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3. Abgrenzung des Bildungsromans vom Entwicklungs- und Erziehungsroman
ОглавлениеÜberschneidungen von Entwicklung, Erziehung und Bildung
Ein Roman ist in den seltensten Fällen ausschließlich einem einzigen gattungstypologischen Muster verpflichtet, auch wenn mit seiner Zuordnung zu einer Gattung ein spezifisches Strukturschema als dominant hervorgehoben wird. So weist der Bildungsroman häufig auch Merkmale anderer Romantypen wie des Künstler-, Reise-, Abenteuer-, Schelmen- oder Liebesromans auf. In der Forschung wird bezweifelt, dass sich der Bildungsroman von den beiden ihm affinsten Typen – nämlich dem Entwicklungsroman und dem Erziehungsroman – überhaupt eindeutig differenzieren lasse (Gerhard 1968), oder es wird kurzerhand vorgeschlagen, die drei Romanformen synonym zu gebrauchen (Stanitzek 1988, 421), zumal sich die Begriffe Entwicklung, Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert nur schwer voneinander abgrenzen ließen. Und tatsächlich zeigt ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch, dass es deutliche Überschneidungen gibt: Entwickeln meint die Entfaltung einer vorgegebenen Anlage (lat. explicare); Erziehen den formenden Eingriff in die natürliche Entwicklung von Menschen, Tieren oder Pflanzen (lat. educere, extrahere); Bilden das Ausbilden einer körperlichen Gestalt oder einer inneren Anlage wie auch einen Stoff in eine Form zu bringen oder ihm ästhetische Gestalt zu geben (lat. effingere, formare). Der um 1800 äußerst populäre Begriff Bildung wurde also in einem ganz komplexen Sinne verwandt und umfasst auch Elemente von Entwicklung und Erziehung. Bildung verweist darüber hinaus aber auf eine kulturschaffende ästhetische Potenz, wie wir dies über die bisherigen Forschungsansätze hinaus durch die Abgrenzung von Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsroman verdeutlichen können.
Entwicklungsroman als Oberbegriff
In der Sekundärliteratur wird die Gattungsbezeichnung Entwicklungsroman vielfach ganz allgemein als Oberbegriff für jene Romane eingesetzt, in denen die Lebensgeschichte eines Protagonisten erzählt wird. Es werden narrative Werke darunter verstanden, „die das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt, seines allmählichen Reifens und Hineinwachsens in die Welt zum Gegenstand haben, wie immer Voraussetzung und Ziel dieses Weges beschaffen sein mag.“ (Gerhard 1968, 1) In Anlehnung an naturwissenschaftlich-biologische Erkenntnisse ist mit Entwicklung die Entfaltung von Anlagen körperlicher, geistiger und seelischer Art unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen gemeint. Als „vorzüglicher Gehalt des Entwicklungsromans“ gilt, dass ein „Lebenslauf bis zum Tode“ (Stahl 1970, 116) dargestellt wird, wobei Etappen eines Weges zur Darstellung kommen, aber kein spezifisches Ziel angegeben wird. Als früheste Vorformen des Bildungsromans gelten in der Forschung zum Entwicklungsroman Wolfram von Eschenbachs mittelalterliches Versepos Parzival (ca. 1200 – 1210) und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Barockroman Der abentheuerliche Simplicissimus (1668), da hier bereits eine Lebensgeschichte durch Phasen der Bewährung gegliedert ist (Gerhard 1968). Wird der Entwicklungsroman als „quasi-überhistorischer Aufbautypus“ (Köhn 1969, 435) verstanden, der sich bis zum höfischen Roman des Mittelalters zurückverfolgen lässt, so kann er auch als grundlegendes Modell für eine im 18. Jahrhundert entstandene Erzählform gelten, bei der einer individuellen Lebensgeschichte paradigmatische Bedeutung für das neue Selbstverständnis des Einzelnen zugesprochen wird. Dieser Romantypus folgt entweder dem Modell einer fiktiven Biographie-Erzählung in der dritten Person oder er orientiert sich an der Form von Autobiographie und Bekenntnisschrift in der Ich-Form. Im Entwicklungsroman ist also die Darstellung des Entwicklungsganges eines Protagonisten zentral, wobei in exemplarischer Weise private Lebensereignisse ohne Anspruch auf historische Wahrheit geschildert werden.
Erziehungsroman
Im Erziehungsroman geht es demgegenüber um die Entwicklung eines Protagonisten auf ein Ziel hin, das durch pädagogische Instanzen vorgegeben ist. Unter Erziehungsroman wird „ein stärker didaktisches Genre, das pädagogische Probleme diskutiert, Erziehungsformen gedanklich entwirft oder exemplarisch veranschaulicht“ (Köhn 1969, 434), verstanden. Erziehung meint hier die Lenkung und Formung eines Zöglings entweder nach einem impliziten oder nicht selten einem geradezu programmatisch formulierten pädagogischen Konzept durch Lehrerfiguren. Bereits bei Aristoteles und in der griechischen Sophistik findet sich die Vorstellung, dass durch erzieherische Anstrengungen eine Naturanlage (gr. physis) durch Übung und Gewohnheit (gr. askesis oder ethos) auf ein Ziel hin ausgerichtet werden soll. Ein grundlegender Neuansatz im Erziehungsdenken wurde in Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman Emil oder über die Erziehung (Émile ou de l’éducation 1762) formuliert. Der französische Philosoph und Pädagoge fordert dort eine naturgemäße Erziehung des Kindes, wobei er der Ansicht ist, dass es vor den negativen Einflüssen einer verderbten Gesellschaft geschützt und vor deren Irrtümern bewahrt werden müsse. Rousseau entwickelt ein Erziehungsmodell, wonach der Zögling durch experimentierende Erprobung und nur unvermerkte Lenkung von Erziehern eine stufenförmige Entwicklung nehmen und das erwünschte Erziehungsziel umfassender Selbstentfaltung erreichen soll. Rousseau hat mit seinem für die deutschsprachige Literatur äußerst wirkungsmächtigen Erziehungsroman bereits die allseitige Ausbildung von Anlagen im Auge, die auch für den Bildungsroman kennzeichnend wurde. Denn bei anderen Erziehungsromanen, etwa Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud (1781 – 87), geht es wesentlich um die Einübung in normativ vorgegebenes Wissen und Verhalten. Dabei spielen auch Sanktionen oder deren Androhung eine nicht unerhebliche Rolle, denn da das Telos der Entwicklung durch pädagogische Instanzen festgesetzt ist, können Abweichungen vom vorgeschriebenen Weg umgehend erkannt und bis hin zur körperlichen Züchtigung geahndet werden. Nicht selten werden im Erziehungsroman aber nicht nur Erziehungskonzepte entwickelt, sondern auch bestehende Erziehungspraktiken einer kritischen Revision unterzogen, um die Unangemessenheit von Erziehungsmodellen und die Notwendigkeit neuer Ideen zur Darstellung zu bringen.
