Читать книгу Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide - Otfrid Ehrismann - Страница 17

2. Von den Anfängen ins 19. Jahrhundert und Lachmanns Wirkung

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Melchior Goldast

Die Geschichte der Walther-Philologie beginnt mit dem Schweizer Historiker und Juristen Melchior Goldast (* 1578, † 1634; s. Weber 2002), der selbst, wie wohl auch bisweilen Walther, das Wanderleben eines armen Literaten führte. Goldast hielt Walther für einen Landsmann und veröffentlichte (1601, –11) ein Dutzend seiner Strophen aus dem Züricher Manesse-Kodex (s. S. 31). Dabei rühmte er Walther als optimus vitiorum censor ac morum castigator acerrimus (,strengsten Richter der Laster und schärfsten Zuchtmeister der Sitten‘; nach Gerstmeyer 1934, 54).

Joh. Jakob Bodmer

Dieses aus den Sangsprüchen gewonnene Urteil beherrschte das wissenschaftliche Waltherbild bis ins frühe 19. Jahrhundert, es wurde allerdings durch den Züricher Historiker und Literaturkritiker Johann Jakob Bodmer (* 1698, † 1783) auf eine breitere Textgrundlage gestellt. Er publizierte die (damals in Paris verwahrte) Manessische Handschrift (Auszüge 1748, fast vollständige Ausgabe 1758/59) und war sehr daran interessiert, seine der Anakreontik huldigenden Dichterfreunde für den Minnesang Walthers zu gewinnen. Dessen Liedern schrieb er jene Gefühlsechtheit und Naturnähe zu, die er in der zeitgenössischen Lyrik schmerzlich vermisste. Seine Charakteristik Walthers zeigt die typischen Merkmale der Aufklärung und Empfindsamkeit:

Er lobete erhaben, er tadelte fein, und er lehrete moralisch. Man erkennt in seiner Poesie einen Mann, der die Welt gesehen, und mit den Grossen gelebet hat. In seinen verliebten Liedern entsteht die Artigkeit so gerne von dem wizigen Einfalle als von der zärtlichen Empfindung. (nach Gerstmeyer 1934, 82)

Ludwig Uhland

Das Fundament für das Waltherbild des 19. Jahrhunderts legten Ludwig Uhland (* 1787, † 1862) und Karl Lachmann (* 1793, † 1851), der eine auf dem Gebiet der patriotisch eingefärbten Interpretation, der andere auf dem der kritischen Philologie. Uhland hielt Walther nicht für einen Schweizer, und er zählte ihn, dessen „Wohllaut der Singweise“ (1822, 52) er rühmte, zu den ärmeren Adligen, die das Leben eines fahrenden Sängers führen mussten (s. auch S. 27).

Karl Lachmann

Lachmann, von Hause aus klassischer Philologe, übertrug die altphilologische Textkritik auf die Editionen zahlreicher mittelalterlicher Texte, und er gilt daher – obwohl von Anfang an nicht unumstritten – als der Vater des Mainstreams der mediävistischen Textkritik, die, anders als konkurrierende zeitgenössische Unternehmungen, von einem bemerkenswerten Misstrauen gegenüber der handschriftlichen Überlieferung geprägt war. Er versuchte, autornahe Texte zu rekonstruieren und die ,echte‘ von der ,unechten‘ Überlieferung zu trennen. Dabei ging er allerdings von einem Text- und Dichterbild aus, das am Klassizismus seiner Zeit gewonnen war.

Lachmans Wirkung

Seine Waltherausgabe von 1827 (21843; vgl. Holznagel 1999) gilt bis heute als vorbildlich, und noch immer wird, umständlich genug, gerne nach deren Seiten und Zeilen zitiert. Die beiden folgenden Auflagen (1853, 1864) besorgte Lachmanns Schüler Moritz Haupt, die 5. und 6. (1875, 1891) der streitbare Lachmannianer Karl Müllenhoff. Auf dieser Grundlage und im Anschluss an seine eigene kommentierte Edition (11869; 41924 von Victor Michels überarbeitet) verfasste Wilhelm Wilmanns einen umfangreichen Kommentar zu „Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide“ (Wilmanns 1882; 21916 von Michels), der das biografisch orientierte Waltherbild bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägte.

