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3. Traditionsbildungen und Revisionen im 20. und frühen 21. Jahrhundert
ОглавлениеDer Bildungsroman als überzeitlich ,klassischer‘ Roman
Die weitere Forschung zum Bildungsroman nahm die von Dilthey vorgeschlagene Wende in der Bestimmung der Gattung auf, wie dies in Anders Krügers Beitrag Der neuere deutsche Bildungsroman (1906) besonders deutlich wird. Krüger stellte dezidiert fest, dass der Bildungsroman eine spezifisch deutsche Gattung sei: „eine Romanart, die ein ganz ausgesprochen nationales Gepräge trägt, die sie eigenartiger, individueller kein anderes Volk aufzuweisen hat, den deutschen Bildungsroman, der im letzten Jahrhundert ganz eigentlich der Roman der Dichter und Denker war und es voraussichtlich auch bleiben wird.“ (Krüger 1906, 270) Durch historisierende Betrachtungsweise wurde forciert versucht, den Bildungsroman, der seine Entstehung dem sozialhistorischen und geistesgeschichtlichen Kontext der Spätaufklärung verdankt, einer durch nationales Selbstverständnis geprägten Bildungsidee zu unterstellen. Vor allem sollte nun über die Auseinandersetzung mit Goethes überzeitlich gültigem ,klassischen‘ Roman das Bewusstsein für eine deutsche Kulturtradition gestärkt werden.
Wertschätzung von Goethes Bildungsroman
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich auch Schriftsteller wieder verstärkt essayistisch mit dem Bildungsroman auseinander. So betont Hermann Hesse im Jahre 1911 in seinen Ausführungen unter dem Titel Wilhelm Meisters Lehrjahre, dass Goethes Roman bereits um 1800 zum „Evangelium einer jungen Generation“ (Hesse 2002, 374) avanciert und wie kein anderer Roman zum Vorbild geworden sei, „ohne bis zur Stunde übertroffen, ja erreicht worden zu sein.“ (Hesse 2002, 374) Thomas Mann erklärt in seiner 1923 gehaltenen Rede über Geist und Wesen der deutschen Republik das Entstehen des Bildungsromans aus der Fähigkeit zur Selbstbefragung: „Die schönste Eigenschaft des deutschen Menschen, auch seine berühmteste, auch diejenige, mit der er sich selbst wohl am liebsten schmeichelt, ist seine Innerlichkeit. Nicht umsonst hat er der Welt die geistige und hochmenschliche Kunstgattung des Bildungs- und Entwicklungsromanes geschenkt, den er dem Romantypus westlicher Gesellschaftskritik als sein Eigenstes entgegenstellte, und der immer zugleich auch Autobiographie, Bekenntnis ist.“ (Mann 1993, 218) Bildung versteht Mann als ein „individualistisches Kulturgewissen“, also eine Errungenschaft, die sich zwar in einer spezifischen historischen Zeit „pietistischer, autobiographisch-bekenntnisfroher und persönlicher Kultur“ entwickelt hat, sich aber nun durchaus als Grundcharakter „des deutschen Menschen“ verstehen lässt, der „auf Pflege, Formung, Vertiefung und Vollendung des eigenen Ich, oder, religiös gesprochen, auf Rettung und Rechtfertigung des eigenen Lebens“ (Mann 1993, 218) ausgerichtet ist. Demgegenüber hat Robert Musil in nachgelassenen Aufzeichnungen die enge Verknüpfung der Gattung mit Goethes herausgehobenem Roman auf den Punkt gebracht, indem er lapidar notierte: „Wenn Bildungsroman gesagt wird, schwebt Meister mit“ (Musil 1983, 830).
