frau. Eva, teure Eva, jetzt in diesem Augenblick machen Sie mir das Leben wieder leicht zu tragen. Ach, mir war das Herz sehr schwer von Gefühlen, die ich gar nicht ausdrücken konnte. Sagen Sie mir nur, dass Sie mich ein bisschen lieben, dann finde ich schon den Mut, Ihnen alles zu sagen.«
»In Wahrheit,« sagte sie, »Sie machen mich ganz beschämt; aber da wir uns unsere Gefühle anvertrauen, muss ich Ihnen sagen, dass ich nie im Leben an einen andern gedacht habe als an Sie. Ich habe in Ihnen einen der Männer gesehen, auf die die Frau, die ihnen angehört, stolz sein kann, und ich hätte für mich, eine arme Arbeiterin ohne Aussichten, nie solch ein großes Los erhofft.«
»Genug, genug«, sagte er und setzte sich auf das Geländer des Wehrs, zu dem sie zurückgekehrt waren, denn sie gingen wie Narren immer auf derselben Stelle hin und her. »Was haben Sie?»fragte sie und legte zum erstenmal in den Ton ihrer Worte die anmutige Sorge, die die Frauen für einen Menschen an den Tag legen, der der ihre ist. »Nur Gutes«, antwortete er. »Wenn der Geist ein ganzes Leben voller Glück vor sich liegen sieht, ist er wie geblendet, und die Seele ist wie bedrückt. Warum bin ich der glücklichste Mensch?« fragte er fast melancholisch. »Aber ich weiß warum.«
Eva sah David mit koketter und zweifelnder Miene an, die von ihm eine Erklärung verlangte.
»Teure Eva, ich empfange mehr, als ich gebe. Und ich liebe Sie immer mehr, als Sie mich, weil ich mehr Grund habe, Sie zu lieben: Sie sind ein Engel, und ich bin ein Mensch.«
»Ich kann mich nicht so gut ausdrücken«, antwortete Eva lächelnd. »Ich liebe Sie recht sehr...«
»Ebensosehr wie Lucien?« unterbrach er sie.
»Genug, um Ihre Frau zu sein, um mich Ihnen zu weihen und zu versuchen, Ihnen in dem Leben, das wir zusammen führen werden und das im Anfang recht schwierig sein wird, keinen Kummer zu bereiten.«
»Haben Sie bemerkt, teure Eva, dass ich Sie vom ersten Tag an, wo ich Sie sah, geliebt habe?«
»Was wäre das für eine Frau, die nicht weiß, wenn sie geliebt wird?« fragte sie.
»Lassen Sie mich also die Bedenken, die Ihnen mein angebliches Vermögen macht, zerstreuen. Ich bin arm, liebe Eva. Jawohl, es hat meinem Vater beliebt, mich zu ruinieren; er hat auf meine Arbeit spekuliert; er hat es gemacht wie viele sogenannte Wohltäter mit ihren Schuldnern. Wenn ich reich werde, wird es für Sie sein. Das ist nicht das Wort eines Liebenden, sondern eine Überlegung des Denkenden. Ich muss Sie in meine, an einem Menschen, der die Verpflichtung hat, ein vermögender Mann zu werden, recht großen Fehler einweihen. Mein Charakter, meine Gewohnheiten, die Beschäftigungen, die mir zusagen, machen mich ungeeignet zu allem, was Handel und Spekulation heißt; dabei können wir doch aber nur durch irgendeinen industriellen Betrieb reich werden. Wenn ich imstande bin, eine Goldmine zu entdecken, so bin ich seltsam ungeschickt darin, sie auszubeuten. Sie aber, die aus Liebe zu Ihrem Bruder sich zu den kleinsten Verrichtungen herabgelassen haben, die das Talent der Sparsamkeit, die geduldige Aufmerksamkeit des wahren Kaufmanns besitzen, Sie werden die Ernte heimbringen, die ich säen werde. Unsere Lage, denn seit langem fühle ich mich zu Ihrer Familie gehörig, bedrückt mir so sehr das Herz, dass ich Tage und Nächte darauf verwandt habe, eine Möglichkeit ausfindig zu machen, zu Vermögen zu gelangen. Meine Kenntnisse in der Chemie und die Beobachtung der Bedürfnisse des Handels haben mich auf den Weg zu einer sehr aussichtsreichen Erfindung geführt. Ich kann Ihnen noch nichts davon sagen, ich sehe zu viele Schwierigkeiten voraus. Wir werden vielleicht ein paar dürftige Jahre haben; aber ich werde schließlich das industrielle Verfahren entdecken, hinter dem nicht ich allein her bin und das uns, wenn ich zuerst darauf komme, ein großes Vermögen verschafft. Ich habe zu Lucien nichts gesagt, denn sein heftiger Charakter würde alles verderben; er würde meine Hoffnungen zu Wirklichkeiten münzen, würde in großem Stil leben und sich vielleicht in Schulden stürzen. Bewahren Sie also mein Geheimnis. Einzig Ihre liebe, süße Gesellschaft wird mich während dieser langen Zeit der Prüfungen trösten können, wie das Verlangen, Sie reich zu machen, Sie und Lucien, mir Beständigkeit und zähe Ausdauer verleihen wird...«
»Ich habe mir schon gedacht,« unterbrach ihn Eva, »dass Sie, wie mein armer Vater; einer der Erfinder sind, die eine Frau brauchen, die für Sie sorgt.«
»Sie lieben mich also? Oh, sagen Sie es mir ohne Furcht, sagen Sie es mir, der ich schon in Ihrem Namen ein Symbol Ihrer Liebe gefunden habe. Eva war die einzige Frau auf der Welt, und was für Adam wörtlich wahr gewesen ist, trifft moralisch für mich zu. O Gott! Lieben Sie mich?«
»Ja«, sagte sie und dehnte diese kurze Silbe so, wie sie sie aussprach, als ob sie damit die Größe ihres Gefühls zum Ausdruck bringen wollte.
»Setzen wir uns hier hin«, sagte er und führte Eva an der Hand zu einem langen Balken, der bei den Rädern einer Papiermühle lag. »Lassen Sie mich die Abendluft atmen, das Quaken der Frösche hören, die Strahlen des Mondes sehen, die im Wasser zittern, lassen Sie mich diese Natur in mich aufnehmen, wo ich in allen Dingen mein Glück lese, die mir zum erstenmal in ihrem Glanze erscheint, erhellt von der Liebe, von Ihnen verschönt. Eva, Geliebte, das ist der erste Augenblick ungemischter Freude, den das Schicksal mir schenkt! Ich glaube nicht, dass Lucien so glücklich ist, wie ich es bin.«
David ließ auf die feuchte, zitternde Hand Evas, die er in der seinen hielt, eine Träne fallen.
»Darf ich das Geheimnis nicht wissen?« fragte Eva mit schmeichelnder Stimme.
»Sie haben ein Anrecht darauf, denn Ihr Vater hat sich mit der Frage beschäftigt, die von großer Bedeutung werden wird. Hören Sie den Zusammenhang. Der Sturz des Kaiserreichs wird den Gebrauch baumwollener Stoffe fast allgemein machen, weil dieser Stoff im Vergleich zur Leinwand sehr billig ist. Bis jetzt ist das Papier aus Lumpen, die aus Hanf und Flachs gewebt sind, hergestellt worden; aber diese Bestandteile sind teuer, und der hohe Preis verzögert den großen Aufschwung, den die französische Presse notwendig nehmen muss. Nun lässt sich das zur Verfügung stehende Quantum Lumpen nicht steigern. Die Lumpen sind das Ergebnis des Verbrauchs an Leinwand, und die Bevölkerung eines Landes liefert davon nur eine bestimmte Menge. Diese Menge kann nur anwachsen durch eine Bevölkerungszunahme. Um eine merkbare Veränderung seiner Bevölkerung zu erwirken, braucht ein Land ein Vierteljahrhundert und große Revolutionen in den Sitten, im Handel oder in der Landwirtschaft. Wenn also die Bedürfnisse der Papierfabrikation das Quantum Lumpen, das Frankreich produziert, übersteigen, sagen wir ums Doppelte oder ums Dreifache, so muss man, wenn der Papierpreis niedrig bleiben soll, in die Papierfabrikation zu den Lumpen hinzu einen neuen Faktor einführen. Diese Beweisführung beruht auf einer Tatsache, die hier bei uns vor sich geht. Die Papiermühlen von Angoulême, die letzten, in denen Papiere aus leinenen Lumpen hergestellt werden, müssen erleben, wie die Baumwolle in erschreckend steigendem Maße ins Zeug eindringen wird.«
Auf eine Frage der jungen Arbeiterin, die nicht wusste, was dieses Wort ›Zeug‹ bedeuten sollte, gab ihr David Aufklärungen über die Papierfabrikation, die in einem Werke, dessen stoffliche Existenz dem Papier und der Presse zu verdanken ist, nicht unangebracht sind; aber diese lange Parenthese in einem Gespräch zwischen einem Liebenden und einer Geliebten gewinnt ohne Zweifel, wenn sie hier abgekürzt wird.
Das Papier, ein Produkt, das nicht weniger wunderbar ist als das Druckverfahren, dem es zur Grundlage dient, existierte seit langem in China, als es durch die unterirdischen Kanäle des Handels nach Kleinasien gelangte, wo man nach einigen Überlieferungen um das Jahr 750 ein Papier benutzte, das aus kleingebrochener und zu Brei gemachter Baumwolle hergestellt war. Die Notwendigkeit, einen Ersatz für das Pergament zu finden, dessen Preis außerordentlich hoch war, führte durch eine Nachahmung des Bombyxpapiers – so nannte man das orientalische Baumwollpapier – zur Erfindung des Lumpenpapiers, und zwar wurde diese Erfindung nach einer Nachricht im Jahre 1170 in Basel von griechischen Flüchtlingen gemacht, nach einer andern Nachricht im Jahre 1310 in Padua von einem Italiener namens Pax. So vervollkommnete sich das Papier langsam und ohne dass wir viel davon wissen; aber es ist sicher, dass man schon unter Karl VI. in Paris den Papierbrei (das sogenannte »Zeug«) für Kartenspiele herstellte. Als die unsterblichen Fust, Coster und Gutenberg die Buchdruckerkunst erfunden hatten, passten Handwerker, die, wie so viele Künstler dieser Epoche, unbekannt blieben, die Papierfabrikation den Bedürfnissen des Buchdruckers an. In diesem so kraftvollen, naiven fünfzehnten Jahrhundert trugen die Namen der verschiedenen Papierformate, ebenso wie die Namen, die man den Schriftgattungen gab, den naiven Stempel der Zeit. So bekamen das Traubenpapier, das Jesuspapier, das Kolombierpapier, das Topfpapier, das Schildpapier, das Muschelpapier, das Kronenpapier ihre Namen von der Traube, vom Bild des Heilands, vom Topf, vom Schild, kurz, von dem Wasserzeichen in der Mitte des Bogens, wie man später unter Napoleon einen Adler als Wasserzeichen benutzte, woher das Papier in großem Landkartenformat grand aigle (großer Adler) genannt wird. Ebenso nannte man die Schriftgattungen Cicero, Augustin, gros canon (großen Kanon) nach liturgischen Büchern, theologischen Werken und den Abhandlungen Ciceros, zu denen diese Schriften zum erstenmal verwendet wurden. Was man in Frankreich Italique nennt (die Kursivschrift), wurde von den Aldi in Venedig erfunden: daher der Name. Vor der Erfindung des mechanisch hergestellten Papiers, dessen Länge ohne Grenzen ist, waren die größten Formate grand jésus und grand colombier, und dieses letzte diente kaum zu etwas anderem als zu Atlanten und Stichen. In der Tat waren die Dimensionen des Druckpapiers von dem Umfang der Presseplatte abhängig. Zu der Zeit, wo David sprach, wäre die Existenz des fortlaufenden Papiers in Frankreich als Schimäre erschienen, obwohl schon Denis Robert d'Essonne gegen 1799 zu seiner Herstellung eine Maschine erfunden hatte, die später Didot-Saint-Léger zu verbessern versuchte. Das Velinpapier, das Ambroise Didot erfunden hat, stammt erst aus dem Jahre 1780. Dieser rasche Überblick zeigt unwidersprechlich, dass alle großen Errungenschaften der Industrie und der Kenntnisse mit außerordentlicher Langsamkeit und durch unmerkliche Häufungen genau wie ein geologischer oder sonst ein Naturprozess vor sich gegangen sind. Um zu ihrer Vollkommenheit zu gelangen, hat die Schrift – vielleicht auch die Sprache – dieselben Tastversuche machen müssen wie die Buchdruckerkunst und die Papierfabrikation.
