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Erstes Kapitel

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Als Hermine Johannes gerade am Ostersonntage geboren wurde, vergaß ihr Vater all seinen Ernst und seine Schweigsamkeit, wollte die Sonne wirklich in drei Sprüngen aufgehen gesehen haben und deutete aus der Wichtigkeit des Tages für das Kind alles Glück heraus. Seine gebogene Nase soll nach der Großmutter Behauptung recht anzuschauen gewesen sein wie der Haken eines Ankers, der tief in der Zukunft steckt. Die Mutter zweifelte und sagte ganz leise, daß die bevorzugten Sonntagskinder nur in Märchen zu finden wären. Weil Herr Johannes nun andern Tages krank wurde und bald starb, meinten alte weise Frauen, die von seinem veränderten Wesen bei Hermines Geburt gehört hatten, ihm habe sich der Himmel geöffnet, und dann müsse man dahin.

Aber die Mutter blieb bei ihrem Sinn und stimmte gleich und willig zu, als man sie nach Jahren darauf aufmerksam machen wollte, daß die Augen ihres Kindes trauriger seien als die eines sterbenden Rehes: „So lange sie lebt, war oft Regenwetter; sie hat die Welt zu selten froh und glänzend gesehen.“ Hinter diesen scherzenden Worten prüfte sie sich streng, ob ihr stilles Herz wohl die Ursache der Traurigkeit sein möchte, achtete seitdem eine Zeitlang sorgfältig auf alle frohen Stunden Hermines und atmete jedesmal erleichtert auf, wenn eine kam. Watete Hermine mit ihrem älteren Spielgefährten und Getreuen Edwin Maßholder im Wasser nach Kaulquappen oder stürmte mit ihm die Dorfstraße nach Maikäfern hinab, ja dann waren ihre Augen klarer als die dort hinten in der Sonne gleißenden Scheiben. Und ein Tag kam, da strahlten sie vollends wie ein Wunder. Eine Komödiantentruppe mit allerhand fremden Tieren zog vorüber. Der Tanzzottelbär und besonders der Drehorgel spielende Elefant gefielen Hermine so sehr, daß sie mit Edwin den Ausländern bis Abend Gefolgschaft leistete und Frau Katharina, besorgt um die Tochter, ihre Milch über den Rand der Schüsseln goß. Schließlich hüpften die beiden kleinen Vagabunden Hand in Hand durch die Tür. Da betrachtete Frau Johannes Hermine und sagte: „Du hast doch Augen wie – wie ein —“  „wie ein Sonntagskind,“ ergänzte Edwin altklug. Frau Katharina lachte laut mit den Kindern, und ein abendlicher Lichtstrom verklärte die blanken Zahngatter der fröhlichen drei, denn eben lugte die Sonne, die schon tief im Storchneste des Scheunendaches saß, durch blaue Wolkenschleier. „Sie scheint dich wirklich als Patenkind anzuerkennen,“ nickte Frau Johannes freundlich nach dem roten Viertelkreis hinüber. – Gleichwohl war Hermine fast alle Tage ihr Sorgenkind, und wenn sie solcher kleinen Zufälle einmal gedachte, senkte sich ihr Bitternis in die Seele, weil sie in ihnen einen Hohn des Schicksals erblickte. Ihr Kind erschien unter der Dorfjugend durch manche Seltsamkeiten wie ein weißer Rabe unter lauter schwarzen. Bei einem Gewitter schweifte Hermine herum, während die Mutter sich ängstigte, stieg bei Nachbaren in die Krone eines hohen Birnbaumes und konnte nicht widerstehen, in Regen und Donner ein süßes Mahl zu halten. Noch ehe das Wetter vorüber war, holte sie bleich vor Schrecken ihre Geburtstagspfennige, in der Absicht, die gestohlenen Früchte zu bezahlen. Zwar hätte sie sich entsetzlich gefürchtet, aber die tags zuvor in der Schule gelernte Geschichte von der Sintflut erproben wollen. Ein andermal beunruhigte sie nachts die Mutter dadurch, daß sie schlaflos ihr Deckbett wieder und wieder wendete, seufzte, stöhnte und sich gebärdete wie eine Kranke. Sie hatte von dem Volksaberglauben gehört, man könne um Mitternacht in den Augen eines einsam heulenden Hofhundes, wenn man ihm die Ohren rückwärts zerre, vorüberschwirrende Geister gespiegelt erblicken, und sie schwankte, ob sie einen Versuch wagen sollte.