Kanonisierung von Wilhelm Meisters Lehrjahre als Höhepunkt deutscher Prosa
In umfänglichen philologischen und geistesgeschichtlichen Studien wurde Goethes Roman als Höhepunkt deutscher Prosa kanonisiert. Max Wundt (1879 – 1963) konzediert in seiner umfassenden Studie Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen Lebensideals (1913), dass es zwar Wielands Verdienst war, „den Bildungsroman in seiner fertigen Gestalt geschaffen zu haben“ (Wundt 1913, 56), meint aber, dass Goethes Werk höher zu bewerten sei, weil in ihm „alle Formen der Gattung“ (Wundt 1913, 68) gestaltet sind. Auch Friedrich Gundolf stellt in seiner einflussreichen Monographie mit dem schlichten Titel Goethe (1916) fest: „Bildung ist nicht nur der Gegenstand und die Richtung, sondern auch der Stil und der Gehalt des vollendeten Romans geworden. Das Werk ist der bisherige Höhepunkt deutscher darstellender Prosa“ (Gundolf 1920, 520). In seiner im selben Jahr wie Gundolfs Monographie publizierten Theorie des Romans (1916) hat Georg Lukács (1885 – 1971) Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als herausragendes Beispiel eines Romantypus behandelt, für den „der zielbewußte und zielsichere Wille zur Bildung“ (Lukács 1963, 120) charakteristisch sei. Goethes Bildungsroman wurde aber nicht nur im Hinblick auf die Gegenwart als Gründungstext einer Tradition, sondern bald auch als Zielpunkt der Literaturentwicklung seit dem Mittelalter gesehen. In ihrer literarhistorisch und gattungstypologisch orientierten Studie Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes ,Wilhelm Meister‘ (1926) entwickelt Melitta Gerhard von Wolfram von Eschenbachs Parzival ausgehend einen Traditionszusammenhang von Entwicklungsromanen, auf denen Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als erster vollgültiger Bildungsroman aufbaut. Wie nie zuvor werde in ihm erstmals das Zusammenwirken von individueller und gesellschaftlicher Wirklichkeit zum Thema: „Und so sehen wir in Goethes Roman für das Problem der Entwicklung des Einzelnen neben dem Ziel der harmonischen Ausbildung des Individuums zugleich das Ziel einer neuen allgemeinen Ordnung der chaotisch gewordenen Welt aufgerichtet.“ (Gerhard 1926, 159f.) Ernst Ludwig Stahl betont in seiner geistesgeschichtlich ausgerichteten Studie Die religiöse und humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert (1934), dass die „Idee des Werdens, und zwar des Werdens in einem bestimmten Sinne und auf ein bestimmtes Ziel hin“ (Stahl 1970, 116), nämlich auf ein harmonisches Ende, das Entscheidende sei. In vergleichbarer Weise meint auch Hans H. Borcherdt in seiner monumentalen Goethe-Monographie, dass Wilhelm Meisters Lehrjahre „der vollendete Ausdruck des klassischen Bildungsgedankens“ (Borcherdt 1949, 265) sei und darin eine organisch-harmonische Bildungsidee verwirklicht werde. Er meint sogar, dass die von ihm untersuchten Bildungsromane der Goethezeit als „ewige Antworten auf die Frage nach der deutschen Lebensform“ (Borcherdt 1949, 265) zu verstehen seien. Die zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts formulierten historischen Untersuchungsansätze, mit denen der Bildungsroman aus dem geistesgeschichtlichen Kontext des späten 18. Jahrhunderts erklärt wurde, können demnach als ,Arbeit an der Klassik‘ verstanden werden, mit der versucht wurde, im Rekurs auf die wertgeschätzte Literatur einen deutschen Nationalcharakter zu begründen.
Kritische Forschungsansätze
Wie sehr die Forschungsgeschichte zum Bildungsroman nicht nur Ausdruck zeitspezifischer Orientierungsbedürfnisse ist, sondern auch Entwicklungen im Fach Germanistik widerspiegelt, machen die dezidiert forschungskritischen Ansätze deutlich, die mit den 1960er Jahren aufkamen. Bereits Fritz Martini verwahrt sich in seinem Beitrag Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie (1961) dagegen, allein Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als exemplarisches Beispiel anzusehen, weil dadurch die Gewordenheit und historische Form des Romans aus dem Blick geraten würden. Er weist nach, dass nicht erst Dilthey den Begriff Bildungsroman einführte, wie dies die Forschung bis zu diesem Zeitpunkt vielfach angenommen hatte, sondern er von Karl von Morgenstern bereits in seinem Aufsatz Beiträge für Freunde der Philosophie (1817) für die Kennzeichnung der Romane Friedrich Maximilian Klingers benutzt und in zwei weiteren Vorträgen aus den Jahren 1819 und 1820 systematisch entfaltet worden war. Vor allem mahnt Martini an, dass die Tradition dieser „deutschen Romanform“ (Martini 1961, 63) auf ihre geschichtlichen Wandlungen und Brüche hin untersucht werden müsse. Auch Herbert Seidler moniert in seiner Studie Wandlungen des deutschen Bildungsromans im 19. Jahrhundert (1961), dass der deutsche Bildungsroman des 19. Jahrhunderts zu sehr im Schatten von Wilhelm Meisters Lehrjahre gestanden habe und deshalb die gattungstypologisch relevante Eigenart der späteren Romane nicht genügend bedacht worden seien. Er schlägt vor, Bildungsromane mit Hilfe neuer Kategorien, etwa der des Raumes, zu untersuchen. Mit Lothar Köhns Forschungsbericht Entwicklungs- und Bildungsroman (1969), in dem die Definitionen zum Bildungsroman und dessen Geschichte in Einzelbeispielen von Grimmelshausens Der abentheuerliche Simplicissimus bis zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften vorgestellt werden, ist eine Wende hin zu Überblicksdarstellungen angezeigt, die auch Romane des 20. Jahrhunderts mit einbeziehen.
