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2. Dichten, Dienen und die Verschwiegenheit des Textes

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Dichten und Dienen

Mimesis

Der Dienstgedanke beherrschte das soziale Gefüge des Mittelalters. Mit ihm verband sich auch das literarische Schaffen, das nicht primär als ein geniales, schöpferisches Tun, sondern als ein Machen (poígriy), als eine Technik angesehen wurde. Die Kunst – so schon die Mimesis-Theorie der Antike – diente dazu, die von Gott geschaffene Natur nachzuahmen und zu vollenden. Ein ambitionierter Autor, und nur von ihm soll hier die Rede sein, spürte gleichsam die Spuren Gottes in der Natur auf. Erst die Künstler der Renaissance werden die Natur selbst vergöttern und die Welt als die entfaltete Gottheit interpretieren. Dann erst wird die ,Erfindung‘ (inventio) gleichrangig neben die lílgriy (,Nachahmung‘) treten und der die Natur nachbildende Künstler das Göttliche selbst ergreifen. Hiervon jedoch ist Walthers Zeit noch weit entfernt.

öffentliche Wirkung

Die Autoren, die sich an den Höfen um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert ihr Brot verdienten, sahen sich nicht nur der Verstetigung des ordo verpflichtet, sondern in diesem Zusammenhang auch der Etablierung eines idealisierten Leitbildes des ritterlich-höfischen Lebens. Ihre Narrative und Gesänge, seien sie unterhaltend, belehrend oder auch ein Spiegel eigener Emotionalität und eigener Reflexion, waren auf eine öffentliche Wirkung hin konzipiert. Sie waren in ihrer sozialen Transparenz funktional ausgerichtet. Die Erzählungen eines Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Ulrich von Zatzikhofen, Herbort von Fritzlar oder Wirnt von Grafenberg nach antiken und arthurischen Sagen, die neue Aneignung der germanischen Sagenwelt durch den Dichter des „Nibelungenliedes“, die Gesänge eines Friedrich von Hausen, Rudolf von Neuenburg, Albrecht von Johansdorf, Heinrich von Morungen, Reimar (weniger korrekt: Reinmar) von Hagenau, Otto von Botenlauben, Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuental und vieler anderer dienten einem aristokratischen Publikum und stifteten jenseits aller sozialen Differenzen eine eigene ,ritterliche Identität‘.

Die Verschwiegenheit des Textes

Naturalisieren

Wer aber waren diese virtuellen Ritter und Damen der Narrative und Gesänge? Wie kann man sie in sich beim Hören oder Lesen zum Bild werden lassen, sie sich ,ein-bilden‘? Sie, wie es die Erzähltheorie nennt (s. z. B. Fludernik 2006), ,naturalisieren‘? Das Verstehen eines poetischen Textes verlangt nämlich auch, ihm „das zu entnehmen, was dieser nicht sagt (aber voraussetzt, anspricht, beinhaltet und miteinbezieht), und dabei Leerräume aufzufüllen und das, was sich im Text befindet, mit dem intertextuellen Gewebe zu verknüpfen, aus dem der Text entstanden ist und mit dem er sich wieder verbinden wird.“ (Eco 31998, 5) Ein Kennzeichen von Dichtung ist also ihre ,Verschwiegenheit‘ (z. B. gegenüber zeitgenössischen Selbstverständlichkeiten wie den höfischen Lebensformen), und deshalb verlangt sie eine schöpferische Mitarbeit der Hörenden und Lesenden. Durch die Leerstände werden die Lesenden als Interpretierende und Sinnstiftende in den Text aufgenommen. Sie reichern diesen durch ihr ,Weltwissen‘ an; Eco (31998, 94ff.) nennt diese Fähigkeit ihre „enzyklopädische Kompetenz“. Die kulturhistorisch orientierte Lektüre, die für Walthers Texte versucht werden soll, benötigt also ein historisches Kontextwissen. Dieses sollte z. B. ermöglichen, die Ritter, die höfischen Damen, den Fürstenhof oder auch das Ich, das in den Texten spricht, auf historischem Grund zu naturalisieren. Mehr als skizzenhafte Umrisse, sensibel aus den Quellen rekonstruiert, werden sich freilich kaum erreichen lassen. Aber es ist schon etwas gewonnen, wenn man zu den Rittern der heutigen Mittelaltermärkte Distanz gewinnt, für die das Rittersein ein schönes nostalgisches Spiel und keine Lebensform mehr ist mit dem Ziel, Ehre zu gewinnen und zu steigern.

Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide

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