»Lumpensammler suchen in ganz Europa die Lumpen, die alte Leinwand zusammen und kaufen die Überbleibsel jeder Art von Geweben«, sagte der Buchdrucker zum Schluss seiner Auseinandersetzung. »Diese Überbleibsel, die je nach dem Gewebe sortiert werden, werden bei den Lumpenhändlern en gros aufgestapelt, und diese versorgen die Papiermühlen. Um Ihnen einen Begriff von diesem Handel zu geben, will ich Ihnen sagen, dass im Jahre 1814 der Bankier Cardon, der Eigentümer der Bütten von Buges und Langlée, wo Léorier de l'Isle schon 1776 sich an der Lösung des Problems versuchte, mit dem sich Ihr Vater beschäftigte, einen Prozess mit einem gewissen Proust hatte, weil sich in seine Rechnung über zehn Millionen Pfund gelieferte Lumpen ein Gewichtsirrtum von zwei Millionen eingeschlichen hatte; es handelte sich in diesem Prozess um Beträge von annähernd vier Millionen Franken. Der Fabrikant wäscht seine Lumpen und verwandelt sie in einen klaren Brei, der, genau wie eine Köchin ihre Sauce durch ein Sieb gehen lässt, durch einen eisernen, die »Form« genannten Rahmen durchgetrieben wird, welcher innen aus einem Metall besteht, in dessen Mitte sich die Zeichenlettern befinden, die dem Papier den Namen mitgeben. Von der Größe dieser Form hängt nun also die Papiergröße ab. In der Zeit, wo ich bei Didot war, beschäftigte man sich schon mit dieser Frage, und man beschäftigt sich noch damit, denn die Verbesserung, die Ihr Vater gesucht hat, ist eine der gebieterischen Notwendigkeiten unserer Zeit. Hören Sie die Gründe. Obgleich die Dauerhaftigkeit des Leinenfadens im Vergleich mit der Baumwolle schließlich die Leinwand billiger macht, geben die Armen, da es sich für sie immer darum handelt, ob sie ihrer Tasche eine bestimmte Summe entnehmen können, lieber weniger als mehr aus und erleiden auf Grund desVae victis! enorme Verluste. Die Bürgerklasse verfährt genau so wie der Arme. Daher wird die Leinwand immer seltener. In England, wo die Baumwolle bei vier Fünfteln der Bevölkerung die Leinwand verdrängt hat, fabriziert man schon nur noch Papier aus Baumwolle. Dieses Papier, das zunächst den Nachteil hat, dass es leicht brüchig wird und reißt, löst sich so schnell im Wasser auf, dass ein Buch aus Baumwollpapier nur eine Viertelstunde darin bleiben müsste, um zu Brei zu werden, während ein altes Buch noch nicht ruiniert wäre, wenn es zwei Stunden darin bliebe. Man ließe das alte Buch trocknen, und obwohl es vergilbt und verwischt wäre, könnte man den Text noch lesen, und das Werk wäre nicht zerstört. Wir nähern uns einer Zeit, wo die Vermögen sich ausgleichen und also kleiner werden, wo alle ärmer werden; wir werden billiger Wäsche und billiger Bücher bedürfen, wie man anfängt, kleine Bilder haben zu wollen, weil man keinen Raum mehr hat, um die großen zu hängen. Die Hemden und die Bücher werden nicht mehr von Dauer sein, das ist alles. Die Solidität der Erzeugnisse verschwindet allenthalben. So ist also das Problem, das zu lösen steht, von der größten Bedeutung für die Literatur, die Wissenschaften und die Politik. Es gab eines Tages in meinem Arbeitszimmer eine lebhafte Diskussion über die Bestandteile, die man in China zur Herstellung des Papiers verwendet. Dort hat, dank den Rohstoffen, die Papierfabrikation von Anfang an eine Vollendung erreicht, die wir bei uns nicht kennen. Man beschäftigte sich damals mit dem Chinapapier, das durch seine Leichtigkeit und Reinheit dem unsern sehr überlegen ist, denn diese wertvollen Eigenschaften benehmen ihm nicht die Festigkeit, und so dünn es auch ist, scheint es in keiner Weise durch. Ein sehr kenntnisreicher Korrektor – in Paris trifft man unter den Korrektoren Gelehrte: Fourier und Pierre Leroux sind in diesem Augenblick Korrektoren bei Lachevardière! ... – also, der Graf von St. Simon, der damals gerade Korrektor war, trat während dieser Diskussion zu uns. Er sagte uns, dass nach Kempfer und du Halde die Brussonatia den Chinesen den Stoff zu ihrem Papier lieferte, das, wie das unsere übrigens auch, ganz pflanzlicher Herkunft sei. Ein anderer Korrektor behauptete, das Chinapapier werde hauptsächlich aus einem tierischen Stoff, nämlich der Seide, hergestellt, die es in China so im Überfluss gibt. Es wurde in meiner Anwesenheit eine Wette abgeschlossen. Da die Firma Didot die Druckerei des Instituts ist, war es natürlich, dass die Debatte Mitgliedern dieser gelehrten Versammlung zur Entscheidung vorgelegt wurde. Herr Marcel, der frühere Direktor der kaiserlichen Druckerei, wurde zum Schiedsrichter ernannt und verwies die beiden Korrektoren an den Abbé Grozier, den Bibliothekar am Arsenal. Nach dem Urteil des Abbé Grozier verloren die Korrektoren alle beide ihre Wette. Das Chinapapier wird weder aus Seide noch aus der Brussonatia hergestellt; sein Brei entstammt den zerriebenen Fasern des Bambus. Der Abbé Grozier besaß ein chinesisches Buch, ein zugleich ikonographisches und technologisches Werk, in dem sich zahlreiche Abbildungen befanden, die die Herstellung des Papiers in allen ihren Phasen darstellten, und er zeigte uns eine Wiedergabe von Bambusschäften, wie sie haufenweise in der Ecke einer Papierwerkstatt lagen, die vortrefflich gezeichnet war. Als Lucien mir sagte, Ihr Vater hätte vermöge einer Art Intuition, wie sie den begabten Menschen eigen ist, von einem Mittel eine Ahnung gehabt, wie man die Wäschereste durch einen überaus verbreiteten pflanzlichen Stoff ersetzen könnte, der unmittelbar der Bodenproduktion entnommen werden könnte, wie es die Chinesen machen, wenn sie sich faserhaltiger Stämme bedienen, da habe ich alle Versuche, die meine Vorgänger angestellt hatten, zusammengestellt und mich endlich daran gemacht, die Frage zu studieren. Der Bambus ist eine Art Schilfrohr: naturgemäß dachte ich an die Schilfrohre unseres Landes. Die Handarbeit spielt in China keine Rolle, ein Tag kostet dort drei Sous: daher können die Chinesen ihr Papier, wenn es aus der Form kommt, Bogen für Bogen zwischen heiße Tafeln aus weißem Porzellan bringen, mittels deren sie es pressen und ihm den Glanz, die Leichtigkeit, die Festigkeit, die Seidenglätte geben, die es zum ersten Papier der Welt machen. Nun also gilt es, das chinesische Verfahren durch eine Maschine zu ersetzen. Durch Maschinen gelingt es, das Problem der Billigkeit zu lösen, die in China durch den niedrigen Preis seiner Handarbeit erreicht wird. Wenn es uns gelänge, zu niedrigem Preis Papier von einer ähnlichen Qualität wie das Chinapapier herzustellen, dann verringerten wir das Gewicht und die Dicke der Bücher um mehr als die Hälfte. Ein gebundener Voltaire, der auf unsern Velinpapieren zweieinhalb Zentner wiegt, würde auf Chinapapier kaum einen halben wiegen. Und das wäre sicher eine große Errungenschaft. Die Raumfrage wird sicher in einer Epoche, wo die allgemeine Verkleinerung der Dinge und der Menschen sich auf alles, auch auf ihre Wohnungen erstreckt, für die Bibliotheken immer schwerer zu lösen sein. In Paris werden die großen Paläste, die großen Wohnungen früher oder später eingerissen; es gibt bald keine Vermögen mehr, die mit den Bauten unserer Väter in Einklang stehen. Welche Schande für unsere Zeit, dass sie Bücher herstellt, die nicht von Dauer sind! Noch zehn Jahre, und das holländische Papier, d.h. das aus leinenen Lumpen hergestellte, wird völlig unmöglich sein. Nun also. Ihr Bruder hat mir die Idee mitgeteilt, die Ihr Vater gehabt hat, gewisse faserhaltige Pflanzen für die Herstellung des Papiers zu verwenden; Sie sehen, wenn ich durchdringe, haben Sie Anspruch auf ...«
In diesem Augenblick trat Lucien auf seine Schwester zu und unterbrach David mitten in seinem edelmütigen Anerbieten.
»Ich weiß nicht,« sagte er, »ob ihr diesen Abend schön gefunden habt, für mich war er grausam.«
»Armer Lucien, was ist dir denn zugestoßen?« fragte Eva, als sie die erregte Miene ihres Bruders bemerkte.
Der aufgebrachte Dichter berichtete, was er alles ausgestanden hatte, und warf die flutenden Gedanken, die ihn bestürmten, in ihre teilnehmenden Herzen. Eva und David hörten Lucien schweigend zu. Traurig ließen sie diesen Strom von Schmerzen seinen Lauf nehmen, der so viel Größe und so viel Kleinheit offenbarte.
»Herr von Bargeton«, sagte Lucien, als er fertig war, »ist ein alter Mann, der ohne Frage bald irgendeiner Verdauungsstörung erliegt; alsdann werde ich diese stolze Welt beherrschen; dann heirate ich Frau von Bargeton! Ich habe heute Abend in ihren Augen eine Liebe gelesen, die nicht hinter meiner zurückbleibt. Sie hat meine Wunden mitempfunden, sie hat meine Qualen besänftigt; sie ist so groß und edel, wie sie schön und anmutig ist! Nein, sie wird mich niemals verraten!«
»Ist es nicht Zeit, ihm eine ruhige Existenz zu schaffen?« fragte David leise seine Eva.
Eva drückte schweigend Davids Arm, der verstand, was sie meinte, und sich beeilte, Lucien die Pläne zu erzählen, die er geschmiedet hatte. Die beiden Liebenden waren ebenso mit sich selber beschäftigt, wie es Lucien war, so kam es, dass Eva und David, denen es nach einer sofortigen Zustimmung zu ihrem Glück verlangte, die Bewegung der Überraschung gar nicht bemerkten, die dem Liebhaber der Frau von Bargeton unwillkürlich entschlüpfte, als er von der beabsichtigten Verehelichung seiner Schwester und Davids hörte. Lucien, der davon geträumt hatte, er würde seiner Schwester einen vornehmen Gatten verschaffen, wenn er in die Höhe gekommen wäre, um seinen Ehrgeiz mit dem Interesse zu stützen, das eine mächtige Familie ihm brächte, war sehr herabgestimmt, seinen Erfolgen in der Welt mit diesem Bunde ein neues Hindernis sich entgegenstellen zu sehen.
»Frau von Bargeton kann einwilligen, Frau von Rubempré zu werden, aber niemals wird sie die Schwägerin David Séchards sein wollen!«
Dieser Satz kann auf das genaueste die Gedanken bezeichnen, die das Herz Luciens folterten.
»Louise hat recht, Menschen, die eine Zukunft haben, werden niemals von ihrer Familie verstanden«, dachte er bitter.
Hätte man ihm diesen Herzensbund in einem Augenblick mitgeteilt, wo er nicht gerade in der Phantasie damit beschäftigt gewesen wäre, Herrn von Bargeton umzubringen, hätte er ohne Frage seine lebhafteste Freude bezeigt. Er hätte an seine gegenwärtige Lage gedacht, hätte das Los eines Mädchens in Betracht gezogen, das schön und vermögenslos war, das Los Eva Chardons, und hätte diese Ehe für ein unverhofftes Glück gehalten. Aber er weilte in einem der goldenen Träume, in denen die Jünglinge auf hohem »Wenn« alle Schranken nahmen. Eben noch hatte er sich als den Herrscher der Gesellschaft gesehen; und nun war es dem Dichter schmerzlich, so schnell wieder in die Wirklichkeit zurückzufallen. Eva und David dachten, ihr Bruder wäre von so viel Edelmut erschüttert und schwiege darum. Für diese beiden schönen Seelen bewies eine schweigende Zustimmung die wahre Freundschaft. Der Buchdrucker fing an, mit sanfter und herzlicher Beredsamkeit das Glück auszumalen, das sie alle vier erwartete. Ohne sich von den Zwischenrufen Evas stören zu lassen, richtete er seinen ersten Stock mit der Verschwendung eines Liebenden ein; er baute mit gläubiger Zuversicht das zweite Stockwerk für Lucien und das Geschoß über dem Schuppen für Frau Chardon, gegen die er alle liebevolle Sorgfalt kindlicher Fürsorge üben wollte. Kurz, er machte die Familie so glücklich und seinen Bruder so unabhängig, dass Lucien von Davids Stimme und dem schmeichelnden Wesen Evas bezaubert wurde und im Dunkel der Bäume auf dem Weg an der ruhig fließenden, schimmernden Charente unter dem Sternengewölbe und in der lauen Nachtluft die schmerzhafte Dornenkrone vergaß, die die Gesellschaft ihm aufs Haupt gesetzt hatte. Herr von Rubempré erkannte endlich David. Die Beweglichkeit seines Wesens führte ihn bald wieder in das reine, arbeitsame und bürgerliche Leben, das er geführt hatte, zurück; er sah es verschönt und sorgenlos. Der Lärm der aristokratischen Welt wich mehr und mehr hinter ihm zurück. Und schließlich drückte unser Ehrgeiziger, als er das Pflaster von Houmeau betreten hatte, die Hand seines Bruders und gab dem Bunde der glücklichen Liebenden seine Zustimmung.
»Vorausgesetzt, dass dein Vater nicht gegen diese Ehe ist!« sagte er zu David.
»Du weißt, wie wenig er sich um mich kümmert! Der alte Herr lebt für sich; aber ich will ihn morgen in Marsac besuchen, und wenn es nur wäre, um ihn dazu zu bringen, dass er den Umbau bewerkstelligt, den wir brauchen.«
David begleitete den Bruder und die Schwester zu Frau Chardon, die er mit der Dringlichkeit eines Mannes, der es eilig hat, um Evas Hand bat. Die Mutter nahm die Hand ihrer Tochter, legte sie freudig in die Davids, und der Liebende fasste Mut und küsste seine schöne Verlobte, die ihm errötend zulächelte, auf die Stirn.
»So sehen die Verlobungen der Armen aus«, sagte die Mutter und hob die Augen zum Himmel, wie um den Segen Gottes zu erflehen. – »Du hast Mut, mein Sohn,« wandte sie sich zu David, »denn wir sind im Elend, und ich fürchte, dass es ansteckend ist.«
»Wir werden reich und glücklich sein«, sagte David ernst. »Zunächst werden Sie Ihren Beruf als Krankenpflegerin aufgeben und mit Ihrer Tochter und Lucien in Angoulême wohnen.«
Die drei Kinder beeilten sich nun, ihrer erstaunten Mutter ihren reizenden Plan zu erzählen, und sie überließen sich einer von den begeisterten Familienplaudereien, wo man im voraus alle Ernten einbringt und alle Freuden vorwegnimmt. David musste vor die Tür gesetzt werden; er hätte gewünscht, dieser Abend nähme kein Ende. Es schlug ein Uhr, als Lucien seinen künftigen Schwager bis zum Palet-Tor zurückgeleitete. Der wackere Postel, den diese ungewöhnliche Lebhaftigkeit unruhig machte, stand hinter seiner Jalousie; er hatte das Fenster geöffnet und sagte bei sich selbst, als er zu dieser Stunde bei Eva Licht sah:
»Was ist denn bei Chardons los?«
»Junge,« rief er, als er Lucien zurückkehren sah, »was ist denn mit euch? Braucht ihr mich vielleicht?«
»Nein,« antwortete der Dichter; »aber da Sie unser Freund sind, kann ich Ihnen die Sache sagen: meine Mutter hat David Séchard die Hand meiner Schwester versprochen.«
Statt jeder Antwort schloss Postel heftig sein Fenster. Er war verzweifelt, dass er nicht um Fräulein Chardon angehalten hatte.
David kehrte nicht nach Angoulême zurück. Er schlug die Straße nach Marsac ein. Er schlenderte langsam zu seinem Vater hinaus und erreichte den Weinberg, der an das Haus grenzte, in dem Augenblick, als die Sonne aufging. Unser Liebender bemerkte den Kopf des alten Bären über eine Hecke hinweg unter einem Mandelbaum.