Durch solcherlei Eigenheiten ihrer Natur wurde sie die wahre Ursache der zweiten Heirat ihrer Mutter. Diese lernte einen entfernten Verwandten der befreundeten Familie Maßholder kennen, des Nachbarstädtchens reichsten Kaufmann Dagott. Breit und groß, ungeschlacht und übertrieben langsam in seinen Bewegungen, in seinen Worten von einer gewissen singenden Gutmütigkeit und Weitschweifigkeit, mißfiel er ihr, die in alledem eher das Gegenteil darstellte. Weil er ihr aber freundlich und in Kleinigkeiten mit rührender Gemütlichkeit den Hof machte, ließ sie die Erwägung, ihrer doch schon dreizehnjährigen Tochter die Möglichkeit einer besseren, sichereren Erziehung, den Eintritt in einen weiteren, lichteren Kreis zu öffnen, den Ausschlag geben und beschloß ihn zu ehelichen. Sie machte sich den Gedanken der Übersiedelung in die bequemere Stadt vertraut und lieb und wäre schließlich nur ungern in der Einsamkeit geblieben. Trotzdem zwang ihre ehrliche Natur sie, Dagott vorher zu gestehen, warum hauptsächlich sie die Ehe einzugehen bereit sein würde. Als nun Dagott mit täppischer Liebenswürdigkeit, mit Hand- und Stirnküssen sich unermüdlich um Hermine drehte und bei dieser zu der Mutter Ärger von Anfang an auf ein kalt verwundertes, abweisendes Benehmen stieß, gewann ihn Frau Katharina aus Mitleid darüber und befreit durch ihr Geständnis wirklich lieb und schloß bald den Bund.

An einem Wintertage wurde ihre ganze Habe aus dem Dörfchen gefahren, und nicht lange vor der Dämmerung erschien Dagott im stattlichen Schlitten, sie selbst samt Hermine in die neue Heimstatt zu holen. Während er im Pelz in ihrer leeren Stube stand, zweifelte sie doch wieder, ob er ihr zum Gemahl tauge und Hermine zum Stiefvater. Die Bequemlichkeit ihrer Wohnung war verschwunden, und lenkte bisher mancher Gegenstand mit Erinnerungen an vergangene schöne Tage oder angenehme Gewohnheiten ab, so versammelten sich jetzt alle Gedanken auf Dagott. Er lächelte immer wieder kopfnickend Hermine an.

Seine Augen, klein, rund und wässerig hell, schielten ein wenig und schienen nicht in die Weite dringen zu können. Sie sahen vielmehr aus, als hielte ein blanker Knopf an der Uniform eines Hampelmannes, welcher zwei Schritte vor ihnen schwebte, sie immerwährend drollig gebannt. In Abständen flackerte in ihnen etwas Geheimnisvolles auf, das dann die niedrige Stirn in sanfte Falten zog, vor der weitgespannten, seltsam platten Wölbung des kahlen Schädels und ihrer dumpfen Reglosigkeit Halt machend. Das graue, sauber beschnittene Bartgekräusel an den Wangen, schräg bis über das Kinn gestreckt, doch dieses selbst freilassend, gab dem Gesicht etwas Dreieckiges, und all sein freudiger Ausdruck schien naiv durch einen Moosrahmen zu gucken.

Hermine wollte gar nicht Vater zu diesem Manne sagen und begriff nicht, wie ihre Mutter, die solche zierliche Gestalt, solch schmales Köpfchen voll schönem Braunhaar, solch kleines Kinn besaß, an seinem Arm zum Schlitten schreiten konnte. Sie mußte erst dreimal angerufen werden, ehe sie auch auf dem Polster Platz nahm. Ein großer buntgestreifter Ball, den sie noch im Händchen hielt, fiel beim Anziehen der Pferde herunter und blieb einsam auf dem Hofe liegen. Dagott war schuld daran, daß er fiel; warum peitschte er! Ein Haßgefühl fuhr in ihr hoch wie zischender Wasserdampf.

