Читать книгу Verlorene Illusionen - Оноре де Бальзак - Страница 4

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Inzwischen trafen die Gäste so nach und nach ein. Es kamen zunächst der Bischof und sein Generalvikar, zwei würdige und feierliche Gestalten, die einen starken Gegensatz bildeten. Monseigneur war groß und mager, sein Vikar kurz und dick. Alle beide hatten glänzende Augen, aber der Bischof war blass und sein Stellvertreter hatte ein Gesicht, das von der lebhaftesten Gesundheit gerötet war. Beide hatten nur spärliche Gesten und Bewegungen. Sie traten behutsam auf; ihre Zurückhaltung und ihr Schweigen schüchterten ein; sie galten für sehr geistvoll.

Den beiden Priestern folgten Frau von Chandour und ihr Gatte. Das waren ungewöhnliche Wesen, und wer die Provinz nicht kennt, mochte versucht sein, sie für Phantasiegebilde zu halten. Der Gatte Amélies, der Frau, die sich zur Gegnerin der Frau von Bargeton aufgeworfen hatte, Herr von Chandour, den man Stanislaus nannte, war mit fünfundvierzig Jahren noch schlank, spielte sich auf den jungen Mann hinaus und hatte ein Gesicht, das wie ein Sieb aussah. Seine Krawatte war immer so geknüpft, dass sie zwei drohend herausstehende Enden hatte, von denen das eine hoch hinauf bis zum rechten Ohr ging, das andere sich in die Tiefe bis zu dem roten Band seines Ordenskreuzes neigte. Seine Rockschöße waren breit zurückgeschlagen. Seine tief ausgeschnittene Weste ließ eine aufgeblähte, gestärkte Hemdenbrust sehen, die mit geschmacklos überladenen Busennadeln geschlossen war. Kurz, sein ganzer Anzug sah so exzentrisch aus, dass er die größte Ähnlichkeit mit einer Karikatur besaß und die Fremden, die ihn sahen, sich des Lächelns nicht erwehren konnten. Stanislaus betrachtete sich fortwährend von oben bis unten mit einer Art Selbstzufriedenheit, zählte seine Westenknöpfe, verfolgte die Wellenlinien seiner enganschließenden Hose und liebkoste seine Beine mit einem Blick, der zärtlich an den Spitzen seiner Stiefel hängen blieb. Wenn er aufgehört hatte, sich so zu betrachten, suchten seine Augen einen Spiegel, er prüfte, ob seine Frisur in Ordnung war, sah forschend mit glücklichen Augen nach den Frauen, wobei er einen Finger in die Westentasche steckte, sich zurückbog und sich ganz auf die Seite drehte. Diese Hahnenkampfstellung sicherte ihm in dieser aristokratischen Gesellschaft, deren Lieblingsgeck er war, seinen Erfolg. Meistens waren seine Gespräche mit verblümten Zoten gespickt, wie sie im achtzehnten Jahrhundert beliebt waren. Diese abscheuliche Art, sich zu unterhalten, verschaffte ihm bei den Frauen einigen Erfolg: er brachte sie zum Lachen. Über Herrn du Châtelet fing er an sich zu beunruhigen. In der Tat bemühten sich die Frauen, die sich über die Missachtung, die sie von dem Gecken von der Steuerverwaltung erfuhren, nicht beruhigen konnten, die gereizt waren durch das Ansehen, das er sich gab, als sei es unmöglich, ihn aus seinem Marasmus zu reißen, und die sein Ton eines blasierten Sultans ausstachelte, noch lebhafter um ihn als bei seiner Ankunft, seitdem Frau von Bargeton sich in den Byron von Angoulême verliebt hatte. Amilie war eine kleine Frau im Stil der Schmierenkomödiantin, dick, weiß, mit schwarzen Haaren; sie übertrieb alles, sprach sehr laut, bewegte immer den Kopf, auf dem sie im Sommer Federn, im Winter Blumen trug, im Kreise hin und her, als ob sie mit ihm radschlagen wollte; sie sprach gut, aber sie konnte keinen Satz vollenden, ohne ihm das Keuchen eines Asthmas zum Geleit zu geben, das sie nicht eingestehen wollte.