»Guten Morgen, Vater!« sagte David zu ihm. »Was! du bist das, Junge? Wie kommst du zu dieser Stunde auf die Landstraße? Tritt hier ein«, sagte der Winzer und wies seinem Sohn eine kleine Gittertür. »Meine Reben haben alle abgeblüht, keine hat Frost abbekommen! Es gibt dies Jahr mehr als zwanzig Ohm auf den Morgen. Aber wie das auch gedüngt ist!«
»Vater, ich muss mit dir von einer wichtigen Sache sprechen.«
»Nun, was machen unsere Pressen? Du musst klotziges Geld verdienen.«
»Ich werde es verdienen, Vater, aber gegenwärtig bin ich nicht reich.«
»Sie tadeln mich hier alle, dass ich so viel dünge«, entgegnete der Vater. »Die Bourgeois, d. h. der Herr Marquis, der Herr Graf, der Herr Soundso behaupten, ich nähme dem Wein die Qualität. Nun hör mal zu! Diese Herren ernten sieben, manchmal auch acht Stückfässer auf den Morgen und verkaufen sie zu sechzig Franken das Stück, das macht also in den guten Jahren höchstens vierhundert Franken auf den Morgen. Ich gewinne zwanzig Stück und verkaufe sie zu dreißig Franken, in Summa sechshundert Franken. Wer ist nun der Dummkopf? Die Qualität! die Qualität! Was liegt mir an der Qualität! Die können sie meinetwegen für sich behalten, ihre Qualität, die Herren Grafen! Für mich sind die Taler die Qualität! Was sagst du?...«
»Vater, ich verheirate mich. Ich wollte dich fragen...«
»Mich fragen? Was! Nicht im geringsten, mein Junge. Verheirate dich, ich stimme zu; aber geben kann ich dir nichts, ich habe keinen Heller. Die Gebühren haben mich ruiniert! Seit zwei Jahren habe ich Gebühren, Steuern, Auflagen aller Art zu zahlen; die Regierung nimmt alles. Der größte Teil des Vermögens wandert zur Regierung! Seit zwei Jahren haben die armen Winzer nichts verdient. Dieses Jahr lässt sich nicht übel an, aber meine verfluchten Ohmfässer kosten schon elf Franken das Stück. Die Ernte wird für den Böttcher sein. Warum willst du vor der Weinlese heiraten?«
»Vater, ich wollte nur um deine Zustimmung bitten.«
»Ah, das ist eine andere Sache! Ich bin nicht neugierig, aber wen heiratest du?«
»Ich heirate Fräulein Eva Chardon.«
»Was ist das für eine? Wovon lebt sie?«
»Sie ist die Tochter des verstorbenen Herrn Chardon, des Apothekers von Houmeau.«
»Du heiratest eine Tochter des Houmeau, du, ein Bürgersmann, du, der Buchdrucker des Königs in Angoulême? Das sind die Früchte der Erziehung! Darum lässt man seine Kinder studieren! So! Sie ist also sehr reich, mein Söhnchen?« sagte der alte Winzer und trat mit schmeichelnden Mienen näher an seinen Sohn heran; »denn wenn du eine Tochter des Houmeau heiratest, muss sie einen schönen Batzen haben! Schön! Du wirst mir meine Miete bezahlen. Weißt du, mein Junge, dass du nun zweieinviertel Jahr die Miete schuldig bist? Das macht zweitausendsiebenhundert Franken, die mir sehr gelegen kämen, um den Böttcher zu bezahlen. Von jedem anderen, als meinem Sohn, hätte ich das Recht, Zinsen zu verlangen, denn schließlich, Geschäft ist Geschäft; aber ich erlasse sie dir. Nun also, was hat sie?«
»Sie hat, was meine Mutter hatte.«
Der alte Winzer wollte ausrufen: »Sie hat nur zehntausend Franken!« Aber er erinnerte sich, dass er seinem Sohn keine Rechnung gelegt hatte, und rief:
»Sie hat nichts!«
»Das Vermögen meiner Mutter war ihre Klugheit und ihre Schönheit.«
»Geh auf den Markt damit und sieh, was du dafür bekommst! Heiliges Donnerwetter! Was haben die Väter für ein Pech mit ihren Kindern! David, als ich mich verheiratet habe, war mein ganzes Vermögen eine papierene Zipfelmütze auf dem Kopf und meine beiden Arme; ich war ein armer Bär; aber mit der schönen Druckerei, die ich dir geschenkt habe, mit deiner Betriebsamkeit und deinen Kenntnissen musst du eine Städterin heiraten, die dreißig-, vierzigtausend Franken hat. Steck deine Liebschaft auf, und ich will dich selber verheiraten! Wir haben eine Meile von hier eine Witwe von zweiunddreißig Jahren, eine Müllersfrau, die für hunderttausend Franken Land hat; das ist 'ne Sache für dich. Du kannst ihre Güter mit denen von Marsac verbinden, sie grenzen aneinander! Ach! was für ein schönes Anwesen hätten wir und wie würde ich es verwalten! Man sagt, sie will sich mit Courtois, ihrem ersten Gesellen, verheiraten. Du bist noch mehr wert als er! Ich würde die Mühle führen, während sie in Angoulême die Dame spielen könnte.«
»Vater, ich bin verlobt...«
»David, du verstehst nichts vom Geschäft; ich sehe, du ruinierst dich. Jawohl, wenn du dich mit dieser Tochter des Houmeau verheiratest, werde ich streng auf deine Verpflichtungen sehen, ich werde verlangen, dass du mir meine Miete zahlst; denn mir ahnt nichts Gutes. Oh! meine armen Pressen, meine Pressen! Was für ein Geld hat es gekostet, euch zu ölen, euch instand zu halten und euch laufen zu lassen. Nur ein gutes Jahr kann mich darüber trösten.«
»Vater, mir scheint, bis jetzt hab ich dir wenig Kummer gemacht...«
»Und sehr wenig Miete bezahlt»«, antwortete der Winzer. »Ich wollte dich außer deiner Zustimmung zu meiner Verehelichung bitten, mir den zweiten Stock dieses Hauses und über dem Schuppen noch ein Gelass bauen zu lassen.«
»Prost die Mahlzeit, ich habe keinen Heller, das weißt du. Überdies wäre das gerade, als wollte ich das Geld ins Wasser werfen! Ah! du stehst früh am Morgen auf, um Bauereien von mir zu verlangen, die einen König ruinieren könnten. Wenn man dich schon David genannt hat, habe ich doch nicht die Schätze des Königs Salomon. Du bist ja verrückt! Man hat mir das Kind in der Wiege vertauscht. Da sieh mal, was die für Trauben bringen wird!« unterbrach er sich, um David eine Rebe zu zeigen. »Das sind Kinder, die die Hoffnung ihrer Eltern nicht trügen: man gibt ihnen Dung, und sie tragen. Aber dich habe ich aufs Lyzeum geschickt, enorme Summen habe ich zu deiner Ausbildung ausgegeben, ich schickte dich zu Didot, damit du alles lernst, und was ist das Ende vom Lied? Du bringst mir eine Schwiegertochter aus dem Houmeau, ohne einen Pfennig Mitgift! Hätte ich dich nicht studieren lassen, wärst du unter meinen Augen geblieben, dann führtest du dich nach meinem Wunsch auf und nähmest jetzt eine Müllerin mit hunderttausend Franken zur Frau, die Mühle nicht gerechnet. Ah! dient dein Witz zu nichts weiter, als dass du glaubst, ich werde dich für deine schönen Gefühle belohnen und dir Paläste bauen?... Aber wird man nicht wahrhaftig sagen, das Haus, in dem du wohnst, hätte seit zweihundert Jahren nur Schweine beherbergt, und deine Tochter des Houmeau könnte sich dort nicht ins Bett legen. Ah, sieh mal an! Sie ist wohl die Königin Frankreichs?«
»Schon gut, Vater, ich werde den zweiten Stock auf meine Kosten bauen, der Sohn wird den Vater bereichern. Das ist zwar die verkehrte Welt, aber es kommt manchmal vor.«
»Wie! mein Söhnchen, du hast Geld zum Bauen, und du hast keins, um die Miete zu bezahlen? Spitzbube! du betrügst deinen Vater.«
Diese Frage war schwer zu beantworten, und der Alte war entzückt, seinen Sohn in eine Verlegenheit zu bringen, die es ihm möglich machte, ihm nichts zu geben und doch dabei nicht unväterlich zu erscheinen. Daher konnte David von seinem Vater lediglich die einfache Zustimmung zu seiner Verehelichung und die Erlaubnis erlangen, auf seine eigenen Kosten in dem väterlichen Hause alle Umbauten vornehmen zu lassen, die ihm nötig schienen. Der alte Bär, dieses Muster eines konservativen Vaters, war so gnädig gegen seinen Sohn, dass er die Miete noch stundete und ihm nicht die Ersparnisse nahm, die er unklugerweise hatte sehen lassen. David kehrte traurig heim: er sah ein, dass er im Unglück nicht auf den Beistand seines Vaters rechnen konnte.
In ganz Angoulême war von nichts anderem die Rede als von dem Wort des Bischofs und der Antwort der Frau von Bargeton. Die geringsten Vorfälle wurden so entstellt, übertrieben und ausgeschmückt, dass unser Dichter der Held des Tages wurde. Aus der obern Sphäre, in der dieses Unwetter des Klatsches und der Lästerungen tobte, fielen auch einige Tropfen für das Bürgertum ab. Als Lucien durch Beaulieu ging, um Frau von Bargeton zu besuchen, merkte er die neidische Aufmerksamkeit, mit der ein paar junge Leute ihn betrachteten, und fing einige Sätze auf, die ihn stolz machten.
»Ein glücklicher junger Mann«, sagte ein Anwaltsschreiber namens Petit-Claud, ein früherer Schulkamerad Luciens, der hässlich war und dem gegenüber er gern eine gewisse Gönnermiene aufsetzte. »Ja gewiss, er ist hübsch, er hat Talent, und Frau von Bargeton ist verliebt in ihn«, antwortete ein junger Herr, der bei der Vorlesung dabei gewesen war.
Er hatte ungeduldig die Stunde erwartet, zu der er Louise allein treffen konnte; er hatte den Wunsch, von dieser Frau, die die Richterin über all seine Schicksale geworden war, die Zustimmung zur Verheiratung seiner Schwester zu erlangen. Nach diesem Abend wäre Louise vielleicht zärtlicher, dachte er, und diese Zärtlichkeit könnte eine glückliche Stunde zur Folge haben. Er hatte sich nicht getäuscht: Frau von Bargeton empfing ihn mit einem Gefühlsüberschwang, der diesem Neuling in der Liebe als eine ergreifende Steigerung ihrer Leidenschaft vorkam. Sie überließ ihre schönen goldenen Haare, ihre Hände, ihren Kopf den flammenden Küssen des Dichters, der am Abend vorher so viel hatte leiden müssen.
»Wenn du dein Gesicht gesehen hättest, während du lasest,« sagte sie – denn sie waren am Abend vorher, in dem Augenblick, als Louise auf dem Kanapee mit ihrer weißen Hand die Schweißtropfen weggewischt hatte, die im voraus Perlen auf die Stirn setzten, auf die sie eine Krone drücken wollte, dazu gelangt, »du« zueinander zu sagen – »es sprühten Funken aus deinen schönen Augen! Ich sah die goldenen Ketten aus deinem Munde hängen, die die Herzen an die Lippen des Dichters fesseln. Du wirst mir den ganzen Chénier vorlesen, er ist der Dichter der Liebenden. Du wirst nicht mehr leiden, ich will es nicht! Ja, mein Süßer, ich werde dir eine Oase schaffen, wo du dein ganzes Dichterdasein verbringen kannst wie du willst, bald tätig, bald lässig, untätig, arbeitsam oder sinnend; aber vergiss nie, dass du deine Lorbeeren mir verdankst, dass das für mich die edle Entschädigung für die Leiden ist, die mir nicht erspart bleiben werden. Armer, teurer Freund, diese Welt wird mich so wenig schonen wie dich, sie rächt sich für alles Glück, an dem sie nicht teilhat. Jawohl, man wird immer auf mich eifersüchtig sein; hast du es nicht gestern gesehen, sind nicht diese blutgierigen Schmeißfliegen schnell genug herangeflogen, um sich von den Stichen vollzusaugen, die sie dir beibrachten? Aber ich war glücklich, ich habe gelebt! Wie lange haben die Saiten meines Herzens nicht mehr einen solchen Vollklang gegeben!«
Tränen rannen über Louisens Wangen; Lucien ergriff ihre Hand und drückte statt aller Antwort einen langen Kuss darauf. So wurde der Eitelkeit dieses Dichters von dieser Frau geschmeichelt, wie es seine Mutter, seine Schwester und David getan hatten. Alle Menschen seiner Umgebung fuhren fort, das nur in der Phantasie bestehende Postament zu erhöhen, auf dem er thronte. Von aller Welt, von seinen Freunden wie von der Wut seiner Feinde, in seinen ehrgeizigen Vorstellungen bestärkt, wandelte er in einer Luft dahin, die voller Wahngebilde war. Die Phantasie junger Menschen ist naturgemäß so sehr der Mitschuldige solcher Lobeserhebungen und Ideen, alles beeilt sich so sehr, einem schönen, zukunftsreichen jungen Menschen zu dienen, dass es mehr als einer bittern und erkältenden Lektion bedarf, um solches Blendwerk zu verscheuchen.
»Meine schöne Louise, du willst also meine Beatrice sein, aber eine Beatrice, die sich lieben lässt?«
Sie hob ihre schönen Augen, die sie gesenkt gehalten hatte, und sagte mit einem himmlischen Lächeln, das ihre Worte Lügen strafte:
»Wenn du es verdienst... später! Bist du nicht glücklich? Ein Herz sein eigen nennen, alles sagen können, mit der Sicherheit, verstanden zu werden – ist das nicht Glück?«
»Ja«, antwortete er und verzog das Gesicht wie ein gekränkter Liebhaber. »Kind!« sagte sie scherzend. »Nun, du hattest mir doch etwas zu sagen. Du warst mit etwas beschäftigt, als du eintratst, mein Lucien.«
Lucien vertraute seiner Geliebten schüchtern die Liebe Davids zu seiner Schwester, die seiner Schwester zu David an und sprach von der beabsichtigten Heirat.