Münchener Schule

Die weiteren Auflagen der Lachmann-Edition übernahm die Münchener Schule: Carl von Kraus (71907, 81923, 9/101930, 111950, 121959; dazu Kraus 1935, ein umfänglicher Band „Untersuchungen“), der im Vergleich zu Lachmann „geradezu barbarisch“ (Bein 2004, 79) mit den Handschriften umging, sowie Hugo Kuhn (131965), der wieder den Weg zu Lachmann zurück suchte. Mit der 14. Auflage 1996 ging Christoph Cormeau diesen Weg weiter, indem er die Handschriften als „Zeugen eines schriftliterarischen Traditionsprozesses“ interpretierte und davon ausging, dass sie eindeutige Fehler, aber auch Textvarianten enthalten, „die nicht sicher auf einen handschriftlichen Archetyp zurückzuführen sind, sondern in den Übergangsbereich zwischen mündlicher Variabilität und schriftlicher Fixierung zurückreichen.“ (W, S. XVIII) Unter diesen Prämissen stellt Cormeaus Schüler Thomas Bein eine revidierte 15. Auflage (s. Bein 2005) in Aussicht, von der u. a. eine noch größere Rücksichtnahme auf die Textvarianz zu erwarten ist. Mag man rückblickend die von Lachmann initiierte Form der Textkritik als Irrweg bezeichnen, so wäre doch ohne sie die ,neue Bescheidenheit‘ der gegenwärtigen Philologie, die sich u. a. durch eine zunehmende Nähe zur handschriftlichen Überlieferung und die Akzeptanz eigenständiger Textvarianten auszeichnet, wohl kaum möglich gewesen.

Hermann Paul

Hermann Paul hatte in der „Altdeutschen Textbibliothek“ (1882, 41911) eine eigenständige kritische Ausgabe erarbeitet, die jedoch Albert Leitzmann 1945 Lachmanns Edition anglich. Silvia Ranawake, die heutige Betreuerin der Ausgabe, kehrte mit dem Argument, dass Paul behutsamer mit der Überlieferung umgegangen war, wieder zur 4. Auflage Pauls zurück und bereitet eine neue, kommentierte und die Varianz der Texte übersichtlich darstellende Ausgabe vor (s. Ranawake/Steinmetz 2005).

Günther Schweikle

In seiner zweibändigen, mit verlässlicher Kommentierung und hilfreichen Übersetzungen versehenen Walther-Ausgabe (s. Schw. 1 und 2) setzte Günther Schweikle neue Maßstäbe und wandte sich gegen jede Form rekonstruierender Textkritik: „Mir war daran gelegen, einen genuin mittelalterlichen Text in seiner Zeitgebundenheit zu präsentieren.“ (Schw. 1, 7) Allerdings griff er vor allem durch die Rückführung der handschriftlichen (in seinem Fall alemannischen) Varietät auf ein ,normalisiertes‘ Mittelhochdeutsch, das bekanntlich in dieser Form nie existierte, außerordentlich stark in die sprachliche und z. T. auch metrische Gestaltung der Gesänge ein (was aus didaktischen Gründen wohl zu rechtfertigen, für eine kritische Ausgabe aber problematisch ist).

Kommentierungen, Übersetzungen

Lachmanns Ausgabe wurde zahlreichen kommentierten und auswählenden Editionen zugrunde gelegt (vgl. Ranawake 1999), von denen hier nur die fundiert erarbeiteten Ausgaben von Helmut Protze, Joerg Schaefer und Peter Wapnewski – diese im Kommentar veraltet, jedoch mit z. T. kongenialen Übertragungen – erwähnt werden sollen. Wapnewskis Auswahl ist seit 1999 auf vier CDs, von ihm selbst besprochen, zugänglich. Friedrich Maurers mehrfach in der „Altdeutschen Textbibliothek“ aufgelegte Ausgabe, bald begleitet von einer Übersetzung, entfernte sich durch eine eigenwillige Auffassung der Töne (wîsen) wohl am weitesten von den handschriftlichen Vorgaben (s. Bein 2004, 84–86).

Nachdichtungen

Unter den gereimten Übertragungen bilden die zurückhaltenden von Hubert Witt (seit 1978) eine schöne Ausnahme, während die von Peter Rühmkorf, basierend auf Walthers Charakterisierung als „des Reiches genialste Schandschnauze“ (1975, 52), m. E. zu subjektiv und zu forsch sind.

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