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Zweites Kapitel

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Bald konnte sich Frau Dagott freuen, daß Hermine wirklich ihr düsteres Wesen abzulegen schien. Der Maulwurf fand in Elisabeth Pfeiffer ein Hermelin, mit dem er die ganzen Tage in der Sonne lief. Es begann eine Zeit, in der das ernste, plumpe Kaufmannshaus am Marktplatz und der große Garten dahinter vom heitersten und herzlichsten Kinderlachen widerhallte. Am Morgen, ehe Lehrer Karp in die Schule mußte, und nachmittags, wenn er frei war, kamen die beiden Mädchen in die große Oberstube gestürmt zum Privatunterricht und blieben nach den Stunden zum Geschichtenerzählen zusammen und zum Spiel mit den alten, auf Dagott durch viele Geschlechter vererbten Waffen, die man im Hause nicht schicklicher hatte unterbringen können. Frau Katharina hielt Karp für einen trefflichen Lehrer, weil just die zwei von ihm unterrichteten Mädchen so traulich zusammenhielten und alle ihre Lust beieinander fanden, während wenigstens Hermine sich an eine andere Altersgenossin überhaupt nicht anschloß. Karp mußte darum nun täglich am Mittagsmahle der Dagottschen Familie teilnehmen. – Auch ihrem oft wenngleich gezwungen heiteren Manne wußte sie klüglich ein Stückchen Einfluß zuzuteilen, und sie lebte halbwegs zufrieden, obwohl die Ehe von manchem kleinen Zwiste durchbrochen wurde. Sie hatte eben eine andere Natur als ihr Mann und hoffte eine innigere Vereinigung, wenn das Kind, das sie unter dem Herzen spürte, eine Hand um ihren Hals und eine um den des Vaters legen könnte. Ganz glücklich hatte sie mit ihrem ersten Manne, in dem ihr viel von Hermines Wesen, nur gut verstaut, gelegen zu haben schien, auch nicht gelebt, und der Wunsch, die Tochter ins Mildere zu lenken, war ja erfüllt.

Oder? Manchmal am Abend, wenn der Mond recht groß und klar über zwei Scheiben lag, wagte sie zu zweifeln und zu sorgen, denn aus dem Verkehre mit der Tochter wehte sie leicht eine unerklärliche augenblickliche Kälte an. Hermine schien Scheu zu haben sich hinzugeben.


Wirklich fühlte sich Hermine in ihrem jetzigen Kreise oft abgestoßen. Trotz ihrer Freundschaft mit Elisabeth waren in ihr die leidenschaftlich verworrenen Empfindungen des Einzugsabends nicht untergegangen. Zwar erschien ihr schon am nächsten Tage alles anders, als sie es anfangs gefaßt, aber sie empfand jedesmal einen angenehmen Reiz, wenn sie daran zurück dachte. Sie wußte eine Sage von einer Prinzessin, die alle Mitternacht ihr Kästchen öffnete und kniend die blutroten Steine und die Schierlingssiegel an ihren vielen Ringen herzte. So ging es ihr. Nun wünschte sie zwar keineswegs, wieder etwas zu erleben, das ihr Gemüt ähnlich in Düsternis hüllte: unbewußt beschwor ihre Seele immerfort Schatten, und die Welt, in der sie damals gebangt, umgab sie darum auch jetzt, wenngleich blasser. Sie wehrte leise noch immer alles ab, was sie am ersten Abend abgelehnt hatte, nur daß es damals, je neuer und unerwarteter es sie umringte, um so viel heftiger geschah. Nichts liebte sie, nicht Mutter und Stiefvater, nicht ihren Lehrer, nicht ihre Stadt und deren Bewohnerschaft, nur die einzige Elisabeth.