»Armer Lucien,« sagte sie, »er hat Angst, er könnte geschlagen oder gescholten werden, wie wenn er selbst sich verheiraten wollte! Aber was ist daran Schlimmes?« fügte sie hinzu und fuhr mit ihren Händen durch Luciens Haar. »Was kümmert mich deine Familie, wo du eine Ausnahme bist? Wenn mein Vater seine Magd heiratete, würdest du dich viel darum scheren? Liebes Kind, Liebende sind für sich allein ihre ganze Familie. Habe ich ein anderes Interesse in der Welt als meinen Lucien? Werde groß, erobere dir den Ruhm, das allein geht uns an!«
Diese egoistische Antwort machte Lucien zum glücklichsten Menschen auf der Welt. In dem Augenblick, wo er die tollen Gründe hörte, mit denen Louise ihm bewies, dass sie allein auf der Welt wären, trat Herr von Bargeton ein. Lucien runzelte die Stirn und schien verlegen; Louise machte ihm ein Zeichen und bat ihn, bei ihnen zum Essen zu bleiben. Sie sagte, es wäre schön, wenn er ihr André Chénier läse, bis die Spieler und die gewohnten Besucher kämen.
»Sie werden nicht bloß ihr ein Vergnügen damit machen,« sagte Herr von Bargeton, »sondern auch mir. Nichts bringt mich besser in Ordnung, als wenn ich nach dem Essen vorlesen höre.«
Lucien blieb, von Herrn von Bargeton und von Louise mit Auszeichnung behandelt, von den Lakaien mit dem Respekt bedient, den sie für die bevorzugten Freunde des Hauses hatten, im Hotel Bargeton. Mehr und mehr betrachtete er den Genuss eines Vermögens als sein eigen, dessen Nutznießung ihm gestattet war. Als der Salon voller Menschen war, fühlte er sich der Dummheit des Herrn von Bargeton und der Liebe Louisens so sicher, dass er eine herrische Miene annahm, zu der ihn seine schöne Geliebte nur ermutigte. Er genoss die Freuden der Despotie, die Naïs erobert hatte und die sie gern mit ihm teilte. Kurz, er versuchte an diesem Abend die Rolle eines kleinstädtischen Helden zu spielen. Einige unter den Anwesenden dachten, als sie die neue Haltung Luciens bemerkten, er wäre, wie man sich wohl für eine bestimmte Sache ausdrückt, mit Frau von Bargeton schon ganz und gar einig. Amélie, die mit Herrn du Châtelet gekommen war, sprach in einer Ecke des Salons, in der sich die Eifersüchtigen und Neidischen gesammelt hatten, von diesem großen Unglück als einer sichern Sache.
»Machen Sie Naïs nicht für die Eitelkeit eines jungen Menschen verantwortlich, der voller Stolz darauf ist, dass er sich in einer Welt befindet, in die er niemals zu kommen hoffte«, sagte Châtelet. »Sehen Sie nicht, dass dieser Chardon die anmutigen Phrasen einer Weltdame für ein gewisses Entgegenkommen hält? Er kennt noch nicht den Unterschied zwischen der Verschwiegenheit der wahren Leidenschaft und der Beredsamkeit der Protektion, die seine Schönheit, seine Jugend und sein Talent verdienen! Die Frauen wären sehr beklagenswert, wenn sie für alle Wünsche verantwortlich wären, die sie uns einflößen. Er ist sicher verliebt, aber Naïs ...«
»O, Naïs,« erwiderte die boshafte Amélie, »Naïs ist sehr glücklich über diese Leidenschaft. In ihrem Alter hat die Liebe eines jungen Mannes so viel Verführerisches! Man wird bei ihm wieder jung, man macht sich zum jungen Mädchen, man nimmt die Manieren, das ängstlich verlegene Wesen des jungen Mädchens wieder an, und man denkt nicht an die Lächerlichkeit ... Sehen Sie nur an, der Sohn eines Apothekers spielt sich bei Frau von Bargeton als Herr auf!«
»Die Liebe kennt nicht solche Schranken«, trällerte Adrian.
Am nächsten Tag gab es kein einziges Haus in Angoulême, in dem man nicht von der großen Intimität zwischen Herrn Chardon, alias von Rubempré, und Frau von Bargeton sprach: sie, die kaum ein paar Küsse getauscht hatten, wurden von der Welt schon des sträflichsten Glückes bezichtigt. Frau von Bargeton erntete nun die Strafe für ihre Stellung als Königin von Angoulême. Zum Seltsamsten in den Absonderlichkeiten der Gesellschaft gehören diese ihre launenhaften Urteile und ihre verrückten Anforderungen. Es gibt Menschen, denen alles erlaubt ist: sie können die unvernünftigsten Dinge machen, ihnen steht alles wohl an; alle beeifern sich, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Aber es gibt andere, gegen die die Welt unglaublich streng ist: die müssen alles recht machen, dürfen sich nie täuschen, nie einen Fehler machen, nicht einmal eine Dummheit begehen; man könnte sie für bewunderte Statuen halten, die man von ihrem Postament nimmt, sowie der Frost ihnen einen Finger oder die Nase beschädigt hat; man gestattet ihnen nichts Menschliches, sie sind verpflichtet, immer göttlich und vollkommen zu sein. Ein einziger Blick, den Frau von Bargeton Lucien zuwarf, galt da ebensoviel wie die zwölf Jahre Liebesglück zwischen Zizine und Francis. Ein Händedruck zwischen den beiden Liebenden zog alle Blitzstrahlen der Charente auf sie herab. David hatte aus Paris geheime Ersparnisse mitgebracht, die er für die Kosten, die die Hochzeit erforderte, und für den Aufbau des zweiten Stockwerks des väterlichen Hauses bestimmte. Dieses Haus vergrößern, hieß doch für sich selbst arbeiten. Früher oder später musste es ihm anheimfallen; sein Vater war achtundsiebzig Jahre alt. Der Buchdrucker ließ also die Wohnung Luciens aus Fachwerk errichten, um die alten Mauern des rissigen Hauses nicht zu überlasten. Es machte ihm Freude, die Wohnung im ersten Stock, wo die schöne Eva ihr Leben verbringen sollte, artig einzurichten und zu schmücken. Es war für die beiden Freunde eine Zeit ungetrübter Heiterkeit und Freude. Lucien war wohl der erbärmlichen Verhältnisse des Provinzdaseins müde und hatte die schmutzige Knickrigkeit satt, die aus einem Hundertsousstück eine enorme Summe machte, aber er ertrug doch, ohne zu klagen, die sorglichen Überlegungen der Armut und ihre Entbehrungen. Seine düstere Melancholie war dem strahlenden Ausdruck der Hoffnung gewichen. Er sah über seinem Haupte einen Stern strahlen, er träumte von einem schönen Dasein und pflanzte sein Glück auf dem Grabe des Herrn von Bargeton auf, der es von Zeit zu Zeit mit schweren Verdauungsstörungen und der glücklichen Manier hatte, die Unbehaglichkeiten nach dem Mittagessen für eine Krankheit zu halten, die man mit denen nach dem Abendessen kurieren müsste.
Anfang September war Lucien kein Faktor mehr, er war Herr von Rubempré und wohnte, im Vergleich mit der elenden Dachkammer, in der der kleine Chardon in Houmeau gehaust hatte, ganz prächtig, er war nicht mehr einer aus Houmeau, er bewohnte die Oberstadt Angoulême und speiste nahezu viermal wöchentlich bei Frau von Bargeton. Monseigneur hatte eine Freundschaft für ihn gefasst, und er fand Zutritt im Bischofspalast. Seiner Beschäftigung nach gehörte er zum Rang der höchstgestellten Personen. Schließlich musste er eines Tages unter die Berühmtheiten Frankreichs aufgenommen werden. Gewiss, wenn er seinen hübschen Salon, sein reizendes Schlafzimmer und sein sehr geschmackvolles Studierzimmer betrachtete, konnte er sich darüber trösten, dass er von den so schwer verdienten Löhnen seiner Schwester und seiner Mutter dreißig Franken monatlich nahm; denn er sah den Tag kommen, wo der historische Roman, an dem er seit zwei Jahren schrieb, »Der Bogenschütze Karls IX.«, und ein Band Gedichte, der »Die Margueriten« heißen sollte, seinen Namen in der literarischen Welt bekannt machen und ihm so viel Geld verschaffen sollten, dass er seiner Mutter, seiner Schwester und David das geschuldete Geld zurückzahlen konnte. Er fühlte sich, er hörte von seinem Namen die Zukunft schallen, und so nahm er diese Opfer mit vornehmer Ruhe entgegen: er lächelte über seine Not, fand an der letzten Wende seiner Armut einen Genuss. Eva und David hatten das Glück ihres Bruders ihrem eigenen vorangestellt, die Hochzeit verzögerte sich noch, weil die Handwerker mit den Möbeln, den Malereien, den Tapeten für den ersten Stock noch nicht fertig waren, denn die Sachen für Lucien waren zuerst erledigt worden. Wer Lucien kannte, konnte sich über diese Hingebung nicht wundern: er war so verführerisch! seine Art war so schmeichlerisch! er drückte seine Ungeduld und seine Wünsche so reizend aus! seine Sache war immer gewonnen, bevor er noch den Mund auftat. Diese verhängnisvolle Gabe verdirbt mehr junge Leute, als sie zum Heil ausschlägt. Viele von diesen großen Kindern gewöhnen sich an die Zuvorkommendheit, die man einem angenehmen jugendlichen Äußern entgegenbringt, freuen sich über den egoistischen Schutz, den die Welt jemandem gewährt, der ihr gefällt, wie sie ja auch dem Bettler, der zu ihrem Gefühl spricht, ein Almosen gibt, und sie genießen diese Gunst, anstatt sie nützlich zu verwenden. Sie täuschen sich über den Sinn und die Veränderlichkeit der sozialen Beziehungen und glauben immer, dass ihnen dies trügerische Lächeln werden müsse; aber der Augenblick, wo die Welt sie wie alte Koketten und unbrauchbare Lumpen an der Tür eines Salons und an einem Grenzpfahl verlässt, findet sie nackt, kahl, geplündert, ohne Geld und ohne Vermögen. Eva hatte überdies diesen Aufschub gewünscht, sie wollte alles, was für einen jungen Haushalt notwendig ist, mit möglichster Sparsamkeit einrichten. Was hätten zwei Liebende einem Bruder abschlagen können, der wohl, wenn er seine Schwester arbeiten sah, mit einem Ton, der vom Herzen kam, sagte: »Ich wollte, ich könnte nähen!« Und dann war der ernste, beobachtende David mitschuldig an dieser Opferwilligkeit. Trotzdem betrachtete er seit dem Triumph Luciens bei Frau von Bargeton die Umwandlung, die mit ihm vorging, mit ängstlichen Blicken; er fürchtete, Lucien könnte lernen, die Bürgersitten zu verachten. In dem Wunsch, seinen Bruder auf die Probe zu stellen, brachte David ihn einigemal vor die Wahl zwischen den patriarchalischen Freuden der Familie und den Vergnügungen der großen Welt, und wenn es vorkam, dass Lucien ihnen seine eitlen Genüsse preisgab, hatte er wohl ausgerufen: »Man wird ihn uns nicht verderben!« Mehreremal machten die drei Freunde und Frau Chardon miteinander Ausflüge, wie man sie in der Provinz macht: sie gingen in den Wäldern spazieren, die in der Nähe Angoulêmes am Ufer der Charente sich erstrecken; sie verspeisten ihre Vorräte, die Davids Lehrling zu einer bestimmten Stunde an einen verabredeten Ort gebracht hatte, im Grünen; dann kehrten sie abends ein wenig ermüdet heim und hatten noch keine drei Franken ausgegeben. Wenn es hoch kam, aßen sie in einem ländlichen Gasthaus zu Mittag, das die Mitte hielt zwischen einer Provinzkneipe und einer Pariser Schenke, und brachten es bis zu hundert Sous, die zwischen David und den Chardons verteilt wurden. David rechnete es Lucien sehr hoch an, dass er bei diesen ländlichen Festen die Genüsse vergaß, die er bei Frau von Bargeton und den üppigen Diners der großen Welt zu finden gewohnt war, denn jeder wollte jetzt den großen Mann von Angoulême feiern.
Unter solchen Umständen und in einem Augenblick, wo fast alles für den künftigen Haushalt bereit war – David war nach Marsac gereist, um seinen Vater zu bewegen, der Hochzeit beizuwohnen, da er hoffte, der Alte werde, wenn ihm seine Schwiegertochter gefiele, zu den sehr großen Unkosten des Umbaues etwas beitragen –, ereignete sich eines der Geschehnisse, die in einer Kleinstadt allen Dingen ein anderes Gesicht geben. Lucien und Louise hatten in Châtelet einen geheimen Spion, der mit der Hartnäckigkeit seines Hasses, dem sich Leidenschaft und Habgier gesellen, auf die Gelegenheit lauerte, einen Skandal herbeizuführen. Sixtus wollte Frau von Bargeton zwingen, sich so für Lucien zu kompromittieren, dass sie das werden musste, was man ›verloren‹ nennt. Er benahm sich als schlichter Vertrauter der Frau von Bargeton; aber er bewunderte Lucien nur in der Rue du Minage, überall anderswo riss er ihn herunter. Er war allmählich zu einem recht intimen Verkehr mit Naïs gekommen, die gegen ihren alten Anbeter kein Misstrauen mehr hegte, aber er mutmaßte über den Verkehr der beiden Liebenden zuviel. Ihre Liebe blieb zur großen Verzweiflung Louisens und Luciens platonisch. Es gibt in der Tat Liebesverhältnisse, die gut oder schlecht, wie man will, von Stapel gehen. Zwei Menschen werfen sich auf die Taktik des Gefühlsaustausches, sprechen, anstatt zu handeln, und schlagen sich auf freiem Feld, anstatt eine Belagerung vorzunehmen. So werden sie oft einander überdrüssig, indem sie ihre Sehnsucht ins Leere verpuffen. Zwei Liebende sind dann so weit, dass sie Zeit finden, nachzudenken und sich kritisch zu betrachten. Oft kehren so Leidenschaften, die mit fliegenden Fahnen und in strahlendem Schmuck, mit einer Glut, die alles umwerfen wollte, ins Feld gezogen waren, schließlich ohne Sieg, beschämt, entwaffnet, ärgerlich über ihren leeren Lärm, nach Hause zurück. Dieses Verhängnis erklärt sich manchmal mit der Schüchternheit der Jugend und dem Hinzögern, zu dem Frauen, die Anfängerinnen sind, neigen, denn diese Art gegenseitigen Betrugs passiert weder den erfahrenen Praktikern noch den Koketten, die mit der Leidenschaft umzugehen wissen.