Dann pfiff der Wind von der Seite und schlug mit lahmen unsichtbaren Flügeln ins Gesicht, und dazu schallten die Messingglocken auf den Pferderücken, gleichmäßig, ununterbrochen, einlullend.

Hermine gähnte und schloß ihre Augen. Sie fühlte sich zwar müde, weil in der vorigen Nacht der Hauskater nicht ruhig auf ihrem Kopfkissen liegen wollte, schlief aber nicht. Dazu war es zu kühl, und außerdem wollte sie hören, was die beiden großen Leute, zwischen denen sie saß, erzählen würden. Aber sie mußte lange warten, wurde verdrießlich und dichtete vor Langeweile Dagott so viele Narrheiten an, daß sie die Nase rümpfte und ihn mit der Zunge anzublecken Lust verspürte. Oberhalb der Handschuhe wurden ihre Gelenke von den weichen Haaren der Schlittendecke berührt, und bei jeder Schwankung des Gefährtes fuhr ihr Kopf entweder nach rechts gegen den Pelzkragen der Mutter oder nach links gegen den des neuen Vaters, den ihre Schläfe noch gerade erreichte. Auch wenn sie die Füße vorstreckte, fühlte es sich weich an. Weil der Wind manchmal schneidend dahergefahren kam, ärgerte sie jedesmal die seidige Berührung, die dazu nicht passen wollte: prallte sie gegen Dagott, grollte sie ihm, weil sie neben ihm sitzen und hinausjagen mußte, schwankte sie gegen die Mutter, zürnte sie dieser, daß sie mit Dagott fuhr. Dabei schied sie nicht ungern von ihrem Heimatdörfchen. Was sie dort besessen, vermißte sie vor Erwartung des zukünftigen Neuen noch nicht. Nur konnte diese Erwartung sich nicht freudig in ihr ausbreiten, und als Dagott zu erzählen begann, wie sich das Leben drinnen in der Stadt gestalten würde, horchte sie zwar auf, ließ jedoch die Augen mit einem Reste von Gleichgiltigkeit geschlossen und kniff sie bisweilen unter leiser Schmerzempfindung fester zu. Den warmen Ofen, der jetzt nach der Fahrt die Stube behaglich machen würde, konnte sie sich nicht anders als plump, aus stumpfbraunen Kacheln gesetzt, mehr breit als hoch und angefüllt mit einem Berge dicker, stinkender und qualmender Kohlenblöcke vorstellen, – weil dieser Mann davon erzählte. Als er schwieg, öffnete sie einen Augenblick die Wimpern. Doch Dagott redete weiter von dem jungen Lehrer Karp, der ihnen ein Abendbrot warmhalten würde, da die Aufwärterin schon früh zu ihrem kleinen Kinde gehen müßte. Karp wirtschafte einmal gern in der Küche, wie er schon als Knabe getan, und wisse idyllische Erinnerungen aus seiner Kindheit mit großer Herzlichkeit vorzutragen. Darum sei er trotz des Altersunterschiedes Dagotts Freund geworden. Im übrigen – Karp schweige am liebsten. Er solle Hermine wie gesagt Privatunterricht erteilen, zusammen mit Elisabeth, der Tochter des Bürgermeisters Pfeiffer, und werde gewiß ihr bester Lehrer sein. Sobald Hermine ihren Namen aussprechen hörte, fühlte sie Dagott sich ihr zuwenden, und richtig verlangte er wieder, wie so oft, einen Kuß von ihr. Es zuckte ihr einen Augenblick in den Lidern, dann öffneten sie sich gegen ihren Willen, gerade als sie überlegte, ob sie sich schlafend stellen sollte. Bei dem widrigen Kusse kam es wieder zu der weichen Berührung mit dem Pelze, und diesmal drückte er sich eisig an die Wange. Sofort schloß Hermine wieder ihre Augen, nun mit Absicht und trotzigem Gesichte. Sie wünschte, jemand möchte es wahrnehmen und fragen, ob sie böse sei. Sie biß die Zähne aufeinander und stemmte die Füße gegen die Vorderwand des Schlittens. Wenn die Schuhe so fest und andauernd nach vorn gedrückt wurden, war von der weichen Decke nichts zu spüren. Nach einer Weile flüsterte Dagott: „Pst! Sie schläft!“ In Hermines Seele wurde es ganz kalt, aber ihr Herz schlug heftiger. Einige Krähenschreie drangen an ihr Ohr. Sie suchte sich den Lehrer Karp vorzustellen, der ihnen das Essen warmhielt, sah aber nur zwei sehr blanke, große Stiefelspitzen unter weißer Küchenschürze hervorleuchten, während sich das Gesicht nicht enthüllen wollte. Gewiß würde er ihr ein sehr guter Lehrer sein, bloß, daß er mit Dagott verkehrte, war unrecht. Dann saß er vor ihr, hielt eine pechschwarze Schiefertafel auf seiner Schürze im Schoß und rechnete mit nachdenklichem Gesicht, den Stift in milchzarter Hand, eine Aufgabe nach. Ja, diese sinnenden Augen und diesen dunklen Vollbart würde er haben. Sie wollte auch lieber als auf der Dorfschule zum Unterricht gehen. So rückte eben ihre trotzig-kalte Stimmung in einem etwas wärmeren wehmütigen Sichbescheiden zusammen, als Dagott wiederum etwas flüsterte, das ihr klang: „ß—ß—ß— die Stadt!“ Sie öffnete erschrocken die Augen und war schon so schläfrig geworden, daß sie das Schließen derselben vergaß. Aber der Haß gegen Dagott, den sie nun nicht mehr beachtete, saß breit in ihr und verschlang den Keim jeder anderen Empfindung.