Herr von Saintot, Astolf genannt, der Präsident der Landwirtschaftsgesellschaft, ein großer, schwerer Mann mit gerötetem Gesicht, wurde von seiner Frau hereingeschleppt, die große Ähnlichkeit mit einem vertrockneten Farnkraut hatte; man nannte sie Lili, was aus Elise abgekürzt war. Dieser Name, der auf etwas Kindliches schließen ließ, stach grell gegen den Charakter und die Manieren der Frau von Saintot ab, die eine feierliche, überaus fromme Frau und beim Spiel sehr schwer zu behandeln und zänkisch war. Astolf galt für einen großen Gelehrten. Er war zwar dumm wie ein Karpfen, aber er hatte trotzdem für ein landwirtschaftliches Lexikon die Artikel »Zucker« und »Branntwein« geschrieben, die er aus alten Zeitungsartikeln und Büchern, in denen von den beiden Produkten die Rede war, zusammengestohlen hatte. Das ganze Departement glaubte ihn mit einer Abhandlung über die moderne Bodenbestellung beschäftigt. Obwohl er den ganzen Vormittag sich in seinem Arbeitszimmer einschloss, hatte er seit zwölf Jahren noch keine zwei Seiten geschrieben. Wenn ihn jemand besuchte, ließ er sich überraschen, damit man sah, wie er Papier verschmierte, eine verlegte Notiz suchte oder seine Feder schnitt; aber er verbrachte die ganze Zeit, die er in seinem Arbeitszimmer weilte, mit Albernheiten: er las lang und breit die Zeitung, er schnitt mit seinem Federmesser an Pfropfen herum, zeichnete groteskes Zeug auf seine Schreibunterlage, blätterte im Cicero, um sich eilig einen Satz oder ganze Stellen aufzuschreiben, die man auf die Tagesereignisse anwenden konnte; am Abend bemühte er sich dann, die Unterhaltung auf einen Gegenstand zu bringen, der ihm die Bemerkung erlaubte: »Man findet bei Cicero eine Stelle, die für das, was sich in unsern Tagen ereignet; geschrieben zu sein scheint.« Er zitierte dann zum großen Erstaunen seiner Zuhörer seine Stelle, und sie sagten wieder einmal untereinander: »Wahrhaftig, Astolf ist ein Abgrund von Gelehrsamkeit.« Dieser merkwürdige Vorfall sprach sich dann in der ganzen Stadt herum, und so blieb sie bei ihren schmeichelhaften Meinungen über Herrn von Saintot.

Nach diesem Paar kam Herr von Bartas, Adrian genannt. Er sang ersten Bass und tat sich riesig viel auf sein musikalisches Talent zugute. Die Eigenliebe hatte ihn auf den Gesang gebracht und ließ ihn nun nicht mehr herunter; er hatte damit angefangen, sich selbst als Sänger zu bewundern, dann hatte er begonnen, von Musik zu sprechen, und schließlich beschäftigte er sich mit nichts anderem mehr. Die Musik war bei ihm eine Art Monomanie geworden; er wurde nur lebhaft, wenn er von Musik sprach; er litt den ganzen Abend über, bis man ihn bat, er möchte singen. Erst wenn er eins seiner Lieder gebrüllt hatte, fing er an zu leben. Er paradierte, er streckte sich, wenn er Komplimente entgegennahm, er spielte den Bescheidenen, ging aber trotzdem von Gruppe zu Gruppe, um sich loben zu lassen; und wenn schließlich gar nichts mehr zu sagen war, kam er wieder auf die Musik zu sprechen, indem er ein Gespräch über die Schwierigkeiten seines Liedes anschnitt oder den Komponisten rühmte.