Das Provinzleben steht überdies der Befriedigung der Liebe seltsam feindlich gegenüber und begünstigt in der Leidenschaft die verstandesgemäßen Auseinandersetzungen; und ebenso stürzen die Hindernisse, die es dem süßen Verkehr, der die Liebenden so sehr verbindet, entgegensetzt, die glühenden Seelen in Zwiespalt miteinander. Dieses Leben ist auf eine so ängstliche Spionage begründet, auf eine so große Durchsichtigkeit der Häuser, es erlaubt so wenig eine Intimität, die befriedigt, ohne die Tugend zu verletzen, die reinsten Beziehungen werden so sinnlos bezichtigt, dass viele Frauen entehrt werden, obgleich sie unschuldig sind. Manche unter ihnen werden dann ungehalten, dass sie nicht alle Wonnen eines Fehlers genießen, dessen schlimme Folgen sie alle tragen müssen. Die Gesellschaft, die ohne irgendeine ernsthafte Prüfung die offenkundigen Tatsachen, die langen geheimen Kämpfen ein Ende setzen, tadelt oder kritisiert, ist also ursprünglich mitschuldig an diesen Skandalen; aber die meisten Menschen, die gegen die angeblichen Skandale zetern, an denen zu Unrecht verleumdete Frauen schuld sein sollen, haben nie an die Ursachen gedacht, die sie schließlich zu einer öffentlichen Handlung bringen. Frau von Bargeton sollte in diese verrückte Lage kommen, in die so viele Frauen gekommen sind, die erst Verlorene wurden, nachdem sie ungerecht beschuldigt worden waren.
Beim Beginn einer Leidenschaft schrecken unerfahrene Menschen vor den Hindernissen zurück; und die Hindernisse, die unsere beiden Liebenden vorfanden, glichen sehr den Fesseln, mit denen die Liliputaner den Gulliver geknebelt hatten. Es waren gehäufte Nichtigkeiten, die jede Bewegung unmöglich und die heftigsten Wünsche zunichte machten. So musste zum Beispiel Frau von Bargeton immer gewärtig sein, Besuche zu empfangen. Hätte sie für die Stunden, wo Lucien kam, ihre Tür verschlossen gehalten, dann wäre schon alles aus gewesen, und es wäre ebenso gut gewesen, mit ihm zu entfliehen. Sie empfing ihn in der Tat in dem Boudoir, an das er schon so gewöhnt war, dass er sich als Herr darin vorkam; aber die Türen blieben gewissenhaft offen. Alles ging ganz und gar tugendhaft vor sich. Herr von Bargeton ging in voller Harmlosigkeit hin und her, ohne daran zu denken, seine Frau könnte mit Lucien allein sein wollen. Wäre er das einzige Hindernis gewesen, so hätte ihn Naïs sehr gut wegschicken oder beschäftigen können; aber sie war mit Besuchen überlaufen, und es wurden ihrer um so mehr, je stärker die Neugier sich angestachelt fühlte. Die Menschen in der Provinz sind Spielverderber aus natürlicher Anlage, es macht ihnen Freude, entstehenden Liebesverhältnissen in den Weg zu treten. Die Bedienten gingen im Hause hin und wider, ohne dass man sie gerufen hatte und ohne vorher an die Tür zu klopfen; es waren das alte Gewohnheiten, wie eine Frau, die nichts zu verbergen brauchte, sie angenommen hatte. Wäre an diesen Gepflogenheiten im Hause etwas geändert worden, hätte das nicht ebenso viel besagt, als die Liebe einzugestehen, an der noch ganz Angoulême zweifelte. Frau von Bargeton konnte den Fuß nicht über die Schwelle setzen, ohne dass die Stadt wusste, wohin sie ging. Mit Lucien allein außerhalb der Stadt zu gehen, wäre ein entscheidender Schritt gewesen: es wäre weniger gefährlich gewesen, sich mit ihm bei sich zu Hause einzuschließen. Wenn Lucien nach Mitternacht, wenn keine Gesellschaft mehr zugegen war, bei Frau von Bargeton geblieben wäre, hätte es am nächsten Tage ein Gerede darüber gegeben. So lebte Frau von Bargeton in und außer dem Hause immer in der Öffentlichkeit. Diese Einzelheiten geben ein Bild von der ganzen Provinz: die Fehltritte sind da entweder eingestanden oder unmöglich.
Louise erkannte, wie alle Frauen, die von einer Leidenschaft hingerissen sind, in der sie sich nicht auskennen, nacheinander alle Schwierigkeiten ihrer Lage; sie schreckte davor zurück. Ihre Angst wirkte jetzt auf die Auseinandersetzungen ein, die so oft die schönsten Stunden, in denen zwei Liebende allein beisammen sind, in Anspruch nehmen. Frau von Bargeton besaß keinen Landsitz, auf den sie ihren geliebten Dichter mitnehmen konnte, wie es manche Frauen machen, die sich unter einem geschickt ersonnenen Vorwand auf dem Lande begraben. Sie war es müde, so öffentlich zu leben, fühlte sich aufgerieben von der Tyrannei, deren Joch so hart war, dass die Annehmlichkeiten nicht mehr in Betracht kamen, und dachte an l'Escarbas. Sie erwog, ihren alten Vater dort zu besuchen, so wütend war sie über diese elenden Hindernisse.
Châtelet glaubte nicht an so viel Unschuld. Er lauerte auf die Stunden, in denen Lucien zu Frau von Bargeton kam, und begab sich ein paar Augenblicke später ebenfalls dahin. Er ließ sich immer von Herrn von Chandour begleiten, der der indiskreteste Mensch dieses Klüngels war. Er ließ ihn immer zuerst eintreten und hoffte auf eine Überraschung. Er versteifte sich darauf, dass ihm ein Zufall zu Hilfe kommen werde. Seine Rolle und das Gelingen seines Plans waren um so schwieriger, weil er neutral bleiben musste, um alle die Spieler des Dramas, das er aufführen wollte, zu lenken. Daher hatte er sich, um Lucien, dem er schmeichelte, und Frau von Bargeton, die nicht ohne Scharfblick war, sorglos zu machen, und um sich eine Haltung zu geben, an die eifersüchtige Amélie angeschlossen. Um Louise und Lucien besser ausspionieren zu können, war es ihm seit einigen Tagen gelungen, zwischen sich und Herrn von Chandour eine Meinungsverschiedenheit über die beiden Liebenden zustande zu bringen. Châtelet behauptete, Frau von Bargeton machte sich über Lucien lustig, sie sei zu stolz und von zu guter Herkunft, um zu einem Apothekerssohn herabzusinken. Diese Rolle des Ungläubigen gehörte zu dem Plan, den er geschmiedet hatte, denn er wünschte für den Verteidiger Frau von Bargetons zu gelten. Stanislaus blieb dabei, Lucien wäre kein unglücklicher Liebhaber. Amélie verschärfte die Auseinandersetzung, indem sie den dringenden Wunsch aussprach, die Wahrheit zu erfahren. Jeder führte seine Gründe an. Wie es in kleinen Städten geschieht, traten oft einige intime Freunde des Hauses Chandour gerade während eines Gesprächs ein, in dem Châtelet und Stanislaus um die Wette ihre Meinung mit ausgezeichneten Argumenten vertraten. Es ergab sich wie von selbst, dass jeder von den beiden Gegnern Bundesgenossen suchte und etwa seinen Nachbarn fragte: »Und Sie, was ist Ihre Meinung?« Diese Kontroverse bewirkte es, dass man Frau von Bargeton und Lucien nicht aus den Augen ließ.
Eines Tages endlich bemerkte Châtelet, dass, wenn Herr von Chandour und er Frau von Bargeton besuchten und Lucien da war, niemals irgendein Anzeichen für verdächtige Beziehungen vorhanden sei: die Tür zum Boudoir war immer offen, die Leute kamen und gingen, nichts Geheimnisvolles kündete die reizenden Verbrechen der Liebe usw. Stanislaus, dem es an einem gewissen Quantum Dummheit nicht fehlte, versprach, er wolle am nächsten Tag auf den Fußspitzen sich heranschleichen, und Amélie bestärkte ihn in diesem Vorsatz lebhaft.
Dieser nächste Tag war für Lucien einer von denen, wo junge Menschen sich die Haare ausraufen und sich geloben, der törichten Zeit des Schmachtens endlich ein Ende zu machen. Er hatte sich an seine Lage gewöhnt. Der Dichter, der in dem geheiligten Boudoir der Königin von Angoulême kaum gewagt hatte, sich auf einen Stuhl zu setzen, hatte sich in einen drängenden Liebhaber verwandelt. Sechs Monate hatten genügt, dass er sich Louise ebenbürtig fühlte, und er wollte jetzt ihr Herr sein. Als er von zu Hause wegging, versprach er sich, sehr unvernünftig zu sein, alles daranzusetzen, alle Mittel einer stammenden Beredsamkeit anzuwenden; er wollte sagen, er hätte keinen Kopf mehr, er wäre unfähig, einen Gedanken zu fassen oder eine Zeile zu schreiben. Manche Frauen haben eine schreckliche Angst vor festen Entschlüssen, die ihrem Zartgefühl Ehre macht, sie wollen der Verführung weichen, aber nicht der Konvention. Niemand will einen Genuss, zu dem er gezwungen wird. Frau von Bargeton bemerkte auf Luciens Stirn, in seinen Augen, seiner ganzen Physiognomie und seinem Auftreten das aufgeregte Wesen, das eine feste Entschließung verrät: sie nahm sich vor, sie zu vereiteln, ein wenig aus Widerspruchsgeist, aber auch aus einer edlen Auffassung der Liebe. Als überspannte Frau war sie gewöhnt, ihre Meinung von dem Wert ihrer Person zu überschätzen. In ihren Augen war sie eine Fürstin, eine Beatrice, eine Laura. Sie setzte sich, wie man’s im Mittelalter tat, unter den Baldachin des Dichterturniers, und Lucien durfte sie erst nach etlichen Siegen verdienen; er musste erst das »himmlische Kind«, Lamartine, Walter Scott, Byron überwinden. Die edle Frau betrachtete ihre Liebe wie ein erhabenes Prinzip: die Wünsche, zu denen sie Lucien brachte, mussten ihn antreiben, sich Ruhm zu erwerben. Diese weibliche Donquichotterie ist ein Gefühl, das der Liebe eine ansehnliche Weihe gibt, sie macht sie nutzbringend, groß und ehrenvoll. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, im Leben Luciens sieben oder acht Jahre die Rolle der Dulzinea zu spielen, und wollte, wie viele Frauen der Provinz, ihre Person durch eine Art Leibeigenschaft, durch eine Zeit der Treue erkaufen lassen, die es ihr möglich machte, ihren Freund von Grund aus kennen zu lernen.
Als Lucien den Kampf mit einer der prahlerischen Übertreibungen begonnen hatte, über die die Frauen, die noch frei über sich selbst verfügen, lachen, und die nur die Frauen, die sich hingegeben haben, betrüben, nahm Louise eine würdige Miene an und begann eine ihrer langen, mit pomphaften Worten gespickten Reden.
»Halten Sie so Ihr Versprechen, Lucien?« sagte sie schließlich. »Sie dürfen in eine so süße Gegenwart nicht Gewissensbisse hineinbringen, die später mein Leben vergiften würden. Verderben Sie nicht die Zukunft! und, ich sage es mit Stolz, verderben Sie nicht die Gegenwart! Haben Sie nicht mein ganzes Herz, was fehlt Ihnen denn noch? Lässt sich wirklich Ihre Liebe von den Sinnen beeinflussen, während es das schönste Vorrecht einer geliebten Frau ist, ihnen Ruhe zu gebieten? Wofür halten Sie mich denn? Bin ich nicht mehr Ihre Beatrice? Wenn ich für Sie nicht etwas mehr als ein Weib bin, bin ich weniger als ein Weib.«
»Sie würden zu einem Manne, den Sie nicht lieben, nichts anderes sagen«, rief Lucien wütend. »Wenn Sie keine Empfindung für die wahrhafte Liebe besitzen, die all mein Denken beseelt, werden Sie nie meiner würdig sein.«
»Sie setzen Zweifel in meine Liebe, um der Antwort enthoben zu sein«, sagte Lucien und warf sich ihr schluchzend zu Füßen.
Der arme Bursche weinte allen Ernstes, da er sich auf so lange Zeit aus dem Paradiese ausgeschlossen sah. Es waren Tränen eines Dichters, der sich in seiner Macht gedemütigt glaubte, Tränen eines Kindes, das außer sich gerät, weil man ihm ein Spielzeug, das es begehrt, verweigert.
»Sie haben mich nie geliebt!« rief er.
»Sie glauben nicht, was Sie sagen«, antwortete sie. Sie war glücklich über dieses Ungestüm.
»So beweisen Sie mir doch, dass Sie mir gehören«, rief Lucien, dem die Haare wild ums Gesicht hingen.
In diesem Augenblick war Stanislaus geräuschlos hinzugetreten, sah Lucien halb zu Boden liegend, mit Tränen in den Augen und den Kopf auf Louisens Knie. Von diesem hinreichend verdächtigen Anblick zufriedengestellt, wandte er sich heftig gegen Châtelet um, der an der Tür des Salons stehen geblieben war. Frau von Bargeton stürzte eilends hinaus, aber sie erreichte die beiden Spione nicht mehr, die sich, wie jemand, der nicht gelegen kommt, schleunigst zurückgezogen hatten.
»Wer war denn hier?« fragte sie ihre Leute.
»Die Herren von Chandour und du Châtelet«, antwortete Gentil, ihr alter Kammerdiener.
Bleich und zitternd kehrte sie in ihr Boudoir zurück.
»Wenn sie Sie so gesehen haben, bin ich verloren«, sagte sie zu Lucien.
»Um so besser!« rief der Dichter.
Sie lächelte bei diesem Ausruf des Egoismus, in dem so viel Liebe lag. In der Provinz wird ein solches Abenteuer schlimmer durch die Art, wie es erzählt wird. In einem Augenblick erfuhr alle Welt, Lucien wäre ertappt worden, wie er vor Naïs auf den Knien lag. Herr von Chandour war glücklich über die Wichtigkeit, die ihm diese Sache gab, und beeilte sich zunächst, das große Ereignis im Klub und dann von Haus zu Haus zu erzählen. Châtelet legte Wert darauf, überall zu sagen, er hätte nichts gesehen; aber gerade dadurch, dass er sich so abseits stellte, reizte er Stanislaus zum Sprechen, brachte er ihn dazu, die Einzelheiten zu übertreiben; und Stanislaus, der von sich selber den Eindruck bekam, er sei ein witziger Kopf, fügte bei jedem Wiedererzählen neue Einzelheiten hinzu. Am Abend strömte die ganze Gesellschaft zu Amélie, denn die übertriebensten Versionen zirkulierten schon am Abend in den Adelskreisen Angoulêmes, wo jeder Erzähler dem Beispiel Stanislaus' gefolgt war. Frauen und Männer waren ungeduldig, die Wahrheit zu erfahren. Die von den Frauen, die am meisten die Hände zusammenschlugen und von Skandal und Unzucht schrieen, waren gerade Amélie, Zéphirine, Fifine, Lolotte, die alle mehr oder weniger unerlaubter Freuden schuldig waren. Das grausame Thema wurde in allen Tonarten variiert.