Vorschläge für neue Kategorien
Bereits durch den Titel Wilhelm Meister und seine Brüder (1972) betont Jürgen Jacobs mit seiner Monographie, dass auch er Goethes Roman als prägendes Muster der Gattung ansieht. Er wählt einen geistesgeschichtlichen Untersuchungsansatz, weil er meint, dass sich der Bildungsroman nur aus der „optimistischen Mentalität des Bürgertums“ (Jacobs 1972, 274) verstehen lasse. Monika Schrader kritisiert in ihrer Studie Mimesis und Poiesis (1975) hingegen, dass sich die Forschung noch immer auf Diltheys inhaltliche Bestimmungen des Bildungsromans beruft und damit einem „scheinbar unausrottbare[n] Konservatismus“ (Schrader 1975, 1) verfangen bleibt. Wenn sie allerdings kategorisch meint, „nicht die Literaturtheorie kann Ausgangspunkt und Basis ästhetischer Gattungsdefinition sein, sondern allein die Praxis der Kunstwerke selbst“ (Schrader 1975, 3), so wird außer Acht gelassen, dass sich die Gattungsbestimmungen immer schon an Romanen orientiert haben. Nach der Teilung Deutschlands begann in der DDR eine Auseinandersetzung mit den Bildungsromanen im Dienste des Versuchs, selbst „eine Romanart von nationalliterarischer Repräsentanz zu schaffen“ (Taschner 1981, 1). Zur gleichen Zeit setzte in der Bundesrepublik eine kritische Revision bisheriger Forschungsansätze ein, und es erschienen neben Überblickswerken einführende Kompendien und Arbeitsbücher für den universitären Unterricht.
Systematische Abhandlungen
So wurde in den 1980er Jahren die Kritik an der bisherigen Forschungspraxis zum Bildungsroman auch in zahlreichen systematischen Abhandlungen formuliert. Rolf-Peter Janz weist in seinem Artikel zum Bildungsroman in der Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1980) darauf hin, „daß Goethes Roman überwiegend und zu Unrecht als Idealfall eines bürgerlichen Lebenslaufs gelesen worden ist.“ (Janz 1980, 163) Auch Klaus-Dieter Sorg wendet sich in seinem Buch Gebrochene Teleologie (1983) gegen die Vorstellung, dass der Bildungsroman auf ein eindeutiges Ziel hin angelegt sei. Für ihn ist vielmehr eine unaufhebbare Antinomie von umgreifender gesellschaftlicher Ordnung und individueller Spontaneität gattungsbestimmend. Er schlägt vor, nicht mehr von Goethes Bildungsroman auszugehen, sondern diesen umgekehrt von den nachfolgenden Romanen aus neu zu lesen. Wilhelm Meisters Lehrjahre solle auf die Elemente hin untersucht werden, die von den späteren Romanen imitierend, kontrastierend und persiflierend aufgenommen wurden, da dadurch die Vielfalt in der Gattungstradition in den Blick gehoben werden könne.
