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5. Waltherbilder aus dem Zeitgeist

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Zeitgeist

Der ,Zeitgeist‘ ist ein schwer zu fassender Geselle, jedoch unter heuristischer Perspektive brauchbar, denn er beschreibt nach der Definition des Brockhaus multimedial 2008, „die in einer Epoche vorherrschend prägende Ausrichtung der geistigen Haltung, des Stils, der Lebensformen und Ideen.“ Heute messen sogenannte Trendscouts den Puls der Zeit, dem sich, das sollte nicht verschwiegen werden, auch die Wissenschaft nur selten verschließt. Dies wird im Folgenden anhand von sechs Beispielen durch einige kennzeichnende Zitate meist einflussreicher Germanisten belegt. Die auf diese Weise dokumentierte Bewegung der Forschungsgeschichte macht verständlich, warum die in Kapitel I.5 versuchte präzise Positionierung des Ichs der Gesänge für deren angemessene Analyse entscheidend ist. Ich spreche plakativ von:

 dem ,vaterländischen Walther‘ des 19. Jahrhunderts (Ludwig Uhland)

 dem ,Walther des Seelenadels‘ der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit (Konrad Burdach)

 dem ,Walther als Erzieher‘ der späteren Weimarer und der nationalsozialistischen Zeit (Hans Naumann)

 dem ,menschlichen Walther‘ der frühen Bundesrepublik (Helmut de Boor)

 dem ,proletarischen Walther‘ der siebziger Jahre (Alois Kircher) und

 dem ,instabilen Walther‘ der Gegenwart

Ludwig Uhland

,patriotisch‘

Uhland, der politisch engagierte Schwabe, malte in seiner 1822 erschienenen Monografie „Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter“ cum grano salis ein Selbstportrait, indem er die ,vaterländische‘ Gesinnung des Dichters besonders herausstrich:

Mit tiefem Kummer hält er dem politischen und sittlichen Verfalle seines Vaterlands dessen früheren Glanz entgegen […] Ihm gebührt unter den altdeutschen Sängern vorzugsweise der Name des vaterländischen. Keiner hat, wie er, die Eigenthümlichkeit seines Volkes erkannt und empfunden. (Uhland 1822, 25 und 28)

Die Erinnerung an den großen Dichter des Mittelalters während der Restaurationsepoche nach dem Wiener Kongress sollte, so darf man annehmen, den Patriotismus der Gegenwart und – in Erinnerung an das 1806 untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation – die Zuversicht auf ein Zusammenwachsen des damaligen Deutschen Bundes zu einem neuen Reich stärken.

Konrad Burdach

,wilhelminisch‘

Angeregt durch die Goethephilologie einerseits, die Genieästhetik andererseits, führte Konrad Burdach einen Walther in die Literaturgeschichte ein, der sich „zu einer Aristokrathie der Seele“ (Burdach 1900, 97) bekenne, und stellte bewundernd fest:

Er ging seinen Weg durch alle Schrecken der äußeren und inneren Untreue, des Verraths und Undanks, der Lüge und Heuchelei, der Habgier und Hinterlist, das Haupt erhoben, die Augen fest auf die ewigen Güter gerichtet. (Burdach 1900, 93)

Hans Naumann

,völkisch‘, ,nationalsozialistisch‘

Hans Naumann, der die völkische, später nationalsozialistisch überformte Mittelalterrezeption repräsentiert, polemisierte gegen das „weiche“ und „biedermeierische“ Waltherbild (Naumann 1929, 115), das er durch den „unwirschen, herrischen Hüter der Zucht, Ordnung und Tradition“ (Naumann 1929, 118) ersetzen wollte: „Der erzieherische Walther erscheint uns als das Moment, durch das wir Walthers Eigenart und Bedeutung allein zu fassen vermögen.“ (Naumann 1929, 115) Cum grano salis erinnert dies an die Anfänge der neuzeitlichen Waltherrezeption.

Helmut de Boor

,menschlich‘

Demgegenüber akzentuierte die Mediävistik der frühen Bundesrepublik vorzugsweise den unpolitischen und überzeitlichen Walther. Sie schätzte bei ihm „das Hervorbrechen des Menschlichen“ (de Boor 1956, 129). Er war „ritterlichen Standes“ und dichtete „aus dem gehobenen Standesgefühl des Ritters“ (de Boor/Hennig 101979, 278). „Wir können mit ziemlicher Sicherheit die äußere und innere Entwicklung des großen Sängers überschauen, von den Anfängen des Reinmarschülers am Wiener Hof bis zu dem tiefen Weltkenner und Weltüberwinder der Alterselegie.“ (de Boor/Hennig 101979, 279) Walther:

ist zu den Ursprüngen zurückgekehrt, den dunklen, warmen Tiefen, aus denen alle Liebe aufquillt […]. Doch sein Lebensboden blieb die höfische Welt und ihr adliges Menschentum […]. Seiner Gestaltungskraft gelang es, Anfang und Ende, Trieb und Seelenadel zu neuer Einheit zu fügen. (de Boor/Hennig 101979, 291)