»Ja,« sagte eine, »die arme Naïs! nicht wahr? Ich glaube es nicht, ein ganzes Leben ohne Tadel spricht für sie; sie ist viel zu stolz, um etwas anderes zu sein als die Gönnerin dieses Herrn Chardon. Aber wenn es so ist, beklage ich sie von ganzem Herzen.«
»Sie ist um so mehr zu beklagen, als sie sich schrecklich lächerlich macht; denn sie könnte die Mutter dieses Herrn Lulu sein, wie ihn Jacques genannt hat. Dieses Dichterlein ist höchstens zweiundzwanzig Jahre alt, und Naïs hat, unter uns gesagt, gute vierzig hinter sich.«
»Ich für mein Teil«, sagte Châtelet, »finde, dass gerade die Situation, in der Herr von Rubempré getroffen wurde, Naïs' Unschuld beweist. Man fällt nicht auf die Knie, um zu begehren, was man schon gehabt hat«
»Je nachdem!« sagte Francis mit einem vergnügten Schmunzeln, das ihm von Zéphirine einen missbilligenden Blick eintrug. »Aber sagen Sie uns doch; wie die Sache sich verhält?« fragte man Stanislaus und bildete eine Art Geheimkomitee in einer Ecke des Salons.
Stanislaus hatte schließlich eine kleine Geschichte, die voller verblümter Unanständigkeiten war, zusammengestellt und begleitete sie mit Gesten und Stellungen, die die Sache noch sehr verschlimmerten.
»Das ist unglaublich«, sagte man immer wieder. »Am Mittag?« fragte eine. »Naïs wäre die letzte gewesen, die ich im Verdacht gehabt hätte.«
»Was wird sie beginnen?«
Dann unendliche Kommentare und Vermutungen!... Du Châtelet verteidigte Frau von Bargeton; aber er verteidigte sie so ungeschickt, dass er das Feuer des Klatsches schürte, anstatt es zu löschen. Lili, die untröstlich über den Sturz des schönen Engels auf dem Olymp des Angoumois war, begab sich tränenden Auges in den bischöflichen Palast, um die Nachricht dorthin zu bringen. Als ohne Zweifel schon die ganze Stadt von dem Gerücht erfüllt war, begab sich der glückliche Châtelet zu Frau von Bargeton, wo heute Abend leider nur ein einziger Whisttisch besetzt war. Er bat Naïs in diplomatisch leisem Ton, mit ihr in ihrem Boudoir plaudern zu dürfen. Sie setzten sich beide auf das kleine Kanapee.
»Sie wissen ohne Zweifel,« sagte Châtelet mit gedämpfter Stimme, »womit ganz Angoulême sich beschäftigt?...«
»Nein«, antwortete sie.
»Ich bin«, begann er, »zu sehr Ihr Freund, um Sie darüber im unklaren zu lassen. Ich muss Sie instand setzen, die Verleumdungen zum Schweigen zu bringen, die ohne Frage von Amélie erfunden sind, die die Vermessenheit hat, sich für Ihre Rivalin zu halten. Ich wollte Sie heute morgen zusammen mit diesem Affen Stanislaus besuchen. Er ging einige Schritte voraus, und als er hier angelangt war« – dabei deutete er auf die Boudoirtür –, »behauptet er, habe er Sie mit Herrn von Rubempré in einer Situation gesehen, die ihm nicht erlaubte, einzutreten; er kam ganz verwirrt zu mir zurück und schleppte mich mit sich, ohne mir Zeit zu lassen, zur Besinnung zu kommen; und wir waren schon in Beaulieu, als er mir endlich den Grund zu seiner Flucht mitteilte. Hätte ich eine Ahnung gehabt, wäre ich nicht von hier gewichen, sondern hätte diese Sache zu Ihren Gunsten aufgeklärt; aber, nachdem wir erst fortgegangen waren, noch einmal zurückkehren, hätte nichts mehr bewiesen. Wie die Sache jetzt steht, ob Stanislaus falsch gesehen hat oder ob er recht hat: er muss unrecht haben. Liebe Naïs, lassen Sie nicht Ihr Leben, Ihre Ehre, Ihre Zukunft von einem Dummkopf gefährden; bringen Sie ihn sofort zum Schweigen. Sie wissen, in welcher Lage ich mich hier befinde. Ich bin hier auf alle Welt angewiesen, aber ich stehe völlig zu Ihrer Verfügung. Verfügen Sie über ein Leben, das Ihnen gehört. Wenn Sie auch meine Wünsche zurückgewiesen haben, gehört doch mein Herz immer Ihnen, und bei jeder Gelegenheit werde ich Ihnen beweisen, wie sehr ich Sie liebe. Jawohl, ich werde wie ein treuer Diener über Sie wachen, ohne Hoffnung auf Belohnung, lediglich um des Vergnügens willen, das ich daran finde, Ihnen, selbst wenn Sie es nicht wissen, zu dienen. Ich habe diesen Morgen überall gesagt, dass ich an der Salontür war und nichts gesehen habe. Wenn man Sie fragt, wer Sie von den Reden, die über Sie geführt werden, unterrichtet hat, dann nennen Sie mich. Ich wäre sehr glücklich, Ihr erkorener Verteidiger zu sein, aber unter uns gesagt, ist Herr von Bargeton der einzige, der von Stanislaus Rechenschaft verlangen kann. – Vielleicht hat dieser kleine Rubempré eine Torheit begangen, aber die Ehre einer Frau sollte nicht einem beliebigen Tollkopf ausgeliefert sein, der sich ihr zu Füßen wirft. Das hatte ich zu sagen.«
Naïs dankte Châtelet mit einer Neigung des Kopfes und blieb in Nachdenken versunken. Sie war bis zum Ekel des Provinzlebens überdrüssig. Beim ersten Wort Châtelets hatte sie an Paris gedacht. Das Schweigen der Frau von Bargeton setzte ihren klugen Anbeter in Verlegenheit.
»Verfügen Sie über mich,« sagte er, »ich wiederhole es Ihnen.«
»Danke«, antwortete sie. »Was denken Sie zu tun?«
»Ich werde sehen.« Langes Schweigen. »Lieben Sie denn diesen kleinen Rubempré so sehr?«
Sie lächelte hochmütig, kreuzte die Arme und betrachtete die Vorhänge ihres Boudoirs. Châtelet ging, ohne dieses stolze Frauenherz enträtseln zu können. Als Lucien und die vier getreuen alten Herren, die zu ihrer Kartenpartie eingetroffen waren, ohne sich über diese zweifelhaften Lästerreden aufzuregen, sich wegbegeben hatten, wandte sich Frau von Bargeton an ihren Mann. Er war gerade im Begriff gewesen, schlafen zu gehen, und hatte schon den Mund geöffnet, um seiner Frau gute Nacht zu wünschen.
»Komm mit mir, mein Lieber, ich habe mit dir zu sprechen«, sagte sie mit einer gewissen Feierlichkeit. Herr von Bargeton folgte seiner Frau in das Boudoir. »Mein Lieber,« sagte sie zu ihm, »Ich habe vielleicht unrecht gehabt, in meine Sorge und Protektion für Herrn von Rubempré eine Wärme zu legen, die die dummen Menschen ebenso schlecht verstanden, wie er selbst. Heute morgen hat sich Lucien mir zu Füßen geworfen und fing an, mir eine Liebeserklärung zu machen. Stanislaus trat in dem Moment ein, wo ich den jungen Menschen aufhob. In Missachtung der Pflichten, die die Courtoisie einem Edelmann gegen eine Frau in jeder Lage auferlegt, hat er behauptet, er habe mich in einer zweideutigen Situation mit diesem jungen Menschen überrascht, den ich übrigens behandelte, wie er es verdient. Wenn dieser junge Hitzkopf die Verleumdungen kennte, zu denen seine Torheit Veranlassung gibt, würde er, ich kenne ihn, Stanislaus beschimpfen und ihn zwingen, sich mit ihm zu schlagen. Dieser Schritt käme einem öffentlichen Zugeständnis seiner Liebe gleich. Ich brauche es dir nicht erst zu sagen, dass deine Frau rein ist; aber du wirst der Ansicht sein, es liege für dich und für mich etwas Entehrendes darin, wenn Herr von Rubempré sich zu ihrem Verteidiger aufwirft. Geh also jetzt sofort zu Stanislaus und verlange von ihm ernstliche Genugtuung für die beschimpfenden Reden, die er über mich geführt hat; vergiss nicht: du darfst nicht dulden, dass die Sache beigelegt wird, wenn er nicht in Gegenwart zahlreicher und gewichtiger Zeugen alles zurücknimmt. Du gewinnst auf diese Weise die Achtung aller Ehrenmänner; du benimmst dich als Mann von Geist und Mut, und du hast Anspruch auf meine Achtung. Ich werde Gentil nach l'Escarbas reiten lassen, mein Vater soll dein Zeuge sein. Trotz seines Alters weiß ich, dass er der Mann ist, der diese Puppe zu Boden tritt, die den guten Ruf einer Nègrepelisse anzutasten wagt. Du hast die Wahl der Waffen, schlage dich auf Pistolen, du triffst vorzüglich.«
»Ich gehe hin«, antwortete Herr von Bargeton und nahm Stock und Hut.
»Schön, mein Freund,« sagte seine Frau, »so liebe ich die Männer, du bist ein Edelmann.«
Sie bot ihm ihre Stirn zum Kuss dar, und der alte Mann küsste sie ganz glücklich und stolz. Diese Frau, die eine Art mütterliches Gefühl für dieses große Kind hegte, konnte eine Träne nicht unterdrücken, als sie hörte, wie das Portal sich hinter ihm schloss.
»Wie er mich liebt!« sagte sie zu sich selbst. »Der arme Mann hängt am Leben, und trotzdem würde er es ohne Besinnen für mich hingeben.«
Herr von Bargeton beunruhigte sich weiter nicht darüber, dass er sich am nächsten Tage mit einem Manne schlagen, dass er, ohne zu zucken, die Mündung einer Pistole auf sich gerichtet sehen sollte; nein, nur eine einzige Sache brachte ihn so in Verwirrung, dass er zitterte, als er zu Herrn von Chandour ging.
»Was soll ich sagen?« dachte er, »Naïs hätte mir die Sätze sagen sollen!« Und er zermarterte sich das Hirn, um einige Sätze, die nicht lächerlich wären, zusammenzubringen.
Aber Menschen, die, wie Herr von Bargeton, in einem Schweigen leben, das ihnen die Enge ihres Geistes und ihr beschränkter Gesichtskreis auferlegen, haben in den großen Augenblicken des Lebens eine ganz vollendete Feierlichkeit. Da sie wenig reden, entschlüpfen ihnen natürlich wenig Dummheiten. Und dann denken sie viel über das nach, was sie sagen müssen, und ihr großes Misstrauen gegen sich selbst bringt sie dazu, ihre Reden so wohl vorzubereiten, dass sie sich vermöge eines Vorgangs, der Ähnlichkeit mit dem hat, der Bileams Eselin die Sprache gab, ganz wunderbar ausdrücken. Und so benahm sich Herr von Bargeton wie ein überlegener Mann. Er rechtfertigte die Meinung derer, die ihn für einen Philosophen aus der Schule des Pythagoras hielten. Er trat um elf Uhr abends bei Stanislaus ein und fand da zahlreiche Gesellschaft vor. Er grüßte Amélie schweigend und hielt der ganzen Gesellschaft sein nichtssagendes Lächeln entgegen, das unter den jetzigen Umständen den Eindruck tiefer Ironie machte. Es trat nun ein großes Schweigen ein, wie beim Herannahen eines Gewitters in der Natur. Châtelet, der zurückgekehrt war, sah mit einem bedeutsamen Blick hintereinander Herrn von Bargeton und Stanislaus an, dem sich der beleidigte Gatte höflich näherte.
Châtelet verstand den Sinn eines Besuchs, den der alte Mann zu einer Stunde machte, wo er sonst zu Bett lag: Naïs setzte offenbar diesen schwachen Arm in Bewegung; und da seine Stellung bei Amélie ihm das Recht gab, sich in die Angelegenheiten des Hauses einzumischen, erhob er sich, nahm Herrn von Bargeton beiseite und sagte zu ihm:
»Sie wollen mit Stanislaus sprechen?«
»Ja«, antwortete der Gute, der glücklich war, einen Vermittler zu finden, der vielleicht das Wort für ihn führte. »Gut, gehen Sie in das Schlafzimmer Amélies«, entgegnete ihm der Steuerdirektor. Er war zufrieden mit diesem Duell, das Frau von Bargeton zur Witwe machen konnte und es ihr dann doch unmöglich machte, Lucien, der die Veranlassung zu dem Duell war, zu heiraten. »Stanislaus,« sagte Châtelet zu Herrn von Chandour, »Bargeton kommt ohne Zweifel, um Sie wegen der Reden, die Sie über Naïs geführt haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Kommen Sie ins Zimmer Ihrer Frau und benehmen Sie sich beide als Edelleute. Machen Sie keinen Lärm, seien Sie recht höflich zueinander, beweisen Sie die ganze Kälte britischer Würde.«
Im nächsten Augenblick waren Stanislaus und Châtelet bei Bargeton.
»Mein Herr,« sagte der beleidigte Gatte, »Sie behaupten, Sie hätten Frau von Bargeton mit Herrn von Rubempré in einer zweideutigen Situation getroffen?«
»Mit Herrn Chardon«, erwiderte Stanislaus ironisch, der Bargeton für keinen hervorragenden Kopf hielt.
»Gleichviel,« entgegnete der Gatte; »wenn Sie diese Behauptung nicht vor der Gesellschaft, die in diesem Augenblick bei Ihnen versammelt ist, zurücknehmen, ersuche ich Sie, sich einen Zeugen zu wählen. Mein Schwiegervater, Herr von Nègrepelisse, wird Sie um vier Uhr morgens aufsuchen. Inzwischen kann jeder seine Anordnungen treffen, denn die Sache kann nur in der Weise erledigt werden, die ich eben andeutete. Ich wähle Pistolen, ich bin der Beleidigte.«
Unterwegs hatte Herr von Bargeton diese Ansprache hin und her überlegt. Sie war die längste seines Lebens, er sprach sie völlig leidenschaftslos und mit dem ruhigsten Gesicht von der Welt. Stanislaus wurde blass und fragte sich selbst: »Was habe ich schließlich gesehen?«
Aber zwischen der Schande, seine Worte vor der ganzen Stadt in Anwesenheit dieses Schweigsamen, der keinen Spaß zu verstehen schien, zurückzunehmen, und der Furcht, der grässlichen Furcht, die ihm mit ihren heißen Händen den Hals zuschnürte, wählte er die entferntere Gefahr.