Da lag die Stadt in geräumigem Kesseltal, düster gegen das Schneefeld und den grauwolkigen Himmel abgehoben. Die dunklen Massen flossen ineinander über. Das Ganze sah Hermine aus wie ein großer Mantel, der über einen eckigen Gegenstand hingebreitet ist und durch den sich viele Messer steif in die Höhe gebohrt haben. Diese Erhebungen waren die durch die Gärten zahlreich zerstreuten Pappeln und der Kirchturm. Und der dunkle doppelte See starrte unten im Osten wie ein großer, bis an den Rand versenkter Paartopf voll geronnenem Blut. Hermine hatte bisher erst zwei, nach der entgegengesetzten Richtung gelegene Nachbarstädte ihres Geburtsdorfes kennen gelernt, die ihr gar wohl gefielen. Der Anblick dieser beklemmte. Sie konnte sich hier nur ein gedrücktes Leben erwarten unter Leuten nach dem Bilde und der Weise Dagotts.

In Wirklichkeit aber waren hier zum größten Teil frohe, gesunde und fleißige Menschen ansässig, manchmal ländlichen Sitten noch angenähert. Viele Behörden und Beamte gab es nicht; in jedem Jahre wurden nur wenige Gerichtstage von auswärtigen Richtern abgehalten. Am Ostrande, ein wenig außerhalb, hatten noch viele Ackerbürger ihre Scheunen und Stallungen, und in jenem schwarzen See gab es Sommers wohl auch heitere Spiele, wenn etwa Kahnfahrer von den in die Schwemme gerittenen Pferden angeprustet und von übermütigen Knechten bespritzt wurden.