Herr Alexander von Brébian, der Held der Tusche, der Zeichner, der die Zimmer seiner Freunde mit abgeschmackten Malereien unsicher machte und jedes Album des Departements verschmierte, begleitete Herrn von Bartas. Jeder von beiden gab der Frau des andern den Arm. Wenn man der chronique scandaleuse glauben wollte, war diese Umstellung eine vollkommene. Die beiden Frauen, Lolotte – Frau Charlotte von Breblan – und Fifine – Frau Iosephine von Bartas –, die sich beide mit nichts weiter beschäftigten als mit einem Busentuch, einem Bänderbesatz oder mit der Zusammenstellung einiger nicht zusammenpassender Roben, waren von der Sehnsucht verzehrt, Pariserinnen zu scheinen, und vernachlässigten ihr Haus, wo alles drunter und drüber ging. Wenn die beiden Frauen, die wie Puppen in zu knapp bemessenen Kleidern eingezwängt waren, eine grelle und bizarre Farbenausstellung zur Schau trugen, gestatteten sich ihre Gatten in ihrer Eigenschaft als Künstler eine provinzmäßige Nachlässigkeit, die sie sehenswert machte. Ihre abgetragenen Röcke gaben ihnen das Aussehen von Statisten, wie sie in kleinen Theatern Leute aus der feinen Gesellschaft darstellen, die an einer Hochzeit teilnehmen.

Unter den Gestalten, die im Salon landeten, war eine der originellsten der Graf von Senonches, der in der aristokratischen Gesellschaft kurz Jacques genannt wurde, ein großer Jäger, hochmütig, trocken, mit sonnverbranntem Gesicht, liebenswürdig wie ein Eber, misstrauisch wie ein Venezianer, eifersüchtig wie ein Mohr und sehr befreundet mit Herrn du Hautoy, der Francis hieß und Hausfreund war.

Frau von Senonches – Zéphirine – war groß und schön, aber ihr Gesicht infolge eines Leberleidens stark gerötet; sie machte den Eindruck einer Frau, die große Ansprüche stellt. Ihre feine Taille, ihre zarte Gestalt erlaubten ihr ein schmachtendes Wesen, das affektiert schien, aber nur der Ausdruck der immer befriedigten Leidenschaften und Launen einer Frau war, die geliebt wurde.

Francis war ein sehr vornehmer Herr, der das Konsulat von Valencia und seine diplomatischen Hoffnungen aufgegeben hatte, um in Angoulême bei seiner Zéphirine zu sein, die auch Zizine genannt wurde. Der frühere Konsul kümmerte sich um den Haushalt, nahm sich der Erziehung der Kinder an, unterrichtete sie in den fremden Sprachen und verwaltete das Vermögen von Herrn und Frau von Senonches mit großer Hingabe. Die Adligen, die Beamten und die Bürger von Angoulême hatten lange über die völlige Eintracht dieser Haushaltung zu dreien geredet; aber auf die Dauer erschien dieses Mysterium von Dreieinigkeit in der Ehe so selten und reizend, dass man Herrn du Hautoy für überaus unmoralisch gehalten hätte, wenn er Miene gemacht hätte, sich zu verheiraten. Überdies fing man an, hinter der außergewöhnlichen Neigung der Frau von Senonches für ein Patenkind, das Fräulein de la Haye hieß und das ihr als Gesellschafterin diente, aufregende Geheimnisse zu wittern; und trotz einiger scheinbarer Unmöglichkeiten in den Daten fand man eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Françoise de la Haye und Francis du Hautoy. Wenn Jacques in der Gegend jagte, fragte ihn jeder, wie es Francis gehe, und er erzählte von den kleinen Unpässlichkeiten seines freiwilligen Verwalters, noch bevor er von seiner Frau sprach. Diese Blindheit schien bei einem eifersüchtigen Menschen so seltsam, dass seine besten Freunde sich ein Vergnügen daraus machten, ihn seine Rolle spielen zu lassen, und die, die das Geheimnis noch nicht kannten, auf ihn vorbereiteten, um sie zu amüsieren. Herr du Hautoy war ein gezierter Geck, dessen Besorgnis für seine eigene Person sich ins Affige und Kindische gekehrt hatte. Er beschäftigte sich mit seinem Husten, seinem Schlaf, seiner Verdauung und seinem Essen. Zéphirine hatte ihr Faktotum dazu gebracht, dass er den Menschen mit der schwachen Gesundheit spielte: sie fütterte ihn in Watte, wickelte ihm ein Tuch um den Kopf und gab ihm Tränklein zu trinken. Sie nudelte ihn mit ausgesuchten Gerichten wie ein Schoßhündchen; sie verordnete ihm oder verbot ihm diese und jene Speise; sie stickte ihm Westen, Krawatten und Taschentücher; sie hatte ihn schließlich daran gewöhnt, so hübsche Sachen zu tragen, dass sie ihn in eine Art japanischen Götzen verwandelt hatte. Ihr Einverständnis war übrigens das denkbar vollkommenste: Zizine sah bei jeder Rede Francis an, und Francis schien seine Ideen in den Augen Zizines zu finden. Sie tadelten zusammen, sie lächelten zusammen und schienen sich erst miteinander zu beraten, wenn es auch nur galt, jemandem guten Tag zu sagen.