Elisabeth war sanfter als Hermine und schien bestimmt, nichts als Einflüsse zu empfangen. Ihr Gemüt bewegte sich ätherisch weich, und weil alles, was auf dasselbe wirkte, immer aus einer Tiefe widerstrahlte, machte es den Eindruck der Unergründlichkeit. Ein Himmel, der eine weiße Mittagssonne aufnimmt oder eine rote Abendsonne oder den blauen Mond oder die gelben Flimmerpunkte des Schwans und des Bären und seine Farbe nach ihrer Leuchtkraft wechselt vom Blau der Alpenrose zum Blau des Indigos und zum Schwarzblau der Waldbeeren – ein Gleichnis ihrer Freundschaft.

Wie eine schenkende Stellung zu einem Menschen so kostbar in Hermine zu sein schien, verwahrte sie sich gegen andere durch Verschmähen und heftete ihre Abneigung am festesten an die, welche sie am wenigsten lieben konnte. Wenn ihre Mutter schon fühlte, daß sie sich hinzugeben fürchtete, so blieb Hermine ihr gegenüber doch ruhig, wogegen es sie in Gegenwart Dagotts oder Karps wie eine Ahnung durchzitterte, daß sie sich behüten müßte, und ihr Tasten ruhte nicht, bis sie an ihnen etwas zum Abweisen, Fürchten, Verachten fand. Doch geschah das jenseits aller Gedanken, und sie blieb freundlich, wenn sie sich etwa über eine Grimasse Dagotts erregte: sie hatte ja Elisabeth und empfand eine gewisse Schadenfreude, als wüßte sie, daß ein Licht um so heller strahlt, je tiefer ringsum die Nacht ist. Der manchmal arg hervortretende Ehezwist ihrer Eltern, ein heftiger Wortwechsel, ein Schweigen zwischen Mann und Frau brachte auch ihr Unbehagen, aber sie trug es gleichgiltig.

Karp lernte sie wenig kennen. Sein Unterricht war sachlich, aber langweilig. So berührte sie zunächst die Eintönigkeit seiner Lehrweise. Sonst war er schweigsam. Immer schien er wehmütig, und doch lächelte er fast immer. Dieser Zwiespalt pflegte eine gewissermaßen zärtliche Abneigung groß. Hermine glaubte ihn krank. „Sieh, Elisabeth,“ sagte sie, „sieh seine Handgelenke. Lauter blaue Adern schimmern dort durch. Ein Tagelöhner auf dem Lande hat mir erzählt, in blauen Adern fließt krankes Blut. Auch an den Schläfen sitzen ihm bläuliche Ästchen. Ich fühle, seine Krankheit tut ihm weh, aber doch ist er dick und lacht.“ Mit mitleidigem Unbehagen krochen ihre Blicke unter seine Manschetten. Sie ließ sich nicht gern von dem kranken Manne unterrichten und, weil Elisabeth dabei war, doch wieder gern.

Außerdem knüpften sich an ihn leicht Empfindungen, die ihr die Leute außerhalb des Hauses gleichgiltig machten. Mit den Erwachsenen hatte sie ohnehin vorderhand nichts zu schaffen, und die Schulkinder, mit denen sie beim Konfirmandenunterricht in demselben Saale saß, gehörten Karps Schule an. Das leise Widerstreben gegen diesen regte sich bei ihrem Anblick als willkommene Verstärkung des Nachlebens jener abendlichen Ankunft, so daß sie noch immer mit einer sonderlichen Art Menschen leben zu müssen wähnte: der singende Greis, die schreienden Buben zeigten sich manchmal in wollustvollen Seelentiefen, ebenso der Totengräber Grelert.

Dieser letztere mußte auch wohl dazu dienen, der Stadt selbst einige der Schauer wiederzugeben, die sie im Schneeflockenmantel unheimlich belebt hatten. Er war abends noch immer auf dem Dache zu sehen, wie er mit der Laterne nach seinem Taubenschlage lief. Hermine konnte ihn aus einem Fenster ihres großen Zimmers beobachten. Auch hörte sie beim Unterricht, schon abgespannt oder durch die Gegenwart Karps im Lebensgefühl beschränkt, seine Tauben die Flügel schlagen, ähnlich, als schlüge jemand dünne Bretter oder gar Totengebeine aufeinander.