An der Wende zweier Zeiten stehend blickt Walther scheidend vor und zurück. Aber anders als Moses sieht er das Gelobte Land nicht als Verheißung vor sich liegen. Es liegt hinter ihm, ein Land, das er durchwandert hat, ein Land der Ordnung und Bedeutung, der Zucht und Freude, der Reinheit und Schönheit – die staufische Welt, in der die Humanität der höfischen Haltung und die Verwirklichung einer großen politischen Ordnung in jener Wechselbeziehung von Innen und Außen, von Wesen und Erscheinung harmonisch ineinanderstimmte, die für das Denken jener Generation das Siegel der Vollendung war. (de Boor/Hennig 101979, 306)

Alois Kircher

,plebejisch‘

Kircher warf dieser Forschung pauschal eine „verzeichnende Überhöhung des Waltherbildes“ vor, die dazu geführt habe, dass „die advokatorische Grundhaltung seiner Verse, die Widerspiegelung des eigenen Interessenstandpunktes“ (Kircher 1973, 57), missachtet wurde. Deshalb ging er dem vermeintlichen „plebejischen Materialismus“ (1973, 83) des Dichters nach und unterstellte ihm ein „spontan-materialistische[s] Bewußtsein, das ideologische Ansprüche der Gesellschaft stets auf ihren Nutzen hin befragt.“ (1973, 95) Die These von „Walthers Zugehörigkeit zum Ministerialen- oder Ritterstand“ sei ein „Mythos“ (1973, 58), und niemals sei er als „Anwalt einer überpersönlichen, allgemeingültigen Ordnung oder eines absoluten ethischen Wertesystems aufgetreten“, sondern stets nur „als Anwalt seiner eigenen materiellen Interessen.“ (1973, 87) Deutlich werden auch hier noch Autor-Ich und Text-Ich gleichgesetzt, und es bleibt eine ideologisch bedingte Unterstellung, dass eine Anwaltschaft für allgemeingültige Werte nicht mit den individuellen Interessen eines Autors vereinbar sei. Wie auch immer: Kirchers Studie, frontal gegen die damals etablierte Germanistik gerichtet, schärfte den Blick dafür, dass die Gesänge Walthers auch im Hinblick auf dessen Erwerbsleben zu lesen seien.

Walther heute

,instabil‘

Der ,neue Walther‘ soll – unter Beachtung der vielfältigen Brechungen zwischen Autor-Ich und Text-Ich sowie der spezifischen mittelalterlichen Produktionsbedingungen – ein ,authentischer Walther‘ werden, rekonstruiert aus den handschriftlichen Quellen. Trude Ehlert stellte den „Erkenntniswert einer Werkchronologie, die ausschließlich auf Hypothesen und anderen nicht nachweisbaren Voraussetzungen beruht“ (Ehlert 1980, 16), infrage, und Gerhard Hahn wies darauf hin, dass Walther „nicht nach dem Muster dargestellt werden [kann], das für neuere Autoren das übliche und vertraute ist.“ (Hahn 1986, 12) Der langsame Abschied von der ,alten‘ Philologie hat die Einsicht in die Instabilität der Texte und damit auch in die Pluralität ihrer Sinnstiftungen als eine ihrer genuinen Bedingungen geschärft. Ob – etwa im Rahmen einer trivialisierten Rezeption von Haferland 2000 oder in einer dialektischen Forschungsbewegung gegen eine zu sehr abstrahierende Textlektüre – die Ich-Instanzen der Texte wieder sorgloser an die Person Walthers geknüpft werden, bleibt abzuwarten.

Die Diskusionen über Konstruktion und Rekonstruktion in den Philologien und Geschichtswissenschaften haben Bescheidenheit gelehrt. Wie er wirklich gewesen, der ,authentische Walther‘, bleibt uns verschlossen, aber die Annäherungen an ihn über seine Texte durch die verschiedenen wissenschaftlichen Darstellungen und Methoden bleiben ein hohes intellektuelles Vergnügen, das uns die fremde Welt des Mittelalters vertrauter macht und unsere Sensibilität für das Fremde an sich, das immer auch ein Teil von uns ist, schärft.

Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide

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