Der reichste Grundbesitzer der Gegend, ein Mann, der von allen beneidet war, der Herr Marquis von Pimentel, und seine Frau, die zusammen vierzigtausend Franken Rente hatten und den Winter in Paris verbrachten, kamen in der Equipage vom Lande herein, zusammen mit ihren Nachbarn, dem Baron und der Baronin von Rastignac. Sie waren begleitet von der Tante der Baronin und ihren Töchtern, zwei reizenden jungen Mädchen, die gut erzogen und infolge ihrer Armut mit der Einfachheit gekleidet waren, die die natürliche Schönheit so sehr zur Geltung bringt. Diese Personen, die sicher die Elite der Gesellschaft waren, wurden mit frostigem Schweigen und einem Gemisch aus Achtung und Neid empfangen, insbesondere als man die auszeichnende Art wahrnahm, mit der sie von Frau von Bargeton begrüßt wurden. Diese zwei Familien gehörten zu der kleinen Zahl Menschen, die sich in der Provinz über dem Klatsch halten, in keiner Gesellschaft aufgehen, in stiller Zurückgezogenheit leben und eine imponierende Würde bewahren. Herr von Pimentel und Herr von Rastignac wurden mit ihren Titeln angeredet. Keinerlei Vertraulichkeit zog ihre Frauen oder ihre Töchter in die vornehme Sippe von Angoulême hinein, sie standen dem Hofadel zu nahe, um sich auf die Abgeschmacktheiten der Provinz einzulassen.

Als die Letzten erschienen der Präfekt und der General, gefolgt von dem Landedelmann, der am Morgen David seine Denkschrift über die Seidenwürmer gebracht hatte. Er war ohne Frage ein ländlicher Amtsvorsteher, der ein schönes Anwesen sein eigen nannte; aber seine Haltung und sein Anzug verrieten, dass er ganz und gar nicht an den Verkehr in der Gesellschaft gewöhnt war; er fühlte sich unbehaglich in seinen Kleidern, er wusste nicht, wo er seine Hände lassen sollte; wenn er mit jemand sprach, ging er im Kreise um ihn herum; er stand auf und setzte sich wieder hin, wenn er auf eine Anrede antwortete; er schien immer geneigt, beim Servieren helfen zu wollen; er war der Reihe nach unterwürfig, unruhig, düster, er hatte es eilig, über jeden Scherz zu lachen, er hörte angestrengt zu wie ein Untergebener, und manchmal nahm er eine tückische Miene an, wenn er glaubte, man mache sich über ihn lustig. Mehrmals am Abend versuchte er, da ihm seine Denkschrift im Kopfe herumging, von Seidenwürmern zu sprechen; aber zum Unglück war Herr von Séverac auf Herrn von Bartas gestoßen, der ihm zur Antwort von Musik sprach, und auf Herrn von Saintot, der ihm Cicero zitierte. Nach einigen Stunden hatte sich der arme Amtsvorsteher schließlich an eine Witwe und ihre Tochter herangemacht, Frau und Fräulein du Brossard, die nicht die zwei uninteressantesten Personen in dieser Gesellschaft waren. Ein einziges Wort sagt alles: sie waren ebenso arm, wie sie adlig waren. Ihre Kleidung verriet so sehr den peinlichen Versuch, vornehm und geschmückt zu erscheinen, dass sie die verschämte Armut offenbarte. Frau du Brossard rühmte in sehr ungeschickter Weise und bei jeder Gelegenheit ihre Tochter, ein großes und starkes siebenundzwanzigjähriges Mädchen, das für eine gute Klavierspielerin galt. Waren heiratsfähige Männer da, so sollte ihre Tochter alle ihre verschiedenen Neigungen teilen, und in ihrem Wunsche, ihre liebe Kamilla unterzubringen, hatte sie an einem und demselben Abend behauptet, Kamilla liebe das unruhige Leben der Garnisonen und das stille Leben der Landwirte, die ihre Güter bestellen. Alle beide hatten die gezierte, sauersüße Würde der Menschen, mit denen Mitleid zu haben alle Welt sich zum Vergnügen macht, für die man sich aus Egoismus interessiert und die den leeren Trostworten auf den Grund gekommen sind, mit denen die Welt mit Vergnügen die Unglücklichen abspeist. Herr von Séverac war neunundfünfzig Jahre alt und kinderloser Witwer; Mutter und Tochter hörten also mit andächtigem Entzücken den eingehenden Schilderungen zu, die er von seiner Seidenzucht gab.

