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2. Herleitung des Begriffs

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Begriffsprägung durch Morgenstern

Der Gattungsbegriff Bildungsroman wurde durch den Ästhetik- und Literaturprofessor Karl von Morgenstern (1770 – 1852) geprägt, der sich in seinen um 1820 erschienenen Vorträgen und Abhandlungen als erster mit dem Wesen des im späten 18. Jahrhundert neu entstandenen Romantypus befasste. Er bestimmte den Bildungsroman als ein umfängliches Erzählwerk, das durch aufklärerische Weltsicht und humanitätsphilosophische Bildungsvorstellungen geprägt ist und für das nicht nur die Bildung eines Protagonisten, sondern auch die des Lesers konstitutiv ist. Dass Morgenstern für die Benennung dieses Typus ein Kompositum aus Bildung und Roman wählte, ist insofern bezeichnend, als dadurch die Wertschätzung von Bildung und zugleich der Aufstieg des Romans im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihren signifikanten Ausdruck finden.

Religiöser Bildungsbegriff

Der Begriff Bildung entstammt ursprünglich der theologischen Sprache und leitet sich in seiner Bedeutung von der grundlegenden Bestimmung des Menschen ab, wie sie im ersten Buch Mose als Schöpfungsgedanke Gottes gefasst ist: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ (1/26). Nach der Genesis ist der Mensch als Geschöpf Gottes untrennbar mit einer geschlechtsspezifischen Bildlichkeit verbunden: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ (1/27). Von dieser alttestamentarischen Idee aus, dass sowohl der männliche wie auch der weibliche Teil der Menschheit durch Ebenbildlichkeit Gottes bestimmt ist, entstand die Imago-dei-Lehre, wonach es Ziel des menschlichen Lebens ist, dem Bild auch tatsächlich gerecht zu werden. Die religiös geprägte anthropologische Bestimmung verwies den Menschen auf ein gottgefälliges Leben, das an den zehn Geboten wie auch der Lehre Christi im Neuen Testament Orientierung finden kann. Dem liegt die Idee zugrunde, dass der Mensch von Natur aus die Anlage zur Gottesebenbildlichkeit in sich trägt, diese durch eine an der Religion orientierte Lebensweise aber erst noch herausbilden muss. Von dieser für das christliche Zeitalter verbindlichen Vorstellung über die menschliche Bestimmung wurde Bildung zu einem Schlüsselbegriff religiöser Erziehung.

Einfluss des Pietismus

Erst im 18. Jahrhundert hat der Begriff durch die protestantische Glaubensrichtung des Pietismus (lat. pietas = Frömmigkeit) eine grundlegende Umdeutung erfahren. Insofern nun die persönliche Glaubensüberzeugung in den Mittelpunkt rückte und das individuelle Empfinden des Gläubigen Zeugnis über die Präsenz Gottes ablegen sollte, erfuhr die Subjektivität des Menschen eine wirkungsmächtige Aufwertung. Gegenüber der Nachahmung vorgegebener Glaubensinhalte und christlicher Werte ging es nun um deren Verinnerlichung. Somit war nicht mehr die Bildung des Einzelnen auf Gott hin entscheidend, sondern seine unverwechselbar einmalige Entwicklung durch innere Bildung, die im Dienste kulturellen Fortschritts zugleich beispielhaft für alle Menschen sein sollte.

Säkularisierung des Bildungsbegriffs

Durch diese Aufwertung der Persönlichkeitsentwicklung wechselte der Bildungsbegriff von der Religion als seinem ursprünglichen Herkunftsbereich nun auch in anthropologische, pädagogische und ästhetische Diskurse über. Denn die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus gut und auf Höherentwicklung angelegt sei, führte zur Ausformulierung neuer Erziehungsprogramme, mit deren Hilfe diese Anlage herausgebildet werden sollte. Vor allem die Erziehung von Kindern wurde neu überdacht, und die Bedeutung weltlicher Erzieher wurde gegenüber der von Priestern und Pfarrern aufgewertet. Es erschienen in großer Zahl neue Theorien zur Erziehung, in denen die Vorstellung grundlegend war, dass Heranwachsende durch Eltern und Lehrer auf ein ethisches Ziel hin unterrichtet werden müssen, das auch im Dienste des Gemeinwohls steht.