Ihr eigenes Zimmer, mit solcherlei Empfindungen betrachtet, empfing so sein verborgen wirkendes Geheimnis.

Die Pappeln aber umwob in Bälde der größte Reiz. Grelert, in jüngeren Jahren Glöckner, hatte seiner Tochter, die ihm durch Unvorsichtigkeit hoch im Kirchturm von den geläuteten Glocken erschlagen worden war, eine Pappel als Denkmal ans Grab gepflanzt und ließ sich durch sie an den Unglücksturm erinnern. Daran mußte Hermine oft denken und wurde von Winden oder Vögeln oder den Lichtverwandlungen, von Winter und Sommer, von Nebel und Nacht in den hohen Stämmen auf die verschiedenste Weise gerührt, manchmal zu wehen Träumen, manchmal selbst zu wehen Tränen. In seltsam geformten Zweigen fand sie Tier- und Spukgestalten gebildet und erschrak eines Abends tief über den Erlkönig: sie und Elisabeth begehrten auch solche Denkmale ans Grab, wenn sie stürben.

So half der Totengräber den ersten geisterhaften Eindruck der Stadt in ihr wieder mehr und mehr heben. Darum und weil er ihr oftmals auffällig nachblickte, war ein unheimliches Sehnen in ihr, ihn kennen zu lernen. Er war unter den Leuten als Sonderling berufen. Niemand kannte ihn recht, da er zurückgezogen lebte und, soviele freie Zeit er erübrigte, mit Stuhlflechten und Topfbestricken außerhalb einen Spargroschen erwarb. Es sollte in seinem Leben etwas Dunkles geben. Dagott wußte darüber nichts, gab aber vor unterrichtet zu sein und es Hermine nur nicht verraten zu wollen. Er war plump, so daß Hermine ihn durchschaute, drob mehr verachtete und Grelert mehr lieb gewann. Mit Elisabeth spann sie düster bunte Sagen über ihn aus. Sie wollte hingehen.

Er hauste ganz allein in seiner Kate am Kirchhof. Dadurch hatte er wieder etwas Abschreckendes. Er sollte häufig noch tief in der Nacht durch seine Klause rumoren und den Fußboden scheuern, denn man sagte ihm peinliche Sauberkeit nach. Man hatte ihn auch so spät noch hämmern hören und behauptete, er ziehe beim Reinigen der Wohnung sämtliche Nägel aus der Wand, putze sie blitzblank und klopfe sie dann wieder in ihre Löcher.

Während Hermine überlegte, unter welchem Vorwande sie den Totengräber aufsuchen könnte, wurde ihr eine Schwester geboren, und das Vorhaben unterblieb. Dagott belegte das Kind mit einem biblischen Namen, weil diese Sitte in seiner Familie seit Urzeiten üblich sei. Er nannte das kleine Mädchen Ruth. Fünf Wochen verstrichen Hermine in staunender Betrachtung des jungen Lebens, dann dachte sie wieder an Grelert.

Sie beratschlagte nochmals mit Elisabeth, wie ein Besuch bei ihm einzuleiten wäre. Zu der Zeit, als die Freundschaft bald anderthalb Jahre gedauert hatte, erkrankte Elisabeth, kurz vor der Konfirmation. Hermine sprang zu ihr über den Markt, vertrieb ihr von Morgen bis Abend die Zeit und spielte so artig mit der Freundin, daß selbst deren mehrere Jahre älterer Bruder Bruno sich näher setzte und an der Kurzweil teilnahm.

Hermine kam um so lieber, als die Vorbereitungen zur Einsegnungsfeier es zu Hause besonders unwohnlich machten, während die Krankenstube verschont blieb.