Einführende Werke
Rolf Selbmanns Kompendium Der deutsche Bildungsroman (1984), in dem der Forschungsstand mit annotierter Bibliographie dargelegt ist und das für eine zweite Auflage überarbeitet und erweitert wurde (1994), ist Ausdruck des gewachsenen Interesses am Bildungsroman als Gegenstand der universitären Lehre. Wie bereits in seiner Studie Theater im Roman (1981) sieht Selbmann das grundsätzliche Dilemma der Forschung darin, dass Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als Muster eingesetzt wurde und deshalb die unmittelbar folgenden Romane wie Jean Pauls Titan, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr, die ebenfalls als Bildungsromane kanonisiert wurden, den ursprünglichen Gattungskriterien nicht mehr in vollem Umfang genügen können. Die Textsammlung Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans (1988), die von Selbmann verdienstvollerweise herausgegeben wurde, ermöglicht den raschen Zugriff auf verstreut publizierte und teilweise schwer zugängliche Quellen zur Gattungsbestimmung des Bildungsromans. In der Einführung zu dieser Sammlung betont Selbmann, dass der deutsche Bildungsroman innerhalb der allgemeinen Romangeschichte einen zentralen Platz einnimmt, vertritt aber zugleich die These, dass bei Morgensterns Einführung des Begriffs Bildungsroman „der so definierte Roman eine längst eingeführte Gattung“ (Selbmann 1988, 1) gewesen sei und sich das poetologische Interesse daran bereits im 19. Jahrhundert überlebt habe. Sehr richtig stellt er fest, dass sich spätestens bei Dilthey die gattungstypologischen Bestimmungen zum Bildungsroman nur noch auf historische und nicht mehr auf zeitgenössische Romane beziehen, und benennt damit eine eklatante Forschungslücke. Denn im 20. Jahrhundert erschien eine große Zahl von Romanen, die sich der Gattung Bildungsroman zuordnen lassen oder zumindest unter diesem Aspekt diskutiert werden können, darunter seit den 1980er Jahren auch Romane, die sich mit Migrationserfahrungen auseinandersetzen. Es fehlen jedoch weitgehend gattungstypologisch angelegte Monographien, welche die spezifische Neuartigkeit dieser Bildungsromane bestimmen.
Forderung nach Ausweitung der Gattungsbestimmungen
Selbmann schlägt vor, den Bildungsroman nicht mehr unter dem Anspruch zu erfassen, dass die Bildung inhaltliche und erzählstrategische Substanz für den gesamten Roman sein müsse, sondern plädiert für den Begriff „Bildungsgeschichte“, um ihn auf all diejenigen Romane anwenden zu können, „bei denen Bildungsstrukturen, -themen und -motive auftauchen“ (Selbmann 1988, 41). Zunehmend wird die Ausweitung der Gattungsbestimmungen gefordert. Die von Jürgen Jacobs und Markus Krause verfasste Einführung Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1989) stellt grundlegende Bestimmungen zum Gattungsbegriff vor und behandelt ausgehend von Wielands Geschichte des Agathon ausführlich paradigmatische Bildungsromane vor dem Hintergrund eines jeweils knapp umrissenen sozialgeschichtlichen Kontextes. Die Autoren beenden ihre Analysen mit Thomas Manns Zauberberg und kommen zu dem nach unseren Recherchen und gattungstypologischen Kennzeichnungen inakzeptablen Schluss: „Nach 1945 spielte der Bildungsroman in der Literatur der westlichen deutschsprachigen Länder, anders als in der DDR, kaum noch eine Rolle.“ (Jacobs/Krause 1989, 231) Einen weiteren groß angelegten Überblick zum Bildungsroman hat Gerhart Mayer mit seiner Studie Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (1992) vorgelegt. Er hält die Ausrichtung an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre für eine unproduktive Verengung, da sich ein wissenschaftliches Konstrukt wie der Strukturtypus Bildungsroman niemals mit einem Roman in Einklang bringen lasse. Er votiert für eine Flexibilisierung der gattungstypologischen Bestimmungen, „um der historischen Wandelbarkeit der Romanart gerecht werden zu können.“ (Mayer 1992, 15) So stellt er erstmals eine beträchtliche Anzahl von Romanen des 20. Jahrhunderts unter Gattungsgesichtspunkten zusammen, lässt aber bei der Zuordnung von Bildungsromanen und Anti-Bildungsromanen zu unterschiedlichen Strukturtypen, insbesondere aber bei der Darstellung historisch variabler Merkmale, an Systematik zu wünschen übrig. In jüngster Zeit sind demgegenüber zwei diachron angelegte, so knappe wie konzise Studien erschienen, die im Hinblick auf den Zusammenhang von Bild und Bildung (Voßkamp 2004) und unter dem Aspekt der Selbstreflexivität des Protagonisten (Jacobs 2005) jeweils exemplarische Bildungsromane untersuchen.