Als die drei in die Stadt einfuhren, begann es zu schneien. Aber der Wind zerstörte allen Frieden rieselnder, schwebender Flocken. Es war auch schon dämmerig geworden, und Hermine konnte nur mit Anstrengung verfolgen, wie diese schneeigen Motten herumwirbelten und auf roten Dächern und an Mauern in schwarze Sterne versprangen. Einige Zeit darauf hafteten ihre Augen überall kälter, doch länger auf nassen, angedunkelten Flächen. Zwei gebukelte Fenster schoben sich wie große müde Glotzaugen durch den grauweißen, wehenden Schleier. Ein leiser Flor schien um alle Gegenstände gewickelt, selbst um die Leiber der langsam ausgreifenden Pferde. Die acht Beine spielten in zuckender Verwirrung durcheinander wie in einem Netze. Die Schellen klangen ungleichmäßiger, mindestens wesentlich lauter als auf dem freien Felde, und manchmal schien es, als weckten sie ein Echo. Hermine glaubte auf einem Schornstein, der, von halbkreisförmig gebogenem Blech wie von einer Nonnenkapuze überwölbt, seltsame Rauchkringel ausströmte, eine geduckte Gestalt zu sehen, die ebenfalls ein Geläut in Händen hielt, mit dem zahnlosen Kopfe wackelte und schließlich im Rauche dem Schlitten nachgeschwebt kam. Sie seufzte.

Die ersten Straßen waren leer, nur lief ein langhaariger Hund vor den Ankömmlingen über das Pflaster, sah sich beinahe scheu nach ihnen um und bellte nicht einmal. Manche Quergäßchen waren hügelig angelegt, ihre kleinen Häuser unregelmäßig gebaut. Ziemlich viele schattige Winkel ließen ein phantastisches Aussehen des Städtchens ahnen, wider alle Wirklichkeit. Hermine erquälte sich ein häßliches Bild, da ihr in der Ermüdung die alte Heimat nun schon verklärt aufstieg, die diesen neuen Ort durchstöbernden Flocken hingegen wie kleine eisige Hände über die Backen fuhren und das ungewisse Licht wirklich allen Reiz verdrängte. Bei vielen Häusern standen Bäume; deren Äste falteten sich manchmal wie lange, hagere, schwarze Finger über niederen Dächern. Und die vielen Pappeln in den Gärten starrten wie schlanke Riesen, die ihre Hände eng an die Beine drücken und unheimlich in den leise zischenden Wind hinaushorchen.

War aber auch das dort nur erfabelt? Auf dem Dache eines Hauses am Kirchhofe huschte eine dunkle, anscheinend männliche Gestalt mit einer Laterne in der Hand krumm dahin. Hermine erschrak. Dagott erklärte heiser: „Das ist der Totengräber Grelert. Er hat sich da oben einen Taubenschlag angelegt und geht nachsehen, ob alles zur Nachtruhe in Ordnung ist. – Der sonderbare Kauz ist ja beinahe unser Nachbar.“

Hermine war froh, daß sie wirklich gleich absteigen durfte. Mit welchen Menschen sollte sie doch zusammen wohnen! In der vorigen Gasse hatte sie aus einem dunklen Hausflur hadernde Kinderstimmen und das schrill ritzende Auskratzen einer Bratpfanne gehört, hinter einem matt erleuchteten Fenster einen unförmigen, schreienden und zappelnden Säugling in den Armen eines Greises, der mit schiefem, zitterndem Munde zu singen schien, gesehen. Sie strich sich mit der Hand über das Antlitz und fröstelte.

Da erschien Lehrer Karp in der Haustür. Er lächelte zwar, schien aber ebenfalls unter den Kleidern zu zittern, obgleich er wohl aus warmem Zimmer kam. Dieser Widerspruch erfüllte Hermine mit ungewisser Furcht.

Karp stellte sich der Frau Dagott, noch immer lächelnd, vor, wobei ihm die Stimme ausglitt und in die Höhe fuhr, begrüßte dann alle drei mit einem vorsichtigen Händedruck und schritt ihnen unter mehrmaligem Willkommenwunsch durch den Korridor nach, im Dunkeln recht unverhohlen zitternd. Er hatte nämlich die neu angekommenen Möbel in der abgelegensten winterkalten Stube etwas beiseite gerückt; dabei waren ihm einige Begrüßungsreime durch den Kopf gegangen; da nahm er die Tische fester vor den Bauch und schleppte, bis sie fertig waren. Mit verklammten Händen hatte er sie vor einigen Minuten auf kleine Blättchen geschrieben, in die Teller des in der Staatsstube gedeckten Tisches gelegt, wiederholt betrachtet und sauber der Mitte zugezupft, schließlich aber, als der Schlitten draußen vorfuhr, doch schnell in der Tasche verborgen. Sogar die Betten im Schlafzimmer aufzudecken, hatte er nicht unterlassen.