»Meine Tochter hat immer die Tiere geliebt«, sagte die Mutter. »Und da auch die Seide, die diese Tierchen machen, die Frauen interessiert, möchte ich Sie um die Erlaubnis bitten, dass wir nach Séverac kommen dürfen, damit ich meiner Kamilla zeige, wie sie gewonnen wird. Kamilla hat so viel Verstand, dass sie sofort alles begreifen wird, was Sie ihr sagen. Hat sie doch sogar einmal das umgekehrte Verhältnis des Quadrats der Entfernung verstanden!«

Dieser Satz machte der Unterhaltung zwischen Herrn von Séverac und Frau du Brossard nach Luciens Vorlesung ein glorreiches Ende.

Einige gewohnte Gäste des Hauses mischten sich ungezwungen in die Gesellschaft, und ebenso zwei oder drei schüchterne und schweigsame, lächerlich aufgeputzte Muttersöhnchen, die glücklich waren, zu diesem literarischen Abend eingeladen worden zu sein und deren Kühnster sich so weit aufschwang, dass er sich viel mit Fräulein de la Haye unterhielt. Alle Damen setzten sich feierlich in einem Kreise herum, hinter dem die Männer standen. Diese Versammlung bizarrer Personen mit seltsamen Kostümen und komischen Gesichtern kam Lucien sehr imponierend vor. Sein Herz schlug heftig, als er sah, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. So kühn er auch war, bestand er doch diese erste Probe nicht leicht, trotz den Ermutigungen seiner Geliebten, die beim Empfang der Berühmtheiten des Angoumois die ganze Pracht ihrer Verbeugungen und ihre gezierteste Grazie entfaltete. Das Unbehagen, dessen Beute er war, wurde durch einen Umstand verstärkt, der leicht vorauszusehen war, der aber einen jungen Mann, der noch wenig mit der Taktik der Welt vertraut ist, scheu machen musste. Lucien, der ganz Auge und Ohr war, hörte sich von Louise, Herrn von Bargeton, dem Bischof und einigen Freundlichen, die der Herrin des Hauses einen Gefallen tun wollten, Herr von Rubempré nennen, aber Herr Chardon von der Mehrheit dieses gefürchteten Publikums. Durch die forschenden Blicke der Neugierigen eingeschüchtert, hörte er sie schon seinen bürgerlichen Namen aussprechen, wenn sie nur ihre Lippen bewegten, er hörte die Urteile, die man im voraus mit der in der Provinz gewohnten Freiheit über ihn herumtragen würde, die oft der Unhöflichkeit sehr nahe kommt. Diese unerwarteten fortgesetzten Nadelstiche versetzten ihn in eine noch unbehaglichere Stimmung. Er wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo er mit seiner Vorlesung beginnen konnte, um dann eine Haltung annehmen zu können, die der Qual seines Innern ein Ende machte; aber Jacques erzählte Frau von Pimentel seine letzte Jagdgeschichte; Adrian unterhielt sich mit Fräulein Laura von Rastignac über Rossini, den neuen musikalischen Stern; Astolf, der die Beschreibung eines neuen Karrens in der Zeitung gefunden und auswendig gelernt hatte, sprach darüber mit dem Baron. Lucien, der arme Dichter, wusste nicht, dass niemand von allen Anwesenden außer Frau von Bargeton so viel Geist besaß, Poesie zu verstehen. Alle diese Leute, die ein sehr beschränktes Gefühlsleben hatten, waren hergekommen, weil sie sich über die Art des Schauspiels, das sie erwartete, täuschten. Es gibt Worte, die gleich den Trompeten, den Zimbeln, der großen Trommel der Marktschreier immer das Publikum anlocken. Worte wie Schönheit, Ruhm, Poesie haben Zauberkraft in sich, die selbst die plumpen Köpfe verführt. Als alle da waren, als die