»Gut. Auf morgen«, sagte er zu Herrn von Bargeton und dachte, die Sache könnte inzwischen noch beigelegt werden.
Die drei Männer begaben sich wieder in den Salon zurück, und alle blickten ihnen forschend ins Gesicht: Châtelet lächelte, Herr von Bargeton sah genau so aus, wie wenn er bei sich zu Hause wäre, aber Stanislaus war leichenblass. Bei diesem Anblick errieten einige Frauen den Gegenstand der Aussprache. Die Worte »sie duellieren sich!« gingen von Mund zu Mund. Die Hälfte der Gesellschaft dachte, Stanislaus müsse unrecht haben, seine Blässe und die ganze Art seiner Haltung kündeten eine Lüge an; die andere Hälfte bewunderte die Haltung des Herrn von Bargeton. Châtelet spielte den Feierlichen und Geheimnisvollen. Herr von Bargeton blieb einige Augenblicke und erforschte die Mienen der Anwesenden, dann ging er.
»Haben Sie Pistolen?« fragte Châtelet leise Stanislaus, der von Kopf bis zu Fuß bebte.
Amélie verstand alles und wurde ohnmächtig; die Frauen bemühten sich um sie und trugen sie in ihr Schlafzimmer. Ein schrecklicher Lärm entstand, alle sprachen zu gleicher Zeit. Die Männer blieben im Salon und erklärten einstimmig, Herr von Bargeton wäre im Recht.
»Hätten Sie dem Guten zugetraut, dass er sich so wacker hielte?« fragte Herr von Saintot. »Aber«, erwiderte der unbarmherzige Jacques, »in seiner Jugend war er einer der besten Schützen. Mein Vater hat mir oft von den Waffentaten Bargetons erzählt.«
»Bah! Sie stellen sie zwanzig Schritt voneinander, und sie verfehlen sich, wenn Sie Kavalleriepistolen nehmen«, sagte Francis zu Châtelet.
Als sich alle verabschiedet hatten, beruhigte Châtelet Stanislaus und seine Frau und erklärte ihnen, alles werde gut gehen, und in einem Duell zwischen einem Sechzigjährigen und einem Sechsunddreißigjährigen sei dieser im Vorteil.
Als am nächsten Morgen Lucien mit David, der ohne seinen Vater von Marsac zurückgekehrt war, beim Frühstück saß, trat Frau Chardon ganz aufgeregt herein.
»Lucien, weißt du denn das Neueste, von dem man schon auf dem Markte spricht? Herr von Bargeton hat Herrn von Chandour heute morgen um fünf Uhr auf einer Wiese beinahe getötet. Herr von Chandour soll gestern gesagt haben, er habe dich mit Frau von Bargeton zusammen überrascht.«
»Falsch!« rief Lucien, »Frau von Bargeton ist unschuldig.«
»Ein Landmann, den ich die Einzelheiten erzählen hörte, hat von seinem Wagen aus alles mit angesehen. Herr von Nègrepelisse war schon um drei Uhr morgens hereingekommen, um Herrn von Bargeton zu sekundieren; er hat zu Herrn von Chandour gesagt, er werde seinen Schwiegersohn rächen, wenn ihm ein Unglück zustieße. Ein Kavallerieoffizier hat seine Pistolen hergegeben, die Herr von Nègrepelisse verschiedenemal probiert hat. Herr du Châtelet wollte sich dem Erproben der Pistolen widersetzen, aber der Offizier, den man als Unparteiischen genommen hatte, sagte: wenn man sich nicht mit bloßen Kindereien abgeben wollte, müsste man Waffen nehmen, die etwas taugten. Die Zeugen stellten die beiden Gegner fünfundzwanzig Schritt voneinander auf. Herr von Bargeton, der sich benahm, als handelte es sich um einen Spaziergang, schoss als erster und traf Herrn von Chandour in den Hals. Der fiel hin, ohne zurückschießen zu können. Der Wundarzt des Krankenhauses hat soeben erklärt, dass Herr von Chandour für den Rest seines Lebens einen schiefen Hals behalten wird. Ich wollte dir gleich den Ausgang des Duells melden, damit du nicht zu Frau von Bargeton gehst und dich nicht in Angoulême sehen lässt, denn manche Freunde des Herrn von Chandour könnten dich provozieren.«
In diesem Augenblick trat Gentil, der Kammerdiener des Herrn von Bargeton, ein, dem der Druckerlehrling den Weg gezeigt hatte, und übergab Lucien einen Brief Louisens:
»Mein Freund! Sie haben ohne Zweifel den Ausgang des Duells zwischen Chandour und meinem Mann erfahren. Wir empfangen heute niemanden. Seien Sie klug, zeigen Sie sich nicht. Ich verlange es im Namen der Gefühle, die Sie für mich hegen. Finden Sie nicht, dass dieser traurige Tag am besten verwendet wäre, wenn Sie zu Ihrer Beatrice kämen? Ihr Leben ist durch diesen Vorfall ganz verändert, und sie hat Ihnen tausend Dinge zu sagen.«
»Zum Glück«, sagte David, »ist meine Hochzeit auf übermorgen festgesetzt; so bist du leicht in der Lage, weniger oft zu Frau von Bargeton zu gehen.«
»Lieber David«, erwiderte Lucien, »sie bittet mich, heute zu ihr zu kommen; ich glaube, ich muss ihr gehorchen; sie weiß wohl besser als wir, wie ich mich in dieser Lage verhalten muss.«
»Und hier ist also alles in Ordnung?« fragte Frau Chardon.
»Sehen Sie selbst«, rief David, der glücklich war, die Umwandlung zeigen zu können, die mit der Wohnung im ersten Stock, wo alles frisch und neu war, vor sich gegangen war.
Es waltete da schon der wohltuende Geist des jungen Haushalts, wo der Kranz von Orangenblüten und der Brautschleier die Krone des häuslichen Lebens sind, wo der Frühling der Liebe sich in den Dingen widerspiegelt, und wo alles blank, sauber und mit Blumen geschmückt ist.
»Eva wird wie eine Prinzessin wohnen,« sagte die Mutter; »aber du hast zuviel Geld ausgegeben, du hast verschwendet!«
David lächelte, ohne zu antworten, denn Frau Chardon hatte eine geheime Wunde berührt, die dem armen Liebhaber grausame Schmerzen bereitete: die Ausführung seiner Bestellungen war so viel teurer geworden, als er vermutet hatte, dass es ihm unmöglich war, das Gelass über dem Schuppen zu bauen. Seine Schwiegermutter konnte das Heim, das er ihr geben wollte, noch lange nicht haben. Großmütige Menschen empfinden die lebhaftesten Schmerzen, wenn sie jene Art von Versprechen nicht halten können, die gewissermaßen die kleinen Eitelkeiten der Zärtlichkeit sind. David verbarg seine Verlegenheit sorgfältig, um das Herz Luciens zu schonen, der sich durch die Opfer, die für ihn gebracht worden waren, leicht hätte bedrückt fühlen können.
»Eva und ihre Freundinnen haben auch schön gearbeitet«, sagte Frau Chardon. »Die Aussteuer, die Hauswäsche, alles ist in Ordnung. Diese jungen Mädchen lieben sie so, dass sie ihr, ohne etwas davon zu sagen, die Matratzen mit weißem Barchent überzogen und mit rosa Litzen verziert haben. Das ist reizend! Man bekommt Lust, sich zu verheiraten.«
Mutter und Tochter hatten alle ihre Ersparnisse dafür verwendet, Davids Haushalt mit Dingen zu versorgen, an die junge Männer niemals denken. Da sie wussten, wieviel Luxus er entfaltete, denn es war die Rede von einem Porzellanservice, das er in Limoges bestellt hatte, hatten sie versucht, die Dinge, die sie anschafften, mit denen, die David kaufte, in Einklang zu bringen. Dieser kleine Wettkampf der Liebe und Großmut musste die beiden Gatten dazu bringen, im Anfang ihrer Ehe inmitten aller Zeichen eines bürgerlichen Wohlstandes, der in einer zurückgebliebenen Stadt, wie es damals Angoulême war, für Luxus gelten musste, Entbehrungen zu leiden. In dem Augenblick, wo Lucien seine Mutter und David in das Schlafzimmer hineingehen sah, um sich an der blau und weißen Wandbespannung und den hübschen Möbeln zu erfreuen, schlich er zu Frau von Bargeton. Er traf Naïs beim Frühstück mit ihrem Manne, dem der Morgenspaziergang Appetit gemacht hatte und der aß, ohne sich um das, was vorgefallen war, im geringsten zu kümmern. Herr von Nègrepelisse, der alte Landedelmann, eine imposante Gestalt, ein Überrest des alten französischen Adels, war bei seiner Tochter. Als Gentil Herrn von Rubempré gemeldet hatte, warf ihm der weißhaarige Alte den forschenden Blick eines Vaters zu, der den Mann, den seine Tochter ausgezeichnet hat, gleich kennen lernen will. Die ungewöhnliche Schönheit Luciens berührte ihn so stark, dass er einen billigenden Blick nicht zurückhalten konnte; aber er schien in dem Verhältnis seiner Tochter zu dem jungen Mann mehr eine flüchtige Liebschaft, eine Laune zu sehen als einen dauernden Liebesbund. Man hatte zu Ende gefrühstückt, Louise konnte sich erheben und ihren Vater und Herrn von Bargeton allein lassen. Sie machte Lucien ein Zeichen, ihr zu folgen.
»Mein Freund,« sagte sie, und ihre Stimme klang zugleich traurig und freudig, »ich gehe nach Paris, und mein Vater nimmt Bargeton nach l'Escarbas mit sich, wo er während meiner Abwesenheit bleiben wird. Madame d'Espard, eine geborene Blamont-Chauvré, mit der wir durch die d'Espard, die ältesten Glieder der Familie Nègrepelisse, verwandt sind, ist jetzt von sich aus und durch ihre Verwandten sehr einflussreich. Wenn sie sich herbeilässt, sich um uns zu kümmern, werde ich mir viel Mühe mit ihr geben: sie kann uns mit ihrem Einfluss eine Stellung für Bargeton verschaffen. Meine Bemühungen können es zustande bringen, dass der Hof den Wunsch ausspricht, ihn als Deputierten der Charente zu sehen, und das wird dazu helfen, dass er hier als Kandidat aufgestellt wird. Der Deputiertenposten kann später meine Schritte in Paris begünstigen. Du, mein liebes Kind, hast diese Veränderung in meinem Leben hervorgebracht. Das Duell, das heute morgen stattfand, zwingt mich, mein Haus für einige Zeit zu schließen, denn es wird Leute geben, die gegen uns für die Chandour Partei nehmen. In unserer Stellung und in einer kleinen Stadt tut eine Abwesenheit immer Not, um der Gehässigkeit Zeit zu lassen, sich zu legen. Entweder habe ich nun Erfolg und sehe Angoulême nie wieder, oder ich habe keinen Erfolg und warte in Paris den Augenblick ab, von dem an ich die Sommer in Escarbas und die Winter in Paris verbringen kann. Das ist das einzige Leben für eine vornehme Frau, ich habe zu lange damit gezögert. Ein Tag genügt für all unsere Vorbereitungen; ich reise morgen Abend, und du begleitest mich, nicht wahr? Du gehst voraus. Zwischen Mansle und Ruffec nehme ich dich in meinen Wagen, und wir werden bald in Paris sein. Dort, Liebster, ist der Boden für hervorragende Menschen. Man fühlt sich nur mit seinesgleichen wohl, sonst leidet man überall. Überhaupt, Paris, die Hauptstadt der geistigen Welt, ist die Bühne für deine Erfolge, durcheile schnell den Raum, der dich davon trennt. Lass deine Ideen nicht in der Provinz ranzig werden, eile dich, mit den großen Männern zu verkehren, die das neunzehnte Jahrhundert repräsentieren. Du musst dem Hof und den Machthabern näher kommen. Weder die Berühmtheiten noch die Würdenträger suchen ein Talent auf, das in einer Kleinstadt dahinsiecht. Nenne mir überhaupt die Werke der schönen Literatur, die der Provinz entstammen! Sieh dagegen, wie der göttliche, der arme Jean Jacques unwiderstehlich von dieser geistigen Sonne angezogen wurde, die den Ruhm schafft, indem sie die Geister durch die Reibung der Rivalitäten entzündet. Musst du dich nicht beeilen, deinen Platz in der Dichterplejade einzunehmen, die jede Epoche hervorbringt? Du glaubst nicht, wie nützlich es einem jungen Talent ist, wenn es von der vornehmen Gesellschaft ins Licht gesetzt wird. Ich werde bewirken, dass du bei Madame d'Espard empfangen wirst, der Zutritt zu ihrem Salon ist nicht leicht; du findest da alle großen Persönlichkeiten, die Minister, die Gesandten, die großen Redner der Kammer, die einflussreichsten Pairs, reiche und berühmte Leute. Man müsste sehr ungeschickt sein, um nicht ihr Interesse zu erregen, wenn man schön, jung und voller Geist ist. Die großen Talente sind nicht kleinlich, sie leihen dir ihren Beistand. Wenn man sieht, wie hoch du gestellt bist, werden deine Werke ungeheuer an Wert gewinnen. Das große Problem, das für die Künstler zu lösen ist, besteht darin, zu bewirken, dass sie weithin sichtbar sind. Du triffst da also tausend Gelegenheiten, dein Glück zu machen, hast Aussicht auf Sinekuren, auf eine Pension aus der Privatschatulle. Die Bourbonen begünstigen so gern die schönen Wissenschaften und Künste! Sei also zu gleicher Zeit religiöser und royalistischer Dichter. Das wird nicht nur schön sein, du wirst auch reich werden. Vergibt die Opposition oder der Liberalismus Stellen und Belohnungen, lässt er die Schriftsteller zu Vermögen kommen? Schlage also den rechten Weg ein und geh dahin, wo alle Männer von Geist zu finden sind. Du kennst mein Geheimnis, bewahre das tiefste Schweigen und rüste dich, mir zu folgen. — Willst du nicht?« fügte sie hinzu, denn sie wunderte sich über die schweigsame Haltung ihres Geliebten.
