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KAPITEL II – Im Herzen Inagis
ОглавлениеDen ganzen Weg zu Fuß zu gehen, hatte Yaren mehr erschöpft, als er irgendjemandem gegenüber zugegeben hätte. Wenn es jetzt ein Drache auf ihn abgesehen hätte, hätte er dem Biest nicht viel entgegenzusetzen. Doch nachts griffen die Echsen nicht an. Davon abgesehen war der Canyon, den der Fluss in die Felsen geschnitten hatte, an dieser Stelle so eng, dass ein Drache Schwierigkeiten hätte hier zu fliegen, ohne mit seinen Schwingen die Felswände zu touchieren. Nur kurz nach ihrem Aufbruch aus den Ruinen hatte er geglaubt, einen oder zwei von ihnen in der Ferne brüllen zu hören. Einen Moment hatte er erwogen umzukehren, doch dann hatte er sich gesagt, dass Ishiras Brüder sie besser beschützen konnten als er. Außerdem konnte er die Armee nicht ohne Vorwarnung ins Verderben laufen lassen.
Dennoch haderte er mit seiner Entscheidung, Ishira in den Ruinen zurückgelassen zu haben, obwohl sie dadurch wenigstens nicht in das morgige Kampfgeschehen verwickelt würde. Er warf Yuroka, der neben ihm ging, einen kurzen Blick zu. Wie dieser wohl darüber dachte, dass sie ihn mit ihm zurückgeschickt hatte? Viel geredet hatten sie unterwegs nicht. Der Raikar hatte keine Anstalten gemacht, ein Gespräch anzufangen, und er selbst hatte lediglich herausfinden wollen, ob Ishira ihren Brüdern mehr erzählt hatte als ihm, was jedoch nicht der Fall zu sein schien. Es sei denn, Yuroka war nicht nur schweigsam, sondern auch verschwiegen.
Die meisten Männer schliefen tief und fest, als sie im Lager ankamen. Hier und da schnarchte jemand oder murmelte unverständlich vor sich hin. Am liebsten hätte Yaren sich in seine Decke gerollt und es seinen Kameraden gleichgetan, aber zuerst musste er den Befehlshabern von seiner Vermutung berichten.
Die Kommandanten und die Kundschafter waren noch wach. Sobald Yuroka und er in den Lichtschein des Lagerfeuers traten, kam Bewegung in die Männer.
„Den Göttern sei Dank, Ihr seid zurück“, rief Berelar mit gedämpfter Stimme. „Noch dazu in einem Stück.“
Mebilor hatte sich erhoben und legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter. „Götter, Junge, bin ich froh, dich zu sehen.“
Beruk hingegen runzelte irritiert die Stirn. „Hat die Sklavin unsere Befehle nicht übermittelt oder warum seid Ihr zurückgekommen? Ihr seht mir nicht aus, als würdet Ihr die Dienste eines Heilers benötigen.“
„Glücklicherweise nicht“, bestätigte Yaren. „Ich bin hier, um Euch zu warnen.“
„Uns zu warnen?“ wiederholte Helon. „Wovor?“
„Ich glaube, ich weiß jetzt, warum uns die Drachen bis hierher haben kommen lassen. Warum sie uns genau dort angreifen wollen, wo sie die damalige Armee vernichtet haben.“
Gemurmel setzte ein. Der Shohon sorgte mit einer Handbewegung für Ruhe. „Was habt Ihr herausgefunden, Kiresh Yaren?“
Froh, endlich sitzen zu können, ließ Yaren sich Helon gegenüber am Feuer nieder. Auch Mebilor und Berelar nahmen wieder ihre Plätze ein. „Ich habe mir die Ruinen angesehen. Die Energie ist überall. Sie dringt aus jeder Bodenspalte, durchströmt jede Pflanze und jeden Stein – und sie ist so stark, dass ein Mensch sich dort nicht lange aufhalten kann, ohne Schaden zu erleiden.“
Magur musterte ihn lauernd. „Dass Ihr es dennoch konntet, legt den Schluss nahe, dass Ihr gegen das Gesetz verstoßen und Euch mit dem Blut der Drachen eingerieben habt, obwohl Ihr nicht zu den Koshagi gehört.“
„Eure Schlussfolgerung ist korrekt“, kam der Shohon einer Antwort Yarens zuvor. „Kiresh Yaren hat seine Tat vor seinem Aufbruch in die Ruinen gestanden, nachdem ich ihn mit meinem eigenen Verdacht konfrontiert hatte. Ich unterstelle ihn hiermit Eurem Befehl, Kouran Magur. Zu gegebener Zeit wird eine Strafe über ihn verhängt werden, doch im Moment ist die Verfehlung des Kiresh unser geringstes Problem.“
Yaren neigte den Kopf zum Zeichen, dass er Helons Entscheidung akzeptierte, und wandte sich widerstrebend Magur zu. „Ich stehe zu Eurer Verfügung, Kouran.“
Die Lippen des Paladins wurden schmal. „Ab sofort ist Euer Platz bei meinen Männern. Außerdem ist es Euch untersagt, Euch der Sklavin zu nähern. Ich ersuche den Shohon, für ihre Bewachung einen anderen Kiresh abzustellen – falls sich diese Maßnahme nicht ohnehin erübrigt.“ Seiner Stimme war anzumerken, dass es ihm nicht unlieb wäre, wenn Ishira nicht aus den Ruinen zurückkehrte.