Im warmen Zimmer begann man sich lebhaft zu unterhalten. Dagott hob strahlend die linke Hand seiner Frau hoch, machte einige Walzerschritte, daß sein pelzgepolstertes breites Kreuz hin und her kippte wie ein ungeheurer Entenleib, und sang: „Nun sind wir da – jahaha!“ Karp erwärmte sich wieder und wurde einmal gesprächig, auch Frau Dagotts Stimme fiel oft ein.

Nur Hermine war still. Sie träumte und wollte träumen. Düstere Pappeln, strenge Häuser umgaben sie und ein kalter Himmel. Warum war es hier drinnen nicht ebenso? Warum hatte sie sich dies alles anders vorgestellt? Zwar traut war es so nicht, viel zu groß gähnte das Zimmer, sehr dämmerig leuchtete die Lampe. Diese Uhr schlug nicht wie andere, sondern fragte mit hartem Ton immerzu: ja? ja? ja? ja?

Hinter ihr stand Zitterlehrer Karp im Gespräch – mit trocken-feisten Backen und hellen Haaren. Er hatte weder Bart noch sinnende Augen und sprach mit dünner, gedehnter Mäuschenstimme. Nur selten wurde diese Stimme kräftiger, und den dann entstehenden Laut hatte Hermine beim Tischler gehört, wenn er mit seinem Hobel einen recht langen Schnörkelspan abschnitt. Was sollte sie bei Karp? Laufen, ganz schnell, ganz, ganz schnell bis zum Dorfe, wo die Hobelbank stand und Edwin Maßholder vielleicht davor!

Bei solchen Gedanken, mit den Tränen kämpfend, sah sie Karp an. Sie erschien ihm schüchtern, und er wollte ihr wohlwollend die Befangenheit nehmen. Er sagte, in den Kniekehlen freundlich wiegend: „Also du bist meine künftige Schülerin?“ Sie schüttelte erst mit dem Kopfe, nickte dann aber schnell und betroffen. Er schwieg ein Weilchen, während die beiden anderen Hermine zu ihrer Pein musterten, und fragte dann mit scharfer Betonung des ersten Wortes: „Lesen kannst du doch schon?“ Hermine hatte wieder die Vorstellung eines geschneckt emporfahrenden Hobelspans und antwortete nicht. „Wir wollen gleich einmal sehen,“ sagte Karp und hob das ,sehen‘ nachdrücklich hervor. Dabei faßte er die scheue Hermine bei der Hand. „Ich habe einen Einfall, Herr Dagott,“ lachte er. Hermine errötete über und über, als sie angerührt wurde. Ein ätzendes Brennen quälte sie irgendwo. Jedes Wort war ihr wie das Hineinrufen in einen süßen, wenn auch schaurigen Traum. Sie wollte doch träumen, warum ließ man sie nicht! Karp ging mit ihr schnell vor die Tür. Warum wurde sie herausgerissen, abgeführt? Ja, ja, sie mußte beinahe laufen und jeder Schritt verwundete sie mehr. Sie kniff die Lippen rund. O, da kamen die beiden anderen auch nachgeschritten, wie um ihre Schmach zu sehen. Sie wollte sich losreißen, aber wie war es draußen dunkel! Es schneite noch; es kraute ihr gespenstisch im Haar, an Ohr und Hals. Sie schüttelte sich. Nun überfiel es sie erst recht wie ein ödes Erwachen. Sie sah sich taumelnd den Flur, wo man vor Dunkel fast blind wurde, herablaufen, an dieser Hand, die sie hier so festhielt. Sie bedauerte sich. Karp fragte gelinde: „Nun, mein Kind, was steht dort?“ Von grünlicher Laterne schwach beleuchtet, hing wie ein klotziger Spiegel ein Firmenschild am Hause, schwarz gelackt und mit großen, dicken Goldbuchstaben bemalt. Hermine las willenlos rauh: „Benjamin Salomon Dagott. Christliches Tuchwarengeschäft.“ „Ja,“ lächelte Karp süß, und Hermine sah ihn lange schwer an, mochte auch eine Flocke an die Wimper fliegen und sie zudrücken wollen. Karp legte seine freie linke Hand in langsamem Bogen sanft auf die ihre und fuhr fort, sie wieder zurückführend, wobei die Eltern schlürfend vorangingen: „Weißt du, was du da vorgelesen hast? – Hier ist meine süße Heimat.“ Minutenlang lächelte er breit und dumm. Hermine hatte nur den Schall, nicht den Sinn der letzten Worte vernommen und dachte tief beleidigt: nun werde ich sterben! Dieses Gefühl und ein Seifengeruch am Lehrer erquickten sie etwas. Ihr Ohr klang.