Plaudereien aufgehört hatten, nicht ohne tausend Winke, die Herr von Bargeton, den seine Frau wie einen Kirchenschweizer, der seinen Stock auf den Steinboden aufstößt, überall hinschickte, den Unterbrechenden gegeben hatte, ließ sich Lucien an dem runden Tisch in der Nähe Frau von Bargetons nieder. Seine Seele war heftig erschüttert. Er kündete mit zitternder Stimme an, er wolle die Erwartung niemandes täuschen und werde daher die vor kurzem neu entdeckten Meisterwerke eines großen unbekannten Dichters vorlesen. Obwohl die Gedichte von André de Chénier schon 1819 veröffentlicht waren, hatte doch in Angoulême noch niemand von André de Chénier sprechen hören. Alle wollten sie in dieser Ankündigung einen schlauen, von Frau von Bargeton gefundenen Schachzug sehen, um die Eigenliebe des Dichters zu schonen und auch die Zuhörer jedes Zwangs zu entbinden. Lucien las zuerst den »Jungen Kranken«, der mit schmeichelhaftem Murmeln aufgenommen wurde; dann den »Blinden«, und dies Gedicht fanden diese mittelmäßigen Köpfe etwas lang. Während seiner Vorlesung stand Lucien höllische Qualen aus, die nur von großen Künstlern oder von denen, die durch Begeisterung und hohes Verständnis ihnen gleichkommen, völlig begriffen werden können. Die Poesie erfordert, um mit der Stimme wiedergegeben, wie um erfasst zu werden, eine heilige Aufmerksamkeit. Es muss zwischen dem Leser und der Zuhörerschaft eine innige Verbindung entstehen, ohne die die elektrische Übertragung der Gefühle nicht statthat. Wo dieser enge Zusammenhang der Seelen fehlt, da geht es dem Dichter wie einem Engel, der versuchte, einen himmlischen Gesang inmitten des Hohngelächters der Hölle anzustimmen. In der Sphäre nun, in der sich ihr Talent bewegt, besitzen die geistigen Menschen den allseitigen Blick der Schnecke, den Geruchsinn des Hundes und das Ohr des Maulwurfs; sie sehen, fühlen und hören alles um sich herum. Der Musiker und der Dichter wissen ebenso schnell, ob sie bewundert sind oder unverstanden bleiben, wie eine Pflanze in einer freundlichen oder feindlichen Atmosphäre, je nachdem, vertrocknet oder Leben trinkt. Auf Grund der Gesetze dieser besondern Akustik klang in Luciens Ohr das Brummen der Männer, die nur um ihrer Frauen willen hergekommen waren und sich von ihren Geschäften unterhielten, ebenso wie er das ansteckende Gähnen einiger heftig aufgerissener Kinnbacken bemerkte, deren deutlich sichtbare Zahnreihen ihn verhöhnten. Als er gleich der Schwalbe der Sintflut eine freundliche Stelle suchte, auf der sein Blick weilen konnte, traf er auf die ungeduldigen Blicke von Leuten, die offenbar gemeint hatten, sie könnten diese Zusammenkunft benutzen, um sich über diese und jene positiven Interessen auszusprechen. Mit Ausnahme von Laura von Rastignac, zwei oder drei jungen Leuten und dem Bischof langweilten sich alle Teilnehmer. In der Tat suchen die, die für die Poesie Verständnis haben, in ihrer Seele zur Entfaltung zu bringen, was der Dichter im Keim in seinen Versen angelegt hat; aber diese eisigen Zuhörer waren weit entfernt, der Seele des Dichters nachzustreben, und hörten nicht einmal seine Akzente. Lucien empfand also eine so tiefe Entmutigung, dass ihm kalter Schweiß ausbrach. Ein feuriger Blick, den ihm Louise zuwarf, gegen die er sich herumgewandt hatte, gab ihm den Mut, zu Ende zu lesen; aber sein Dichterherz blutete aus tausend Wunden.