Helon nickte müde, als hätte er diesen Antrag erwartet. Im ersten Impuls wollte Yaren widersprechen, doch er biss sich rechtzeitig auf die Lippen. Magur gegen sich aufbringen, wäre das Dümmste, was er tun könnte. Aber er konnte Ishira nicht einfach irgendeinem anderen Mann ausliefern. Erst recht nicht, nachdem zwei der Kireshi vor ein paar Tagen versucht hatten, sie mit Gewalt zu nehmen. Sein Zorn kochte hoch, wenn er nur daran dachte.
„Ich erbiete mich, die Aufgabe zu übernehmen und ein Auge auf Ishira zu haben“, meldete sich Mebilor zu Wort, als hätte er Yarens stummen Aufschrei gehört. Er warf dem Heiler einen dankbaren Blick zu, den dieser mit einem beruhigenden Nicken erwiderte.
Der Shohon schien erleichtert, dass die Angelegenheit so rasch und ohne sein Zutun geregelt war. „So sei es. Hiermit gebe ich die Sklavin bis auf weiteres in Eure Obhut, Telan Mebilor. – Fahrt mit Eurem Bericht fort, Kiresh Yaren.“
„Die Stadt ist gewaltig und die einstigen Bewohner waren technisch so weit fortgeschritten, dass sie die Energie anzapfen und durch ein ausgeklügeltes Rohrsystem in ihre Häuser leiten konnten.“ Diesmal waren es vor allem die Telani, die aufgeregt zu tuscheln anfingen. Erneut musste der Shohon die Ruhe wiederherstellen. „Ich habe eine unterirdische Kammer gefunden, hinter der aller Wahrscheinlichkeit nach die Energiequelle liegt. Während ich dort unten war, stieg die Energie sprunghaft an. Ich verlor kurze Zeit die Besinnung und konnte deshalb nicht rechtzeitig am Treffpunkt sein. Aber mir wurde plötzlich klar, was die Drachen vorhaben. Sie wollen uns in die Ruinen locken und dann die Energie ansteigen lassen, indem sie ihre Speicher aufladen. Dazu müssen sie vermutlich nicht einmal zum Ursprung fliegen, sondern können es an jeder Stelle innerhalb der Stadt tun, an der Energie austritt. Sobald die Energie uns geschwächt hat, wird es den Echsen ein Leichtes sein, uns den Rest zu geben. Genau genommen brauchen sie überhaupt nichts zu tun. Sie müssen uns lediglich so lange in ihrer Falle festhalten, bis die Energie uns den Garaus macht.“
Einen Moment herrschte schockiertes Schweigen, bis Beruk sich mit der Faust auf den Schenkel hieb. „Bei Kaddors Feuern, Ihr habt Recht! Warum ist uns das nicht früher in den Sinn gekommen?“
Magur schoss Ralan einen finsteren Blick zu. „Deine Tochter muss es gewusst haben“, warf er dem Anführer der Raikari vor. „Schließlich steht sie mit den Drachen in Verbindung. Hat sie uns absichtlich in diese Falle gelockt?“
„Das ist eine unerhörte Unterstellung!“ fuhr dieser auf. „Meine Tochter kann die Präsenz der Echsen spüren, aber nicht ihre Gedanken lesen. Davon abgesehen wäre sie wohl kaum freiwillig in die Stadt gegangen, wenn sie von den Plänen der Drachen gewusst hätte.“
„Ach nein? Was hat sie denn zu befürchten? Schließlich ist sie immun gegen die Energie. Genauso wie deine Zwitter.“
„Immun gegen die Blitze der Drachen“, berichtigte Ralan ihn frostig. „Ich habe keine Ahnung, wie meine Männer auf eine stärkere Dosis der Energie reagieren. Aber du solltest besser dafür beten, dass sie auch dann noch kämpfen können, wenn die Echsen die Energiekonzentration in die Höhe treiben, denn deine Männer werden es vermutlich nicht mehr können. Von den Kireshi ganz zu schweigen. Du hast Kiresh Yaren gehört.“