Dagott wankte nur öfter vorüber, um Besorgungen auszuführen. Er benutzte das bevorstehende Fest, um noch eins zu feiern. Mit mehreren Herren hatte er sich draußen ein Jagdgelände gepachtet, teils seiner Waffensammlung zu Liebe und um von dem berühmten Bartholomäustreiben seines seligen Großvaters passend zu berichten, teils der Schmausereien wegen. Zwei Tage nach Michaelis – Michaelis war der Termin seines alljährigen Waidfestes – fand die Einsegnung statt. Die Pürsch wurde diesmal um einen Tag verschoben, damit die Doppelmenge des besonders fein zu backenden Kuchens nicht vertrockne. Dagott hatte sich schon lange gefreut und war vor Vergnügen zum Wetterpropheten geworden: „Michael wird diesmal auf weißem Rosse kommen,“ meinte er. Auf weißem Pferde hätte der würdige Mann von einem Erzengel nie gesagt. Also: Michael wird auf weißem Rosse kommen. Eigentlich weissagte er so nur, weil er gern seinen prachtvollen Pelz recht früh hervorgenommen hätte, des Ansehens und Nachsehens halber. Auch zur Jagd zog er ihn bis zum eigentlichen Streifen an und machte auf dem Wagen eine überaus stattliche Figur.

Als nun Michaelistag anbrach, schüttete er ein Meer warmen flüssigen Goldes über die Welt, aber keinen Schnee. Trotzdem geriet Dagott in eine selige Aufregung, weil es der Vortag seines Vergnügens wäre. Und als er nachmittags über den Markt her den Uhrmacher Winterlicht durchs offene Fenster singen hörte, sah er gerührt lange hinüber nach der großen blinden Uhr mit den aufgemalten Zeigern und dachte: „Ach, wie lebt man hier brav! Es scheint immerzu die golden gemütliche Stunde zwei Uhr nachmittags zu bleiben. Wie glücklich klingt aus Winterlichts Munde selbst das Lied von den vier Brettern zum Sarge und dem Rade, das nicht mehr geht; wie fröhlich klappert der Sänger zwischen den Stuhlbeinen, wahrscheinlich mit seinem Mittagslöffel!“ – Lüstern neugierig, wie es wohl mit der Bürgermeisterstochter stünde, zumal Hermine nicht zum Mittagessen gekommen wäre und gewiß auch bei den Nachbarn nicht gegessen hätte, ging er die Kranke besuchen. Aber der Ernst war ihm drüben zu streng, und er legte, um seine behaglich weiche Stimmung nicht etwa vor übermorgen zu verscherzen, bald und gründlich hinter sich den Drücker ins Schloß.


Uhrmacher Winterlicht hatte aus dem Laden eine feine Damenuhr in seine Wohnung hinaufgenommen und gravierte emsig auf ihrer Rückseite. Die Melodie des traurigen Liedes lag ihm dabei immerfort in den Ohren. Bald mußte er sie pfeifen, bald brummen, zeilenweis oder ganz, bald ihr lauschen, als dränge sie aus weiter Ferne her. Er wußte nicht, wie er darauf gekommen war. Seine Frau hatte ihm vorhin irgend etwas aus der Stadt erzählt, das nicht unmittelbar auf sie hinwies, (sonst hätte er es behalten) das aber die Töne aufweckte. Sie führten ihm nun die Hand.

Zuerst wollte er der Uhr ein üppiges Vierkleeblatt einritzen, der aufdringlichen Weise zu Trotz, aber sein Entwurf veränderte sich in ein Kreuz.

Die Sonne spielte auf dem Metall blitzend und blendend und erleuchtete die Hände porzellanklar. Und immerzu sang er und mußte über sich, den grundlos kühlen Wehmutmann, lachen, weil er von Strahlen überwaschen wurde wie ein Schneemann von weichem Frühlingsregen.

