Читать книгу Das Brustgespenst - Patricia Causey - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеWir leben unser Leben tagein, tagaus mit den kleinen und den großen Hindernissen im Alltag. Wir gleiten fröhlich, sorglos und nichtsahnend dahin, bis uns eines Tages ein Ereignis im Leben den Boden unter den Füßen entzieht und uns in eine Tiefe fallen lässt, in der es sehr dunkel sein kann. Es sind diese Momente, in denen wir uns fragen: Warum, warum eigentlich ich?
Manche von uns beschäftigen sich mit dem Warum und offenbaren dabei eine eigene Erkenntnis, welche uns dabei hilft, wieder aufzustehen und zu kämpfen. Manche von uns lässt das Offenbaren der Erkenntnis Frieden finden.
Doch was ist, wenn uns nicht viel Zeit verbleibt? Was ist, wenn ein Kampf für uns aussichtslos erscheint? Was ist, wenn der Kampf an unseren Kräftereserven dermaßen zehrt, dass wir beinahe befürchten müssen, dass davon nicht mehr viel verbleibt? Was ist, wenn wir nicht mehr länger kämpfen wollen, wäre dies dann das Ende?
Bereits so viele Male in meinem Leben war es mir, Katia Hansen, passiert, dass ich vor etwas Angst hatte, etwa vor Prüfungen, schwierigen Gesprächen oder gar Arztbesuchen. Es war dabei keine wirklich greifbare Angst zu spüren, sondern eher dieses flaue Gefühl im Magen. Meistens jedoch hatte es sich in Wohlgefallen aufgelöst, und bisher war es bei den meisten heiklen Situationen dabei geblieben. Ich hatte die Angst auf die eine oder andere Weise gut überstanden. Mit dieser Erfahrung war ich zum heutigen Arzttermin gegangen und hatte mir eigentlich nichts Böses dabei gedacht. Die gynäkologische Untersuchung vor eineinhalb Wochen war schließlich reine Routine gewesen.
„Der große TÜV“, hatte es mein Mann Uwe oft scherzhaft genannt. Nun war ich aufgrund eines Verdachts erneut in die Praxis gebeten worden. Als ich zu Hause den Anruf von der Praxis bekam, war ich zunächst verwirrt und wusste nicht so recht, weshalb sie mich angerufen hatten. Selbstverständlich bekam man meist nach einer Untersuchung den Standardtext „Wir melden uns bei Ihnen, sollte da was sein“ zu hören. Man nickt diesen zwar ab, aber denkt im selben Moment auch daran, dass es nicht passieren wird. Eine Minute später hat man die Auswirkung, die sich hinter diesem Standardtext verbergen können, auch schon wieder vergessen und fährt nach Hause oder geht seinen alltäglichen Erledigungen nach.
Anstelle des Wohlgefühls und des Vergessens saß ich nun im Sprechzimmer und hörte stets die wiederkehrende Stimme von Herrn Dr. Eisenring wie ein nicht enden wollendes Echo. Brustkrebs, Brustkrebs, Brustkrebs, Brustkrebs.
Selbstverständlich hatte er es nur einmal gesagt, aber seit er dieses Wort ausgesprochen hatte, schien es mir, als würde er es andauernd wiederholen. Er sagte „Blutbild“, und ich verstand Brustkrebs. Er fuhr fort mit dem Wort „Biopsie“, und ich verstand abermals nur Brustkrebs.
Im Sprechzimmer wusste ich, dass ich mich irgendwie wieder fangen sollte, um mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Ich hatte mich dort noch gefragt, ob der Arzt sich wohl ärgern würde, wenn ich ihm gestand, dass ich ihm seit „Brustkrebs“ nicht mehr folgen konnte.
Die Konzentration hatte ich nach einer Weile zurückerlangt, denn ich musste unbedingt wissen, wie es weitergehen sollte. Eigentlich musste ich zunächst einmal wissen, um was er hier ganz grundsätzlich ging. Hatte ich nun Brustkrebs oder nicht? Was hatte er genau gesagt? Ich erinnerte mich wieder, denn da fiel das Wort „Verdacht“.
„Ich habe doch gar keinen Knoten gespürt, wie kann das sein?“, erinnerte ich mich, fragend eingeworfen zu haben. Die Erklärung von Dr. Eisenring war, dass dieser etwas tiefer säße und zudem flacher als normal sei. Mein Arzt kündigte mir weitere Untersuchungen an, um ganz sicherzugehen.
Es war einfach nicht zu fassen in diesen Minuten der Offenbarung eines Brustkrebsverdachts, denn ich verlor immerzu die Konzentration, dem Arzt zu folgen. Auch hätte ich mehr Fragen stellen können, denn Dr. Eisenring hatte sich bei mir während des Aufklärungsgesprächs stets erkundigt, ob ich ihm folgen könne. Ich nickte zwar, aber es legte sich ein dunkler Schleier über meinen Verstand. Die Fragen fallen einem zudem auch meist erst später ein. Im Sprechzimmer ermahnte ich mich immer wieder selbst, dass ich mich nun wirklich zusammenreißen musste. Wie damals, als ich mir kurz vor der Hochzeit meines Cousins Daniel den Arm verbrannt hatte und mich trotzdem in das enge Kleid mit Ärmeln zwängen musste. Das hatte den ganzen Tag wahnsinnig gebrannt. Dennoch war ich eine tapfere Kriegerin. Die Gäste, Freunde und Verwandten hatten nichts bemerkt, aber auch rein gar nichts. Nur mein Uwe wusste es und hatte mir unentwegt verschmitzt zugelächelt. Eine echte Kriegerin hätte ihm dafür natürlich im Nu mit der Keule eins übergebraten, aber ich bin eben eine Kriegerin des Schmerzes.
Ich bat Herrn Dr. Eisenring, mir alles noch einmal genau zu erklären, und hatte das Gefühl, dass ich nun mehr verstanden hatte. Dennoch saß der Schock so tief, dass ich mich völlig benommen fühlte. Ich wünschte mir so sehr, dass Uwe bei mir wäre, und fühlte mich schrecklich alleingelassen in diesem Moment. Ich war Uwe deswegen nicht böse, dass er nicht anwesend war, vielmehr war ich es nur von ihm gewöhnt gewesen, dass er mein Fels in der Brandung war, wenn ich schlechte Nachrichten erhalten hatte. Uwe konnte rein gar nichts dafür, und schließlich ging ich oft allein zum Arzt. Es war einfach nur das Gefühl des Alleinseins, und dies im gesamten Universum, während man selbst auf einer Art Richterbank saß und sein Urteil abgewartet hatte.