„Uns gegenseitig Vorwürfe zu machen, hilft uns nicht weiter“, unterbrach Helon ruhig und brachte damit die beiden Streithähne zum Verstummen. „Wir sollten uns besser eine Strategie überlegen, wie wir die Pläne der Drachen vereiteln, sollte sich Kiresh Yarens Vermutung als richtig erweisen. – Wie schätzt Ihr die Gegebenheiten innerhalb der Ruinen ein, Kiresh? Habt Ihr außer der Energie weitere potenzielle Gefahrenquellen ausmachen können?“
„Der See im Zentrum ist ebenso energiegeschwängert wie die blauen Teiche, mit deren Wasser ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, Bekanntschaft zu schließen, und es hat sich eine einzigartige Vegetation entwickelt, die sich an die Energie angepasst hat. Sie scheint mir nicht sonderlich gefährlich zu sein, aber es wäre besser, direkten Kontakt zu vermeiden.“
Helon nickte. „Ich werde es an die Männer weitergeben.“
Den nächsten halben Sanddurchlauf verbrachten sie damit, darüber zu diskutieren, wie die Einheiten aufgestellt und die Geschütze verteilt werden sollten.
„Konntet Ihr Hinweise darauf finden, wodurch die Höhle, in der die Energie ihren Ursprung nimmt, zerstört wurde?“ erkundigte sich Garulan bei Yaren, nachdem alle taktischen Fragen geklärt waren.
„Es könnte ein Erdbeben gewesen sein. In der Nähe der Höhle hat sich die Erde aufgeworfen und die Zerstörungen sind dort am stärksten sichtbar. Aber es kann genauso gut sein, dass die austretende Energie zu Explosionen geführt hat.“
„Ich würde diese Ruinen zu gern erforschen“, sagte Koban wehmütig. „Wir könnten so viel von dieser alten Hochkultur lernen.“
„Die Stadt war in der Tat hochentwickelt“, stimmte Yaren zu. „Möglicherweise besaßen sie sogar fliegende Schiffe. Zumindest waren solche Gefährte an den Mauern des Palastes abgebildet.“
Er hatte kaum ausgesprochen, als die Telani ihn schon mit Fragen bestürmten. Selbst Helon hörte interessiert zu, als er von den Reliefs erzählte.
„Fliegen wie die Drachen!“ rief Koban aus. „Welch wundervolle Vorstellung! Denkt nur, wenn wir die Baupläne für diese fliegenden Schiffe finden könnten!“
„Wenn es uns gelingt, das Loch in der Höhlendecke zu schließen, und keine Energie mehr austritt, wird die Stadt vielleicht auch wieder für normale Menschen zugänglich“, sagte Garulan hoffnungsvoll. „Habt Ihr die Sklavin zu diesem unterirdischen Raum geführt, Kiresh Yaren?“
„Das war nicht nötig. Sie findet den Turm allein.“ Er sprach mit solcher Überzeugung, dass weder Garulan noch Koban an seiner Behauptung zweifelten.
Der Shohon nickte kurz. „Ich denke, dann ist alles besprochen. Bevor wir im Morgengrauen aufbrechen, sollten wir noch etwas Ruhe suchen.“
Die Versammlung löste sich auf. Mebilor nahm Yaren beiseite. „Du siehst schlecht aus. Du hast deinem Körper in den letzten Tagen zu viel zugemutet.“
Yaren hob die Schultern. „Nicht zu ändern. Aber falls Ihr in Eurer Gifttruhe etwas habt, das mich morgen den Kampf durchstehen lässt, wüsste ich das zu schätzen.“
Der Heiler seufzte. „Folge mir.“
„Hat Ishira Euch jemals etwas von Geistern erzählt?“ fragte Yaren im Gehen.