Er wußte, daß ihm niemand eine so bezeichnete Uhr abkaufen werde. Trotzdem ließ er sich wie unter einem Zwange gehen und vollendete sein Werk, indem er die Felder mit schwarzer Farbe ausfüllte. – Dann erst fühlte er sich frei. Ihm begann das verunzierte Gold leid zu tun.

Er trug mit schlechtem Gewissen die Uhr wieder hinab und versteckte sie unter den übrigen in einem Winkel des Ladens.


Seit einer Stunde lag Elisabeth schweigend da. Sie hatte sich mit der Freundin Geschichten erzählt und dabei solche gewählt, wo prächtige oder wilde Abenteuer gehäuft und zu entwirren waren. Die letzte hatte gehandelt von großen Kämpfen, aus welchen sämtliche Fechtende mit zerbrochenen Schwertern, aber unversehrt hervorgingen. Darauf war sie müde geworden und mochte nur noch zuhorchen.

Hermine erzählte, freilich ohne bewußte Wahl, Begebenheiten ohne allzu straffe Handlung, wie den Rattenfänger von Hameln, um in Ausmalungen der Wälder, Schlösser und Trachten aus ihrer eigenen Empfindung und Vorstellung viel hinzufügen zu können. Aber bald schien ihr Elisabeths blasses Gesicht nicht in die Märchenwelten hineinzusehen.

Sie beendete ihre Geschichte und saß nur steilrecht am Lager der Freundin. Besorgt war sie nicht. Auf diesem Platze fühlte sie sich auch jetzt glücklicher als überall.

An dem einen Fenster saß ebenso still Frau Pfeiffer, die nur ab und zu leise hinter die Tür ging und mit dem Taschentuch in der Hand zurückkam, an dem andern Elisabeths älterer Bruder Bruno.

An diesen wandte sich Hermine um eine Weile: „Bring’ uns deine Schiffe.“

Er schleppte eine große weiße Wanne herein, stellte sie neben das Bett auf einige Schemel und füllte sie mit Wasser. Dann holte er eine Menge kleiner Borkekähne hervor. Aus jedem ragte ein Mast mit einem von den Mädchen besäumten weißen Segel, und an jedem Schnabel war ein weißer Zwirn befestigt.

Bruno setzte sich an sein Fenster, die Mädchen fingen schüchtern an, die Schifflein von Ufer zu Ufer zu ziehen, Elisabeth eine Hälfte nach dem Bett hinüber, Hermine die andere von dort zu sich, und auf der Mitte des Weges fand eine Begegnung statt. Weil aber keines von beiden plauderte und sie einander so nahe fühlten, daß sie nicht aus geschiedenen Weltteilen Schätze über das Meer senden mochten, wurden sie zaghaft. Die Zeit des Spielens wird vergangen sein für immer, ahnte Hermine. Sie starrte auf das Wasser und tändelte mit langsamen Fingern in seiner Fläche. Plötzlich begann sie leidenschaftlich die Sage von Vineta, der untergegangenen Stadt, rühmte die Tore von blankem Metall, die kostbaren Schaugepränge und Leichenzüge in den düsteren Straßen, die silbernen Glocken in hohen Türmen … Noch einmal ergriff Elisabeth die schlaffen Fäden, zog ganz matt die Schiffe über das Wasser und sah mit Augen hinein, als ob sie selbst an einem Borde stünde und Kuppeln und Spitzen in der Tiefe unterschiede. Hermine erfand immer mehr, um das Spiel lange anzuschauen, mußte aber schließlich aufhören. Es ward still und die Stille begann zu klingen …

Aber bald verlangte Elisabeth nach ihrer Schultafel, obwohl sie doch vierzehn Jahre alt war. Ihre Sinne verwirrten sich schon. Man brachte ihr die Tafel samt einem Schieferstift, und sie malte seltsame Linien darauf und schrieb kaum leserlich darunter ‚Vineta‘. In wachsender Aufregung warf sie das Bild in das aufspritzende Wasser und ließ mit heftigen Rucken wieder die Schiffe hinausfahren. Da fühlte sich Hermine mit einmal leer. Solange sie sich lebendig in das Unglück der Stadt versetzt und im Traume nach ihrer verborgenen Herrlichkeit gesehnt hatte, waren ihr die Kähne Boten aus unerreichbaren Landen gewesen. Nun ward ihr das Spiel zu sehr Spiel. Die Zeit wird für immer vorüber sein, ahnte sie wiederum und versank in sich.