Bildungsromanforschung in England und Amerika
Es ist auffällig, dass die Forschung zum deutschsprachigen Bildungsroman insbesondere durch Publikationen in England und Amerika wesentlich bereichert und vorangetrieben wurde. Bereits Roy Pascals Überblicksdarstellung unter dem Titel The German Novel (1956) – in der ausgehend von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre anhand exemplarischer Werke des 19. und 20. Jahrhunderts der Bildungsroman als „story of the formation of a character up to the moment when he ceases to be self-centred and becomes society-centred“ (Pascal 1956, 11) behandelt wird – ist als erster richtungsweisender Versuch zu verstehen, den Forschungsstand an ein englischsprachiges Publikum zu vermitteln. Ab Ende der 1970er Jahre setzte dann aber bereits eine kritische Überprüfung der Sekundärliteratur ein. So plädiert Martin Swales in seiner Studie The German Bildungsroman from Wieland to Hesse (1978) für eine Revision überholter Gattungskennzeichnungen, die bereits bei genauer Analyse der kanonisierten Bildungsromane keinen Bestand mehr haben könnten (Swales 1978, 29). Mit seinem geistesgeschichtlichen Ansatz rückt er, wie viele Untersuchungen vor ihm, den Zusammenhang zwischen einem unpolitischen, auf die innere Welt gewendeten deutschen Kulturbegriff und der Vorliebe für den Bildungsroman in den Fokus des Interesses, betont aber, dass die Orientierung auf ein harmonisches Ende kein wesentliches Charakteristikum der Gattung Bildungsroman sein könne. Denn schon Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zeichne sich durch Offenheit und eine vorbehaltvolle Indirektheit der Darstellung aus, weshalb es keine normative Lösung oder gar eine teleologische Struktur geben könne (Swales 1978, 26, 69f.). Michael Beddow sieht in seinem Buch The Fiction of Humanity. Studies in the Bildungsroman from Wieland to Thomas Mann (1982) in der Entwicklung des Protagonisten nicht einmal mehr das Hauptanliegen des Bildungsromans, vielmehr stehe die übergeordnete Idee der Humanität im Zentrum (Beddow 1982, 2). Michael Minden betont in seiner Studie The German Bildungsroman. Incest and Inheritance (1997) nochmals, dass Diltheys Bestimmungen zum Bildungsroman dazu geführt hätten, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre „as a novel of unproblematic personal development“ (Minden 1997, 48) zu charakterisieren und sich zu wenig auf Brüche und problematische Konstellationen einzulassen.
Bildungsromane von Autorinnen
In seiner als Überblick zur Bildungsroman-Forschung angelegten Abhandlung The German Bildungsroman: History of a National Genre (1994) hat Todd Kontje beklagt, dass in den Kanon von Bildungsromanen kaum Texte von Schriftstellerinnen aufgenommen wurden. Dieses Forschungsdesiderat machte er in seiner nachfolgenden Studie Women, the Novel, and the German Nation 1771 – 1871. Domestic Fiction in the Fatherland (1998) zum Untersuchungsgegenstand und befragt, beginnend mit Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) bis zu Eugenie Marlitts Das Geheimnis der alten Mamsell (1868), Romane von Autorinnen nach inhärenten Bildungsaspekten. Er stellt fest, dass von Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts das Genre des Familienromans (domestic fiction) bevorzugt wird, bei dem in der Regel ein auf Heirat und Familiengründung zielender weiblicher Entwicklungsgang zum Thema wird. Da die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft jedoch ohne den Bereich des Privaten mit seiner geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung undenkbar ist, sei der Familienroman, so seine These, als andere Seite des männlichen Bildungsromans zu verstehen. Zu den im Umfeld von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre entstandenen Familienromanen zählt er Caroline von Wolzogens Agnes von Lilien (1796 – 97), Friederike Helene Ungers Julchen Grünthal (1784) und Therese Hubers Familie Seldorf (1795 – 96), Sophie Mereaus Das Blüthenalter der Empfindung (1794) sowie Johanna Schopenhauers Gabriele (1819) und bezieht sich damit auf Romane, die bereits von der feministischen Literaturwissenschaft der 1970er Jahre und der Gender-Forschung seit den 1980er Jahren untersucht worden sind (Gallas/Heuser 1990).