Lucien war geblendet durch die plötzliche Aussicht auf Paris. Als er diese verlockenden Worte hörte, war es ihm, als habe er sich bisher nur seines halben Gehirns bedient; jetzt eben schien er die zweite Hälfte zu entdecken, alle seine Ideen wuchsen, er kam sich in Angoulême wie ein Frosch vor, der auf dem Grunde eines Sumpfes unter einem Stein gelebt hatte. Paris in seinem Glanze, Paris, das in der Provinz jeder Phantasie als Eldorado erscheint, trat vor ihn in seinem Goldgewande, auf dem Haupte das Königsdiadem, die Arme allen Talenten geöffnet. Die Berühmtheiten würden ihn brüderlich umarmen. Dort war alles Freude und Sonnenschein für das Genie. Dort gab es keine neidischen Krautjunker, die verletzende Worte sprachen, um den Schriftsteller zu demütigen, und keine alberne Gleichgültigkeit gegen die Poesie. Dort entsprossen die Werke der Dichter, dort wurden sie bezahlt und gelangten zu Ruhm. Die Buchhändler würden kaum die ersten Seiten seines »Bogenschützen Karls IX.« gelesen haben, und schon würden sie ihren Kassenschrank öffnen und ihn fragen: »Wieviel wollen Sie?« Überdies sah er ein, dass Frau von Bargeton nach einer Reise, bei der sie die Umstände so nah wie zwei Gatten zusammenbrachten, ganz die Seine würde, dass sie zusammen lebten.
Auf diese Worte: »Willst du nicht?« antwortete er mit einer Träne, schlang seinen Arm um Louise, drückte sie ans Herz und presste unzählige Küsse auf ihren Hals. Dann hielt er plötzlich inne, wie von einer Erinnerung getroffen, und rief aus »Mein Gott, meine Schwester heiratet übermorgen!«
Dieser Ausruf war der letzte Atemzug der reinen und vornehmen Kindlichkeit in ihm. Die mächtigen Bande, die die jungen Herzen mit ihrer Familie, ihrem ersten Freund, allen ursprünglichen Gefühlen verbinden, sollten einen furchtbaren Schlag erhalten.
»Wie!« rief die hochmütige Nègrepelisse, »was hat die Verheiratung Ihrer Schwester mit dem großen Schritt unserer Liebe zu tun? Liegt Ihnen so viel daran, bei dieser Kleinbürger- und Handwerkerhochzeit das große Tier zu sein, dass Sie mir diese edle Freude nicht zum Opfer bringen können? Ein schönes Opfer!« sagte sie verächtlich. »Ich habe heute morgen meinen Mann um Ihretwillen in den Zweikampf geschickt! Gehen Sie, mein Herr, verlassen Sie mich! Ich habe mich in Ihnen getäuscht.«
Sie fiel fast ohnmächtig auf ihr Kanapee. Lucien stürzte zu ihr hin, bat um Verzeihung und fluchte seiner Familie, David und seiner Schwester.
»Ich glaubte so an dich«, klagte sie. »Herr von Cante-Croix hatte eine Mutter, die er vergötterte, aber um einen Brief von mir zu bekommen, in dem ich ihm sagte: »Ich bin zufrieden!« ist er im Schlachtendonner gestorben. Und Sie können, wenn es sich darum handelt, mit mir zu reisen, nicht einmal auf einen Hochzeitsschmaus verzichten?«
Lucien wollte sich töten, und seine Verzweiflung war so aufrichtig, so tief, dass Louise ihm verzieh. Aber sie ließ ihn spüren, dass er diesen Fehler wieder gutmachen müsste.
»Geh also,« sagte sie endlich, »sei verschwiegen, und sei morgen Nacht um zwölf Uhr hundert Schritte hinter Mansle zu finden.«
Lucien fühlte kaum den Boden unter seinen Füßen. Er machte sich zu David auf. Seine Hoffnungen verfolgten ihn, wie die Furien den Orest, denn er gewahrte tausend Schwierigkeiten, die in dem schrecklichen Wort: »Woher Geld nehmen?« zusammenzufassen waren. Er hatte solche Angst vor dem Scharfblick Davids, dass er sich in sein hübsches Arbeitszimmer einschloss, um sich von der Betäubung zu erholen, in die ihn seine neue Lage versetzt hatte. Er sollte also diese Wohnung verlassen, die mit so viel Kosten für ihn hergestellt worden war. Alle Opfer, die man ihm gebracht, sollten vergeudet sein. Es fiel ihm ein, seine Mutter könnte da wohnen, und David könnte also den kostspieligen Umbau im Hof sparen, den er geplant hatte. Diese Abreise musste die Verhältnisse seiner Familie in Ordnung bringen. Er fand tausend Gründe, die für seine Flucht sprachen, denn es gibt nichts Jesuitischeres als einen Wunsch. Er lief sofort nach Houmeau zu seiner Schwester, um ihr sein neues Los mitzuteilen und sich mit ihr zu beraten. Als er vor dem Laden Postels angelangt war, fiel ihm ein, er könnte, wenn sich keine andere Möglichkeit fände, bei dem Nachfolger seines Vaters die Summe leihen, die für einen Aufenthalt in Paris während eines Jahres nötig wäre.
»Wenn ich mit Louise zusammen lebe, wird ein Taler täglich für mich ein ganzes Vermögen sein, und das macht nur tausend Franken im Jahr«, sagte er sich. »Und in sechs Monaten bin ich reich.«
Eva und ihre Mutter hörten, nachdem sie versprochen hatten, das tiefste Geheimnis zu wahren, die Bekenntnisse Luciens an. Alle beide weinten bei der Erzählung unseres Ehrgeizigen, und als er den Grund dieses Kummers erfahren wollte, sagten sie ihm, alles, was sie besäßen, wäre von der Haus- und Tischwäsche, von Evas Aussteuer, von einer Menge Anschaffungen verschlungen worden, an die David nicht gedacht hätte, und sie wären froh, das alles besorgt zu haben, denn für David bedeuteten diese Dinge, die Eva mitbrächte, soviel wie eine Mitgift von zehntausend Franken. Lucien teilte jetzt seine Darlehnsidee mit, und Frau Chardon nahm es auf sich, Herrn Postel um tausend Franken für ein Jahr zu bitten.
»Aber Lucien,« sagte Eva in bekümmertem Tone, »du wirst also nicht bei meiner Hochzeit sein? O komm zurück, ich werde ein paar Tage warten! In vierzehn Tagen, wenn du sie hinbegleitet hast, wird sie schon erlauben, dass du wieder hierher kommst! Sie wird dich uns acht Tage schenken, uns, die wir dich für sie aufgezogen haben! Es wäre ein schlechter Anfang unserer Ehe, wenn du nicht dabei wärst... Aber«, unterbrach sie sich plötzlich, »wirst du mit tausend Franken genug haben? Dein Anzug kleidet dich himmlisch, aber du hast nur den einen! Du hast nur zwei feine Hemden, die sechs andern sind aus grober Leinwand. Du hast nur drei Batistkrawatten, die drei andern sind aus gewöhnlichem Jakonett, und deine Taschentücher sind auch nicht schön. Wirst du in Paris eine Schwester finden, die dir an dem Tag, wo du sie brauchst, deine Wäsche bereithält? Du wirst sie noch sehr vermissen. Du hast nur eine Nankinghose, die in diesem Jahr gemacht worden ist; die aus dem vorigen Jahre ist dir zu knapp; du musst dich also in Paris neu einkleiden, und die Preise von Paris sind nicht die von Angoulême. Du hast nur zwei anständige Westen, ich habe die andern schon geflickt. Weißt du, ich rate dir, zweitausend Franken mitzunehmen.«
David, der in diesem Moment eintrat, schien die letzten Worte gehört zu haben, denn er blickte Bruder und Schwester schweigend an.
»Verbergt mir nichts«, sagte er schließlich. »Denke,« rief Eva, »er reist mit ihr fort«
»Postel«, sagte Frau Chardon, die hereintrat, ohne David zu sehen, »willigt ein, dir die tausend Franken zu leihen, aber nur für sechs Monate, und er will einen Wechsel von dir, den dein Schwager akzeptiert, denn er sagt, du bötest keine Garantie.«
Die Mutter blickte sich um, sah ihren Schwiegersohn, und die vier Menschen blieben in tiefem Schweigen. Die Familie Chardon fühlte, wie sehr sie David ausgenützt hatte. Alle schämten sich. Eine Träne schwamm im Auge des Buchdruckers.
»Du wirst also nicht auf meiner Hochzeit sein?« fragte er, »du wirst nicht bei uns bleiben? und da habe ich nun alles verschwendet, was ich hatte! Ach Lucien, eben bringe ich Eva ihren armseligen Brautschmuck; ich wusste nicht,« sagte er, trocknete sich die Augen und zog ein paar Schmuckkästchen aus der Tasche, »dass ich bedauern müsste, ihn gekauft zu haben.«
Er stellte mehrere mit Saffian überzogene Kästchen auf den Tisch vor den Platz seiner Schwiegermutter.
»Warum denkst du so viel an mich?« fragte Eva mit dem Lächeln eines Engels, das in Widerspruch zu ihren Worten stand.
»Liebe Mama,« sagte der Drucker, »sage Herrn Postel, ich willige ein, meine Unterschrift zu geben, denn ich sehe auf deinem Gesicht, Lucien, dass du entschlossen bist, abzureisen.«
Lucien nickte kraftlos und traurig mit dem Kopf und sagte nach einer kleinen Pause: »Urteilt nicht falsch über mich, geliebte Menschen.«
Er griff nach Eva und David, zog sie zu sich heran, drückte sie an sich, küsste sie und sprach: »Wartet ab, was daraus entsteht; ihr werdet sehen, wie ich euch liebe. David, wozu diente unser hoher Gedankenflug, wenn er uns nicht erlaubte, gleichgültig gegen die kleinen Zeremonien zu sein, mit denen die Gesetze unsere Gefühle umwickeln? Wird nicht trotz der Entfernung meine Seele hier sein? Wird uns nicht der Gedanke vereinigen? Werden die Verleger hierher kommen, um meinen »Bogenschützen Karls IX.« und meine »Marguersten« von mir zu bekommen? Früher oder später musste ich einmal doch tun, was ich jetzt tue. Aber konnte ich jemals günstigere Bedingungen finden? Hängt nicht mein ganzes Glück davon ab, dass ich bei meinem ersten Auftreten in Paris zu dem Salon der Marquise d'Espard Zutritt habe?«
»Er hat recht«, sagte Eva. »Sagtest du mir nicht selbst, er müsste bald nach Paris gehen?«
David nahm Eva bei der Hand, führte sie in den engen Raum, in dem sie seit sieben Jahren schlief, und sagte ihr ins Ohr: »Er braucht zweitausend Franken, sagtest du, Liebste? Postel gibt nur tausend her.«
Eva sah ihren Verlobten mit einem ängstlichen Blick an, der all ihren Kummer zum Ausdruck brachte.
»Höre, geliebte Eva! wir werden unser Leben schlecht anfangen. Jawohl, meine Ausgaben haben alles verschlungen, was ich besessen habe. Es bleiben mir nur zweitausend Franken, und die Hälfte ist unentbehrlich, damit die Druckerei weiterbestehen kann. Wenn ich deinem Bruder tausend Franken gebe, gebe ich ihm unser Brot, gefährde ich unsere Existenz. Wenn ich allein wäre, wüsste ich, was ich täte, aber wir sind zwei. Entscheide.«
Eva warf sich, außer sich, ihrem Geliebten in die Arme, küsste ihn zärtlich und sagte ihm, von Tränen überströmt, ins Ohr: »Tu, wie wenn du allein wärst; ich werde arbeiten, um diese Summe wieder zu verdienen.«
Trotz eines Kusses, der so glühend war, wie ihn je zwei Verlobte ausgetauscht haben, war Eva, als David sie allein ließ und zu Lucien trat, sehr niedergeschlagen.
»Sei ohne Sorge,« sagte David zu Lucien, »du sollst deine zweitausend Franken haben.«
»Geht zu Postel,« sagte Frau Chardon, »ihr müsst beide den Wechsel unterschreiben.«
Als die beiden Freunde wieder heraufkamen, überraschten sie Eva und ihre Mutter, wie sie auf den Knien zu Gott beteten. Obwohl sie wussten, wieviel Hoffnungen die Rückkehr erfüllen musste, fühlten sie doch in diesem Augenblick alles, was sie mit diesem Abschied verloren, sie fanden das Glück der Zukunft zu teuer mit einer Abwesenheit erkauft, die sie unglücklich machte und sie in tausend Ängste über das Schicksal Luciens versetzte.
»Wenn du jemals diese Szene vergäßest,« flüsterte David Lucien ins Ohr, »wärst du der niedrigste aller Menschen.«
Der Buchdrucker hielt ohne Zweifel diese ernsten Worte für nötig, der Einfluss der Frau von Bargeton ängstigte ihn nicht weniger als die unheilvolle Unbeständigkeit von Luciens Charakter, die ihn ebenso auf den schlimmen wie auf den rechten Weg bringen konnte. Eva hatte Luciens Bündel schnell geschnürt. Dieser Fernando Cortez der Literatur nahm wenig mit sich. Er behielt seinen besten Gehrock, seine beste Weste und eins seiner zwei besten Hemden an. Seine ganze Wäsche, sein berühmter Anzug, seine Siebensachen und seine Manuskripte bildeten ein so kleines Paket, dass David vorschlug, er wolle es, damit es den Augen der Frau von Bargeton verborgen bliebe, mit der Eilpost seinem Geschäftsfreund, einem Papierhändler, schicken und ihm schreiben, er solle es Lucien übergeben.
Trotz den Vorsichtsmaßregeln Frau von Bargetons zur Geheimhaltung ihrer Abreise erfuhr Châtelet davon und wollte wissen, ob sie die Reise allein oder in Begleitung Luciens machte; er schickte seinen Kammerdiener nach Ruffec mit dem Auftrag, die Insassen aller Wagen, die auf der Post die Pferde wechselten, zu beobachten. »Wenn sie ihren Dichter mitnimmt,« dachte er, »gehört sie mir.«
Lucien reiste am nächsten Morgen bei Tagesanbruch ab. Er war von David begleitet, der sich ein Kabriolett und ein Pferd verschafft hatte, wobei er sagte, er hätte geschäftliche Dinge mit seinem Vater zu erledigen, was unter den jetzigen Umständen wahrscheinlich war. Die beiden Freunde begaben sich nach Marsac und verbrachten dort einen Teil des Tages bei dem alten Bären; am Abend fuhren sie dann bis über Mansle hinaus, um Frau von Bargeton zu erwarten. Sie kam gegen Morgen an. Als Lucien die alte sechzigjärige Kalesche sah, die er so oft in der Remise betrachtet hatte, fühlte er sich so bewegt wie noch selten im Leben. Er warf sich David in die Arme, der zu ihm sagte: »Gott gebe, dass das zu deinem Guten ist.«
Der Drucker bestieg wieder sein kleines Kabriolett und fuhr mit gepresstem Herzen ab, denn er hatte ängstliche Vorgefühle über die Schicksale, die Lucien in Paris erwarteten.