Elisabeth war in die Kissen gefallen, verlor völlig ihr Bewußtsein und erwachte nicht mehr. Bis zum Abend lag sie mitunter stöhnend auf dem Rücken. Die Mutter hatte nicht geahnt, daß es so schlimm mit ihr stünde und das viele Sprechen, wenn auch bekümmert, zugelassen. – Der Vater wurde gerufen. Er steckte spät die Lampe an, verhängte sie jedoch mit einem doppelten Tuch. Ehe das geschehen war, verschied Elisabeth. Die Mutter merkte es, schrie auf, das Tuch sank vom Lichte herab, und im vollen Schein sah Hermine eine jähe Trauerszene.

Sie selbst stand hoch da, mit harten Zügen, aber ohne eine Träne im Auge. Sie schien bis auf die vollen braunen Haare ganz und gar eine andere.

Nach einer Weile ging sie auf Bruno zu und sagte, am ganzen Leibe zitternd: „Mit dir spiele ich nicht mehr. Gibst du mir alle deine Schiffe?“

Er sah sie verwundert an und nickte.

Sie packte das Spielwerk unter beide Arme. So ging sie, ohne rückzublicken und sich zu verabschieden, davon.

Schnell schritt sie über den kleinen Marktplatz nach Hause. Nach allen Richtungen hin weitauseinander blinkten grünliche Laternenflämmchen und steckten eine seltsame Figur ab. Die kühle Dunkelheit lag drückend, riesenhaft umher, und was von Giebeln und Mauern seinen Umriß durch ihre dichten Hüllen schob, sah aus wie schwaches Pappwerk.

Erst auf der Mitte des Weges linderte sich Hermines Schmerz bis zu einem gewissen Erfassen seiner Größe. Sie hielt ihre Schiffe fester und fühlte sich verlassen wie ein Entdecker, dem eine neue Welt untergegangen wäre im Augenblick, da er sie erobern konnte. Sie hörte ihre einsamen Füße auf den Steinen schallen und beeilte sich mehr.

Im Hausflur blieb sie, noch zweifelnd, was sie erzählen sollte, stehen. Ganz unbefangen, wie es der Augenblick heraus preßte, mochte sie aus einer unbestimmten Scheu nicht reden, zumal, wenn der Stiefvater zugegen wäre. Zögernd drehte sie sich ganz herum, und es war ihr, als erhübe sich die Freundin in ihrer Seele unter einem Haufen zerbrochener Schwerter, die nach allen Seiten in sie drangen. Durch den Staub des halbkreisförmigen Fensters über der gartenwärts führenden Tür lugte, kaum bemerkbar, verfrorener Mondschein, und ganz unten klebte ein dicker toter Schmetterling in kleinem Dunsthof. Zwar machten ihr diese Dinge keinen deutlichen Eindruck in die Seele, aber ihr Schweigen weckte ein verwandtes Schweigen, wie umgekehrt ein Beter in der Kirche einen anderen macht, wenn dieser sonst auch ein schamhafter Mensch wäre. Sobald Hermine ihren Schmerz gesänftigt fühlte, trat sie mit dem Willen, ihn nie einschlafen zu lassen, entschlossen vorwärts.