Weibliche Bildungsromane
Mit den zahlreichen Einzeluntersuchungen zur Funktion von Frauenfiguren für den Bildungsgang des männlichen Protagonisten, die verstärkt in den letzten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts erschienen, wurde vereinzelt auch die Frage nach weiblichen Bildungsromanen aufgeworfen (Heuser 1986; Schweitzer/Sitte 1985). Die Tendenz, Bildungsromane von Goethe aus in fortlaufender Reihe darzustellen, wie dies durch Titel wie Wilhelm Meister und seine Brüder (Jacobs 1972) oder Wilhelm Meister und seine Nachfahren (Fuhrmann 2000) angezeigt ist, greift Anja May in ihrer Dissertation Wilhelm Meisters Schwestern (2006) auf, in der sie sich jedoch lediglich auf Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim und Friederike Helene Ungers Julchen Grünthal bezieht, um Kennzeichnungen eines weiblichen Bildungsromans zu erläutern. Eine historisch umfassende, systematische Darstellung weiblicher Bildungsromane – verstanden als Romane, in denen (unabhängig vom Geschlecht des Autors) der Bildungsgang einer weiblichen Hauptfigur gestaltet ist – steht aber weiterhin aus.
Forschungsdesiderate
In der neueren Diskussion zum Bildungsroman wird gefordert, den Begriff Bildungsroman nicht allein auf Werke der deutschsprachigen Literatur anzuwenden. Selbmann hat vorgeschlagen, den deutschen Bildungsroman im Kontext der europäischen Romane zu verorten, denn die Behauptung, dass er eine spezifisch deutsche Prägung sei und eine Sonderform innerhalb der europäischen Romangeschichte darstelle, scheint ihm mit Blick auf Romane wie Dickens’ David Copperfield, Merediths Harry Richmond oder Flauberts L’Education sentimentale fragwürdig. Dass sich die Gattung Bildungsroman auch in anderen Nationalliteraturen herausgebildet hat, wird in neueren Untersuchungen betont (Hillmann/Hühn 2001; Mi-Suk 2000). Als Forschungsaufgabe stellt sich aber darüber hinaus, jene interkulturellen Bildungsromane zu untersuchen, die infolge der Arbeitsmigration nach Deutschland seit den späten 1970er Jahren erschienen sind. Diese Romane thematisieren Bildungswege als kulturübergreifende Integrationsprozesse und verleihen dem gattungstypischen Bildungscurriculum neue Dynamik.
Tendenzen der Forschung zum Bildungsroman
Zusammenfassend können wir sagen, dass bereits seit dem späten 18. Jahrhundert anhand exemplarischer Romane philologisch begründete Kategorien für einen neuen Romantypus erarbeitet wurden, bevor dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die eigentlichen Untersuchungen zum Bildungsroman mit betont geistesgeschichtlichen Ansätzen einsetzten. Der Versuch, in historisierender Manier eine deutsche Bildungstradition aus der Entstehung des Bildungsromans abzuleiten, erlebte in den 1880er Jahren vor allem durch Diltheys Ausführungen einen Höhepunkt und trug wesentlich zur Wertschätzung der Gattung bei. Während sich die Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen zur Entstehung des Bildungsromans und kanonisierten Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts auseinandersetzte, begann seit den 1970er Jahren eine kritische Revision der bisherigen Forschung und die Einbeziehung auch zeitgenössischer Romane. Kennzeichen der Forschungslage ist jedoch geblieben, dass die Bildungsromane des späten 18. und des 19. Jahrhunderts weitaus intensiver erforscht werden als die Romane des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Was bisher fehlt, sind systematische Analysen zum weiblichen und spezielle Untersuchungen zum interkulturellen Bildungsroman. Wenn vielfach moniert wurde, dass neuere Entwicklungen des Bildungsromans immer wieder im Rekurs auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre untersucht wurden, so können wir entgegenhalten, dass dies seine Berechtigung hat. Denn erst durch Goethes Roman kam der Gattung überhaupt herausragende literaturgeschichtliche Wirkungsmächtigkeit zu. Mit ihm steht ein gattungstypologisch vielfach diskutiertes, epochenübergreifendes Grundmuster zur Verfügung, das uns erlaubt, literarhistorisch argumentierend Varianzen und neue Entwicklungen in den Blick zu nehmen.