Bildung als Veredelung

Der Begriff Bildung wurde zu einem Schlüsselbegriff des 18. Jahrhunderts, wie dies anhand des Wörterbuchs der Brüder Grimm ersichtlich wird. Bildung war sowohl in der Bedeutung von Bild oder Bildnis (lat. imago) bekannt als auch im Sinne der körperlichen Gestalt (lat. forma). Es wurde die Herausbildung von kulturellen Objektivationen (lat. formatio, institutio) darunter verstanden wie auch eine innere Verfeinerung (lat. cultus animi, humanitas). Besonders dieses letztgenannte Verständnis von Bildung als Verbesserung natürlicher Anlagen wurde in der Diskussion um die Neubestimmung des Menschen relevant. Dabei berief man sich auf den Begriff der cultura animi, den Cicero in seiner Schrift Gespräche in Tusculum (Tusculanae disputationes 45 v. Chr.) eingeführt hatte. Der Begriff Kultur, der ursprünglich die Fruchtbarmachung des Bodens (agricultura) meinte, wird dort auf die Veredelung und Vervollkommnung der menschlichen Anlage übertragen: „wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus“ (Cicero 1970, 125). Zwar trägt der Mensch eine Bestimmung zum Guten in sich und ist nach Ciceros Ausführungen „von Natur“ aus „im höchsten Maße begierig und eifrig auf das Edle“ (Cicero 1970, 163), aber seiner Meinung nach kann Belehrung nur auf eine von Lastern gereinigte Seele auch veredelnd wirken. Von diesen Überlegungen aus wurde im 18. Jahrhundert die Vorstellung zentral, dass der Mensch ein bildsames, auf höhere Entwicklung angelegtes Wesen ist, das sich dieser Anlage aber erst durch Unterrichtung bewusst werden muss, um sie überhaupt herausbilden zu können. Die Bildsamkeit des Menschen bezeichnet somit das Vermögen, geistige, emotionale und körperliche Fähigkeiten in einem Lernprozess auf ein ethisches Ziel hin zu verbessern.

Ästhetische Erziehung

Durch die Idee der Bildsamkeit wurden die auf Nützlichkeit und moralische Zielvorgaben ausgerichteten Erziehungsprogramme der Aufklärung überdacht und mit neuer Ausrichtung weiterentwickelt. Denn mit Bildung wurde die Vorstellung verbunden, dass der Einzelne sich nicht nur an vorgegebenen Tugendvorstellungen orientieren, sondern auch die Fähigkeit entwickeln soll, sich mittels der Einbildungskraft ein ethisches Ideal seiner selbst vorzustellen. Dabei wurde der ästhetischen Erziehung herausragende Bedeutung zugesprochen, denn Kunst sollte das Vorstellungsvermögen anregen und über die Darstellung mustergültiger Verhaltensweisen ideale Werte vermitteln. Der Bildungsroman, in dem der Bildungsweg eines Einzelnen in paradigmatischer Weise erzählt wird, konnte damit als Gattung bestimmt werden, die Vorbildliches für die Weiterentwicklung vieler leistet.

Nobilitierung des Romans

Die Bedeutungsverschiebung, die der Bildungsbegriff erfuhr, und die grundlegende Veränderung von Bildungsvorstellungen sind untrennbar mit der Aufwertung des Romans im 18. Jahrhundert verknüpft. Das Wort Roman geht auf den in Frankreich seit dem 12. Jahrhundert geläufigen Begriff romanz zurück, der volkssprachliche Erzählungen bezeichnete, die nicht in der gelehrten lingua latina, sondern in der allgemein verständlicheren lingua romana verfasst waren. Während im Mittelalter und noch bis ins 16. Jahrhundert hinein auch Erzählwerke in Versen als Roman bezeichnet wurden, setzte sich seit dem 17. Jahrhundert die Prosaform durch. Doch die epische Großform Roman galt als Gattung minderen Wertes, da unterstellt wurde, dass ihr keine Prinzipien dichterischen Schreibens zugrunde liegen. Gemäß einem Literaturverständnis, das sich an den Vorgaben der herrschenden Regelpoetiken orientierte, steht der Roman der dichterischen Willkür des Autors offen. Aristoteles hatte in seiner Poetik (ca. 335 v. Chr.) als narrative Gattung lediglich das in Versen verfasste Epos bestimmt. Auch Martin Opitz (1597 – 1639) hält in seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) – der ersten Poetik in deutscher Sprache, die sich noch eng an die antiken Dichtungstheorien anlehnt – an der Versform für Erzählwerke fest. Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) verstand Dichtung dann aber als Teil eines umfassenden Erziehungs- und Bildungsprogramms und plädierte in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) für einen wirkungsästhetischen Ansatz der Literatur, wonach der Leser mittels Dichtung zu einem mündigen Bürger erzogen werden sollte. Gottsched bestimmte zwar das Drama als wichtigste Gattung für die Aufklärung, doch eröffnete sich dadurch auch dem Roman eine neue Chance. Denn insofern der zunächst noch überwiegend im Dienste der Unterhaltung stehende Roman der aufklärerischen Forderung Genüge tat, die Leser zu unterweisen und zu bilden, konnte auch er als hochstehende Gattung akzeptiert werden.

Der Roman als Bildungsmedium

Dass sich der Roman als Kunstform durchsetzte, ist also wesentlich der Debatte um den Stellenwert der ästhetischen Bildung geschuldet. Denn nicht allein wegen seiner ästhetischen Güte, sondern auch aufgrund der Wertschätzung als Bildungsmedium für ein aufgeklärtes Lesepublikum wurde der zuvor gering geachtete Roman innerhalb weniger Jahrzehnte nobilitiert. Vor dem Hintergrund der soziokulturellen Umbrüche zu Ende des 18. Jahrhunderts war mit dem Bildungsroman eine Literaturgattung entstanden, in der Modelle individueller Bildung zum Thema wurden. Die Gattung avancierte insgesamt zu einem zentralen Verständigungsmedium über die Individuationsbedürfnisse und Selbstbestimmungswünsche des aufsteigenden Bürgertums.

Einführung in den Bildungsroman

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