In die beiden Wohnstuben führten zwei Zugänge vom Flur, einer durch die Schlafstube und einer durch das jetzt schon für morgen hergerichtete gute Zimmer. Den ersten wählte Hermine. Etwas erstaunt fand sie ihre Angehörigen im Schlafraum beisammen. Auf dem Tische stand keine Lampe, nur ein Leuchter in der verrenkten Gestalt eines aufgebäumten Hirsches, der eine dünne Kerze im Maule trug und zu verschlucken schien. In der gelblichen Glanzdecke zeigte sich dasselbe Bild als verschwommene Umkehrung. Dagott hatte schon das Bett aufgesucht. Er lag im Hellen und blinzelte eingemummt wohlig nach der Wiege Ruths hinüber. Diese zu überwachen, verrichtete die Mutter ihre Arbeit ebenfalls hier. Sie stand im Dämmerdunkel, Mürbkuchen zurechtformend, und hatte bereits eine ganze Anzahl von Herzen, Monden und Sternen ausgestochen. Bei jedem Stück buchtete sie jedoch mit hurtigem und geschicktem Messer ein wenig Teig weg, den sie lächelnd auf einen besonderen Haufen warf. Ihr Bett war auch schon aufgedeckt.

So starr in die Höhe gerichtet wie jener Hirsch, blickte sie, einen Zuckerstern zwischen zwei Fingern, mit einmal Hermine an, und Dagott setzte sich im Lager empor. Hermine wußte, daß ihre Züge das Unglück verraten hatten. Darum schwieg sie.

O, das Dämmerlicht! Und o! die vielen weichen Kissen im schmalen Zimmer! Die hatte sie gern. Sie fühlte sich ohne Sträuben müder und heimatlicher. Einen Augenblick hätte sie in ein Kissen zurücksinken mögen mit der Geste des Absterbens. Wie im Halbschlaf erzählte sie nun ihr großes Erlebnis, und die Silben trugen eine herbe Süße. Sie schienen ein langer Gesang und waren doch nur ein Satz.

Die Eltern atmeten froh auf, sie so ruhig zu finden. Hermine bebte darüber.

Die Eltern trösteten sie, bedauerten die Tote und sagten etwas zu deren Lob in mehr kümmerlichen als bekümmerten Worten.

Da begannen Hermines müde Schmerzen ein wildes Toben und Branden. Ihr war, als müsse eine weiße Kapelle um sie werden, und sie müsse knien und beten: ich bin klein, mein Herz ist rein, niemand darf drin wohnen als mein liebes Jesulein. Sie schüttelte wiederholt zu dem Preise ihrer Freundin den Kopf. Wenn nicht alles getreu und wahr gewesen wäre, hätte sie nein! gerufen. So schüttelte sie nur den Kopf.

Das taten die beiden anderen zum Ausdruck ihrer Überraschung auch mehr als einmal. Sie wußten nicht, wie es in Hermine aussah.

Hermine befand sich in einem hilflosen Zustand, als träte sie in dieses Haus und zu diesen Leuten zum erstenmal, und doch stand sie mit mildem Stolz und Scham wie eine Königin, die als Sklavin mit Eisenketten und Kugeln um die Hand und den weißen Fuß belastet ist.

Dagott sagte nach einer Weile des Schweigens: „Dann wird es ja morgen aus unserem Jagdvergnügen nichts werden. Herr Pfeiffer wird doch nicht kommen. Die anderen werde ich als Freund des Ärmsten natürlich zurückschicken.“ Er schüttelte wieder mit dem Kopf.

Hermine drückte krampfhaft ihre kalten Zehen gegen die Schuhsohlen, blähte die Nasenflügel und konnte nicht anders als alle Verachtung gegen ihn in den Wunsch sammeln: Möchte er sich doch hinlegen! Das hat er verdient! Zu bitterem Lächeln hob und senkte sich ihre Brust ganz schnell, und durch den halb offenen Mund kam es: h! – h!

Dagott warf einen Blick durchs Fenster, zog sich etwas am Bart und sagte beruhigt: „Es bewölkt sich. Vielleicht regnet’s.“ Dann legte er sich wirklich hin.

