Читать книгу Einführung in den Bildungsroman - Ortrud Gutjahr - Страница 9
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II. Forschungsbericht
1. Erste Gattungsbestimmungen zum Roman im 18. Jahrhundert
Blanckenburgs Versuch über den Roman
Der Bildungsroman gehört zu den fest etablierten, literaturwissenschaftlich intensiv beforschten narrativen Gattungen. Ausgangspunkt jedes Forschungsüberblicks zum Bildungsroman ist Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman aus dem Jahre 1774, obwohl der Gattungsbegriff hier noch gar nicht eingeführt wurde. Doch in dieser ersten systematischen Analyse zu den innovativen Tendenzen des Romans im 18. Jahrhundert werden Bestimmungen vorausgenommen, die später für die Gattung maßgeblich wurden. Der Autor, der mit seinem Traktat eine Anleitung für angehende Romandichter verfassen wollte, wendet sich neben englischen Romanen wie Henry Fieldings Tom Jones (1749) in weiten Teilen der eingehenden Analyse von Christoph Martin Wielands nur wenige Jahre zuvor erschienenem Werk Geschichte des Agathon (1766/67) zu, um die Gattung Roman als wegweisend für die Aufklärung zu profilieren. Blanckenburg stellt fest, dass es hier anders als in früheren Erzählwerken nicht mehr vornehmlich um die Darstellung äußeren Geschehens geht, sondern dass wie nie zuvor das Seelenleben des Protagonisten mit psychologischer Einfühlung geschildert wird.
Neue Bestimmung des Romans durch die „innre Geschichte“
Wielands seinerzeit hoch gelobtes Werk wird für Blanckenburg zum Paradigma eines neuen Romantypus, denn er folgert aus seiner philologischen Analyse verallgemeinernd, dass die „innre Geschichte“ eines Helden als „das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans“ (Blanckenburg 1965, 392) zu gelten habe. Ohne Zweifel ist Blanckenburgs Abhandlung als Ausdruck der gewachsenen Wertschätzung des Romans im 18. Jahrhundert zu sehen, da erstmals ein Roman im Kontext des zeitgenössischen literarischen Feldes in seiner Eigenart bestimmt wurde. Darüber hinaus gewinnt die Studie durch die Kennzeichnung des neuen Romantypus als fiktive Autobiographie, bei der „die Ausbildung, die Formung des Charakters“ (Blanckenburg 1965, 321) in den Mittelpunkt des Erzählens rückt, auch für die spätere Gattungsbestimmung Bedeutung. Denn ohne den Hinweis auf die psychosoziale und mentale Reifung der Hauptfigur als gleichsam „innre Geschichte“ kommen auch spätere Kennzeichnungen des Bildungsromans kaum aus. Blanckenburgs Romantheorie lässt sich somit als Vorform der Forschung zum Bildungsroman verstehen, weil durch die Analyse von Wielands Geschichte des Agathon bereits erste richtungsweisende Gattungskennzeichen herausgestellt wurden.
Bildsamkeit des Protagonisten
Etwas mehr als 20 Jahre nach Blanckenburgs Traktat wurde ein bahnbrechend neues Werk zum unangefochtenen Zentrum der Auseinandersetzung um den innovativen Roman. Bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen wurde Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) als herausragendes Beispiel einer neuen Romankunst gefeiert, wie dies die rege Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit dem Werk eindrücklich belegt. In einer ausführlichen Rezension mit dem Titel Über Goethes Meister hat Friedrich Schlegel (1772 – 1829) im ersten Band des Athenaeum (1798) Wilhelm Meisters Lehrjahre zum Muster eines neuen Romantypus erklärt, bei dem Bildung zum zentralen Thema wird. Der romantische Dichter und Theoretiker kennt den Gattungsbegriff Bildungsroman zwar noch nicht, doch findet auch er Formulierungen, die in der weiteren Forschung aufgegriffen wurden. Nach Schlegel geht es in Goethes Werk um die Thematisierung der Bildung selbst, die „in mannichfachen Beispielen dargestellt, und in einfache Grundsätze zusammengedrängt“ (Schlegel 1967, 143) ist. In einer den Inhalt des Romans ausführlich würdigenden Besprechung verleiht Schlegel seiner Wertschätzung unverblümt Ausdruck: „Hat irgendein Buch einen Genius, so ist es dieses.“ (Schlegel 1967, 134) Er stellt die epochale Bedeutung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre noch deutlicher heraus, indem er die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und eben diesen einzigen Roman als „die größten Tendenzen des Zeitalters“ (Schlegel 1967, 198) bestimmt. Schlegels überaus positive Auslegung fasst nicht allein die Begeisterung in Worte, die der Roman bei vielen Zeitgenossen hervorrief, sondern betont vor allem die Hoffnung, die mit ihm verbunden wurde. Mit diesem Werk schien es erstmals möglich, an das Niveau der englischen, französischen und spanischen Romankunst anzuschließen und zugleich ein eigenständiges deutsches Gepräge zum Ausdruck kommen zu lassen. Demgegenüber mokierte Novalis sich im Jahre 1800 darüber, dass in Goethes Roman lediglich eine prosaische Welt gezeigt werde: „Das Romantische geht darinn zu Grunde – auch die Naturpo sie, das Wunderbare – Er handelt blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen – die Natur und der Mystizism sind ganz vergessen.“ (Novalis 1968, 638f.) Trotz seiner durchaus kritischen Würdigung von Goethes Roman in den Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (1798) hat jedoch auch Novalis schon früh erkannt, dass der Autor von Wilhelm Meisters Lehrjahre „vielleicht schon musterhafter, als es scheint“ (Novalis 1965, 642) geworden ist.