Bildungsroman
Der Bildungsroman hat mit dem Erziehungsroman zunächst einmal gemeinsam, dass eine Hauptfigur im Zentrum steht, die ihre Anlagen stufenweise entfaltet, und zeichnet sich wie der Entwicklungsroman durch die Darstellung eines Reifungsprozesses aus. Entscheidender Unterschied zu den beiden verwandten Romantypen ist jedoch, dass im Bildungsroman die Fähigkeit, das eigene Gewordensein und damit gerade Erziehung und Entwicklung kritisch zu hinterfragen, als grundlegendes Bildungsvermögen zum Thema wird. Bildung umfasst immer einen körperlich-geistigen Reifungsvorgang wie auch eine Auseinandersetzung mit geschlechterdifferenten Rollenvorgaben und kulturspezifischen Wertkontexten. Der Bildungsroman setzt also im Gegensatz zum Erziehungsroman gerade die Herausbildung eigener Ansichten und Wertvorstellungen ins Zentrum und betont das Recht auf einen individuellen Lebensentwurf auch gegenüber gesellschaftlichen Normvorgaben. Weil aber eine Sozialisierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ohne Erziehung schlechterdings nicht denkbar ist, muss sich der Protagonist des Bildungsromans notwendig mit der eigenen Erziehung und familiären Werten beschäftigen, um sich im Dienste eigener Lebensplanung davon lösen zu können. Wir können deshalb sagen, dass der Begriff Bildungsroman einen Romantypus bezeichnet, bei dem die Auseinandersetzung mit Erziehungsvorgaben und die Entfaltung von Bildungsvorstellungen gattungsbestimmend ist.
Bildung als Auseinandersetzung mit Erziehung
Der Bildungsroman enthält also Elemente des Erziehungsromans, die er durch ein implizites Bildungskonzept produktiv transgrediert. Im Unterschied zur Erziehung, bei welcher ein soziokulturell bestimmtes und historisch variables Erziehungsziel vorgegeben wird, geht es bei Bildung nachdrücklich um Individualität und die Möglichkeit freier Selbstentfaltung des sich Bildenden. Weil im Bildungsroman bis auf wenige Ausnahmen über Konflikte und Gefährdungen erzählt wird, die dieser selbst verantworteten Ausbildung notwendig inhärent sind, kann er nicht selbstverständlich auf die harmonische Entwicklung des Protagonisten ausgerichtet sein. Die Endgestalt der Bildung ist nicht im Vorhinein genau beschreibbar, da gerade die Eigentümlichkeit der individuellen Anlage ohne einengende Festlegung ausgeprägt werden soll. Bildung kann mithin kein geradliniger, zielgerichteter Prozess sein, weil auch Umwege, Konflikte, Brüche oder Abweichungen Teil des Bildungsprozesses sind und helfen können, die Eigenart des Einzelnen hervorzubringen.
Bildung und kultureller Wandel
Somit wohnt dem Bildungsroman immer auch ein grenzüberschreitendes, innovatives Moment inne, das auf kulturelle Veränderung hindeutet. Denn der Bildungsgang beinhaltet nicht nur „die kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe einer Gesellschaftskultur“ (Mayer 1992, 12), sondern ist auch der Zufälligkeit von Begegnungen und Lebensereignissen geschuldet, die in ihrer Unkalkulierbarkeit zur Neuorientierung und Revision herausfordern und kreative Energie freisetzen. Wenn demnach mit dem gattungstypologischen Kern des Bildungsromans die freie Entfaltung der inneren Anlagen eines Protagonisten unter den Bedingungen äußerer Einflüsse gefasst wird, so ergibt sich damit gerade in Abgrenzung zum Entwicklungs- und Erziehungsroman eine neue Perspektive. Insofern der Bildungsroman die Auseinandersetzung mit Erziehung als Vermittlungsform kulturspezifischer Werte enthält, formuliert er nämlich auch Vorstellungen über transgenerativen kulturellen Wandel. Unter dem Gattungsbegriff Bildungsroman kann demnach eine nach literaturwissenschaftlichen Kriterien zusammengestellte Gruppe von Romanen gefasst werden, in denen die erzählerische Darstellung des Bildungsweges eines Protagonisten strukturbildend und die Frage nach Bildungsmöglichkeiten in kulturell innovativem Sinne zentral ist. So verstanden ist der Bildungsroman nicht nur ein Roman über die Bildung des Protagonisten, sondern immer auch ein Roman über die Möglichkeiten von Bildung und kulturellem Wandel in einer Gesellschaft.