Hermine stöhnte kurz.

Die Mutter forderte sie auf, sich zu setzen. Sie ging in die größere Stube hinüber, deren Tür der Bequemlichkeit und des besseren Lichtes wegen ausgehoben war, schüttete die Schiffe gehäuft an einen Sessel und setzte sich in den Sammt. Manchmal strich sie mit den Füßen langsam über das leisen Lauts sich verrückende Spielzeug hin. Sie saß lauschend im Dunkeln, als wartete sie auf etwas.

Nach einer Ewigkeit hatte ihre Mutter die Arbeit vollendet und sagte halblaut zu ihrem Manne, sie müsse die Kuchen noch zum Ofen besorgen; er möge Ruth, falls sie erwache, ein wenig wiegen. Es war Hermine unangenehm, daß die Mutter ging, aber sie atmete auf.

Dann brütete sie lange. Erst durch das Geschrei Ruths wurde sie aufgescheucht. Sie hörte minutenlang unbewegt zu, wie ein Ton sägte und noch einer und noch einer. Nun vernahm sie auch lautes Schnarchen. Dagott schlief! Sie erinnerte sich, daß es schon lange so gerauscht hätte. Darüber ergriff sie eine unsägliche Furcht. Sie wollte schreien: „Wach’ doch auf! Tot! – Tot! – Tot!“ Sie zitterte, die Stimme versagte, und verstärkt kam die Furcht. Erst jetzt beweinte sie die Freundin. Sie preßte die Hände auf das Gesicht. Die Zwischenräume der Finger näßten sich, so daß sie noch am nächsten Morgen vertrocknete Rinnsale bemerkte und die Erinnerung daran nie mehr vergaß, solange sie auf die Hände schauen konnte. – Sie beruhigte sich, Ruth schrie noch. Sie ging aber nicht zur Wiege. Durfte sie? Sie mußte hier doch in die Nacht hinaus sitzen. Es war etwas als notwendig Erwartetes ausgeblieben; sie fragte danach ohne Sinn und Wort und weinte leise weiter.

Die Mutter kam wieder und beruhigte das schreiende Kind, nachdem sie, von der Trauerbotschaft noch mild bewegt, auf ihren Mann einen liebevoll Verzeihenden Blick geworfen hatte, der im Kerzenscheine leuchtete wie Gold. Hermine wurde durch diesen Blick ganz aus ihrem Weinen gebracht. Die Luft, die sie eben einsog, mußte auf ihrem Wege noch dreimal schluchzen; dann war sie still.

Sie ließ sich willig die Treppe hinan geleiten und aß, sobald sie allein war, was ihr die Mutter vorher in das Zimmer getragen. Das Kindermädchen schlief. Sie trat an das Bett der Schlummernden. Den Hirschleuchter, den die Mutter auf den Tisch gesetzt, sollte sie löschen. Aber sie wartete im Hemd, bis die Flamme an ihrem nackten Dochte zu zucken begann und ihn immer wieder wie in Furcht vor dem Hungertode beleckte. Noch einmal – noch einmal. Ha, die Schatten schwebten schon dicht und breit auf und ab. Nun wurde Hermine auf die Morgensterne, Schwerter, Hakenbüchsen und Keulen an den Wänden aufmerksam. – Zwei Mädchen hatten daraus prächtige Pyramiden errichtet und waren im Ringelreihen herum getanzt, jetzt drohten sie so grausig. Die Flamme ging aus, der Hirsch spie lautlos einen weißen Rauch steil in die Höhe. Auch die Waffen blieben im Nachglimmen des Dochtes noch sichtbar: durch sie wurde Hermines heiße Trauer noch einmal eisig angetastet.

Zwei verlassene, kalte, kleine Kinderhände krallten sich in das Bett und zogen es auf den frierenden Körper.

Es waren doch noch Kinderhände.

Vineta

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