»Finden Sie das sehr amüsant, Fifine?« fragte die trockene Lili ihre Nachbarin, die vielleicht starke Sachen erwartet hatte.

»Fragen Sie mich lieber nicht, meine Liebe: meine Augen schließen sich, sowie ich vorlesen höre.«

»Ich hoffe,« sagte Francis, »Naïs wird uns nicht oft Verse zu Abend geben. Wenn ich nach dem Essen vorlesen höre, stört die Aufmerksamkeit, die ich anwenden muss, meine Verdauung.«

»Armes Tierchen,« sagte Zéphirine mit leiser Stimme, »trink ein Glas Zuckerwasser.«

»Sehr gut deklamiert,« sagte Alexander, »aber Whist ist mir lieber.«

Nach dieser Bemerkung, die infolge der englischen Bedeutung des Worts für witzig galt, behaupteten einige Spielerinnen, der Vorleser müsse Ruhe haben. Unter diesem Vorwand machten sich einige Paare heimlich in das Boudoir davon. Lucien, den die reizende Laura von Rastignac und der Bischof baten, weiterzulesen, erweckte dank dem konterrevolutionären Schwung der Jamben die Aufmerksamkeit wieder. Einige Personen, die von der Wärme des Vortrags hingerissen wurden, klatschten Beifall, ohne die Verse zu verstehen. Diese Art Menschen sind durch lautes Reden zu beeinflussen, wie die groben Gaumen durch starke Getränke gereizt werden.

Später, als man Gefrorenes reichte, veranlasste Zéphirine Francis, in das Buch zu sehen, und teilte ihrer Nachbarin Amélie dann mit, die Verse, die Lucien gelesen habe, seien gedruckt.

»Aber«, antwortete Amélie, der man das Vergnügen über den Einfall ansah, »das ist sehr einfach. Herr von Rubempré arbeitet bei einem Drucker. Das ist gerade so,« sagte sie und warf dabei Lolotte einen Blick zu, »wie wenn eine hübsche Frau ihre Kleider selbst macht.«

»Er hat seine Gedichte selbst gedruckt«, sagten die Frauen untereinander.

»Warum nennt er sich denn von Rubempré?« fragte Jacques. »Wenn so ein Adliger Handwerksarbeit verrichtet, muss er seinen Namen aufgeben.«

»Er hat tatsächlich den seinen aufgegeben, der bürgerlich war,« sagte Zizine, »und hat dafür den seiner Mutter angenommen, die von Adel ist.«

»Da seine Verse – in der Provinz sagt man Versche – gedruckt sind, können wir sie selber lesen«, sagte Astolf.

Dieser dumme Einfall machte die Sache noch verwickelter, bis Sixtus du Châtelet sich herabließ, dieser unwissenden Gesellschaft mitzuteilen, die Ankündigung sei keine vorsichtige Redewendung gewesen, und die schönen Gedichte seien in der Tat von einem royalistischen Bruder des Revolutionärs Marie Joseph Chénier verfasst. Die Gesellschaft von Angoulême, mit Ausnahme des Bischofs, der Frau von Rastignac und ihrer beiden Töchter, die von dieser großen Poesie ergriffen waren, hielten sich für mystifiziert und ärgerten sich über diesen Hineinfall. Ein dumpfes Murren erhob sich, aber Lucien hörte es nicht. Er war von dieser verhassten Welt durch den Rausch, den eine innere Melodie in ihm erzeugte, weit abgeschieden und bemühte sich, diese Melodie zu wiederholen. Er sah die Gestalten nur wie durch einen Nebel hindurch. Er las die düstere Elegie über den Selbstmord, jene in den alten Formen, in denen eine göttliche Melancholie lebt, endlich die, in der der Vers steht: »Dein Lied ist süß, es klingt mir oft im Ohr.« Endlich schloss er mit der sanften Idylle, die den Namen »Neère« führt.