„Da wir im Ansehen sind,“ lachte Dagott, beugte sich steif, die Fersen schließend, und kniff sie dabei in die Nase, „wollen wir schnell mit dir das ganze Haus durchgehen.“ Sie strauchelte nun (halb absichtlich) über mehrere Schwellen wie zum Tode und mußte in unheimlich stille Zimmer sehen. Die ganze Zeit fühlte sie ihre Hand noch gefaßt, die doch längst frei herabhing, und spürte Schnee in die Haare fallen, die sich stellenweise etwas juckend aufzurichten schienen. Auch die Treppe mußte sie hinaufgehen und wurde in einen großen Raum geführt, wo viele alte Waffen an den Wänden auf ihren Schatten schliefen. Dort sollte sie später hausen. O, wie sehr wollte sie dann weinen!

„Aber nun schnell essen!“ mahnte Dagott. Man setzte sich um den Abendbrottisch.

Hermine verwunderte sich über das Würzige und Schmackhafte in den Speisen. Sie wurde aber die Bilder der Schlittenfahrt nicht los. Da keine wirkliche Grundlage sie unterstützte, veränderten sie sich weiter ins Düstere und führten Hermine tiefer in wehes Staunen. Sie sah dabei ihre Nachbarn lange mit verlorenem Blicke der großen dunklen Augen an. Man kam eifrig ins Gespräch und scherzte viel. Sie konnte es nicht begreifen: sie war allein. Aber wenn man sie ansah, verzog sie auch den Mund zum Lachen. Selbst die Mutter war heute so gesprächig; warum nur? In ihr scholl plötzlich im grell leiernden Schulstubenton der Choral: Wenn ich einmal soll scheiden. Die Gesichter und Bewegungen der Anwesenden wurden ihr unverständlich, sie entbehrten jeden Sinnes, wie die großer Gelenkpuppen; das Lachen war das aufgemalte, irrsinnige Puppenlachen. Beschäftigt, etwas auseinanderzusetzen, heftete Dagott den Blick auf sie: nun mußte er doch wahrnehmen, daß sie sich fürchtete? Nein, er sah wieder weg und pfiff gar eine lustige Figur. O! – O! – Sie erhob sich leise und sagte mit so schwärmerischer, weltferner Versunkenheit und vor Tränen blinden Augen: „Mutter, ich möchte schlafen gehen,“ daß alle erschraken. Frau Katharina legte die Hände vor das gesenkte Gesicht, Dagott stand auf und fragte, wie mit dem Besen gescheucht, trocken: „Was ist denn?“ Karp flüsterte in die Lampe: „Das ist nicht Heimweh.“

Die Mutter führte Hermine in die Schlafstube, wo das Kind noch allerhand Haß, Verachtung und Schwermut wie Wackensteine in sich herumwälzte und oft gewaltsam keuchte, ehe sein Atmen friedlich tönend gleich dem letzten Echo erlösender Träume auf- und abstieg.

Die Tür anlehnend, sagte Frau Katharina: „Sie ist ein Maulwurf, der sich schwarze Gänge gräbt, wohl ab und zu ein Stückchen in der Sonne läuft, doch dann wieder ins Dunkle taucht. Ich habe sie drüben nicht ändern können. Hoffentlich ziehen wir drei sie hier für immer ins Licht.“

Sie redeten noch lange über Hermine, und ihre Schatten schlüpften durch die langsam aufknarrende Tür über das Bett der Schlummernden.

Vineta

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