Frau von Bargeton war in eine köstliche Träumerei versunken. Sie saß da, eine Hand in ihren Locken, die sie, ohne es zu gewahren, durcheinandergebracht hatte, die andere herunterhängend, mit blicklosen Augen, allein inmitten ihres Salons. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich in die Sphäre versetzt, die ihre eigene war. Nun kann man verstehen, wie grässlich sie von Amélie herausgerissen wurde, die den Auftrag übernommen hatte, ihr die Wünsche des Publikums mitzuteilen.

»Naïs, wir waren gekommen, um die Gedichte Herrn Chardons zu hören, und Sie geben uns gedruckte Versche. Obwohl diese Stücke sehr hübsch sind, würden die Damen aus Heimatsliebe doch das einheimische Gewächs vorziehen.«

»Finden Sie nicht, dass die französische Sprache sich schlecht zur Poesie eignet?« fragte Wolf den Steuerdirektor. »Ich finde die Prosa Ciceros tausendmal poetischer.«

»Die wahre französische Poesie ist die leichte Gattung, das Chanson«, antwortete Châtelet.

»Das Chanson beweist, dass unsere Sprache sehr musikalisch ist«, sagte Adrian.

»Ich wäre neugierig auf die Versche, die Naïs erobert haben,« sagte Zéphirine; »aber nach der Art, wie sie den Wunsch Amélies aufnimmt, scheint sie nicht geneigt, uns davon eine Probe zu geben.«

»Sie ist es sich selbst schuldig, uns die Gedichte mitzuteilen,« antwortete Francis, »denn das Genie dieses Kerlchens ist ihre Rechtfertigung.«

»Sie sind doch Diplomat gewesen. Sie müssen das durchsetzen«, sagte Amélie zu Herrn du Châtelet.

»Nichts leichter als das«, antwortete der Baron.

Der frühere Privatsekretär war an solche kleine Schiebungen gewöhnt und suchte den Bischof auf, um ihn vorzuschieben. Da der Bischof die Bitte aussprach, konnte Naïs nicht anders, als Lucien um ein Stück bitten, das er auswendig wüsste. Der schnelle Erfolg des Barons bei dieser Unterhandlung trug ihm ein schmachtendes Lächeln von Amélie ein. »Wirklich, dieser Baron ist ein feiner Kopf«, sagte sie zu Lolotte.

Lolotte hatte die bittersüße Bemerkung Amélies über die Frauen, die ihre Kleider selbst machen, noch nicht vergessen. »Seit wann erkennen Sie die in der Kaiserzeit verfertigten Barone an?« gab sie lächelnd zur Antwort.

Lucien hatte versucht, seine Geliebte in einer Ode zu verherrlichen. Er hatte sie ihr mit einem Titel gewidmet, wie ihn die jungen Leute, wenn sie das Lyzeum verlassen, erfinden. Diese Ode, die von all der Liebe, die er im Herzen spürte, so reizend umschmeichelt und verschönt war, schien ihm das einzige Werk, das würdig sei, es mit Chéniers Dichtungen aufzunehmen. Er blickte mit einem ziemlich albernen Gesicht Frau von Bargeton an und sagte: »An Sie!« Dann gab er sich eine stolze Haltung, um dieses hochtrabende Stück über die Versammlung zu ergießen, denn seine Autoreneitelkeit fühlte sich hinter dem Rock der Frau von Bargeton sehr behaglich. In diesem Augenblick verriet Naïs den Frauenaugen ihr Geheimnis. Trotzdem sie gewöhnt war, diese Gesellschaft mit der ganzen Höhe ihres Geistes zu beherrschen, konnte sie sich nicht enthalten, für Lucien zu zittern. Sie verlor ihre Haltung, ihre Blicke flehten fast um Nachsicht; dann war sie genötigt, mit gesenkten Augen dazusitzen und ihre Beglücktheit bei den folgenden Strophen zu verbergen:

Verlorene Illusionen

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