Mebilor sah ihn verständnislos an. „Geistern?“
„Sie hat behauptet, die Geister der Berge oder der Energie oder was weiß ich würden zu ihr sprechen und hätten sie aufgefordert, in die Ruinenstadt zu kommen. Sie sagte, sie hätten ihr die Erinnerungen einer der Stadtbewohnerinnen geschickt.“ Als er es aussprach, merkte er, wie verrückt das klang. Auf einmal war ihm schleierhaft, wie er Ishiras Worte einfach so hatte hinnehmen können ohne nachzufragen. Die Energie musste seinen Verstand benebelt haben.
Doch der Heiler wirkte nicht besonders überrascht. „In Ishiras Fall wundert mich gar nichts mehr, wie unwahrscheinlich es auch klingen mag. Aber, um deine Frage zu beantworten: leider hat sie mir gegenüber etwas Derartiges nie erwähnt.“ Nachdenklich schürzte er die Lippen. „Wenn sie sich außer dir jemandem anvertraut hat, dann höchstens ihrem Bruder – Kenjin, meine ich.“
Als sie am Heck des Lazarettwagens anlangten, schob Mebilor die Plane beiseite und stieg ins Innere. Yaren folgte ihm. Während der Heiler sich daran machte, irgendeinen Trank zusammen zu mischen, ging er hinüber zu Ishiras Bruder, bemüht, keinen der anderen Verwundeten zu wecken. Zuerst glaubte er, auch Kenjin würde schlafen, doch als er neben ihm in die Hocke ging, schlug der Junge die Augen auf. Sofort verfinsterte sich sein Blick, doch Yaren blieb die Angst in den Tiefen seiner Augen nicht verborgen.
„Was wollt Ihr von mir? Geht es um meine Schwester?“
„Ja. Aber um dich zu beruhigen: es ging ihr gut, als ich sie in den Ruinen verlassen habe. Drei der Raikari sind bei ihr.“ Kenjin antwortete nicht, doch seine Züge entspannten sich etwas. Yaren räusperte sich, unsicher, wie er seine Frage formulieren sollte. Schließlich entschied er sich für den direkten Weg. „Hat Ishira mit dir jemals über Geister geredet, die zu ihr sprechen?“
Die Augen des Jungen weiteten sich überrascht. „Woher wisst Ihr davon?“ Dann kehrte der verschlossene Ausdruck zurück. „Wenn meine Schwester mir mehr erzählt hat als Euch, war es offensichtlich nicht für Eure Ohren bestimmt.“
„Wann hat sie dir davon erzählt?“ beharrte Yaren.
Kenjin schwieg einen Moment, bevor er antwortete. „Unmittelbar vor ihrem Aufbruch.“
„Das heißt, sie hatte keine Möglichkeit, mit mir darüber zu reden.“ Warum nur hatte er in den Ruinen nicht richtig zugehört, als Zeit gewesen wäre? „Sag mir, was du weißt, Kenjin, es ist vielleicht wichtig.“
Der Junge zögerte, als würde er abwägen, wie viel er verraten durfte. „Meine Schwester hat nur gesagt, dass sie unbedingt in die Ruinen muss. Dass die Geister ihr dabei helfen könnten, eine Katastrophe zu verhindern.“
„Was für eine Katastrophe?“ Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen, als es bereits war?
„Sie war überzeugt davon, dass es falsch ist, die Amanori anzugreifen.“
Yaren runzelte die Stirn. Hatte sie doch geahnt, was die Drachen vorhatten? War sie in Wahrheit aus einem ganz anderen Grund in die Ruinen gekommen, als sie ihn hatte glauben lassen? „Mehr hat sie nicht gesagt?“
Ihr Bruder schüttelte den Kopf. Dann hob er in einer Mischung aus Stolz und Herausforderung das Kinn. „Ihr könnt sie nicht mehr daran hindern, ihrer Bestimmung zu folgen.“
Bevor Yaren etwas erwidern konnte, stand Mebilor neben ihm und reichte ihm eine Schale mit einer klaren honigfarbenen Flüssigkeit, die an Wein erinnerte. „Hier, trink das. Die enthaltenen Kräuter zapfen verborgene Kraftreserven in deinem Körper an und hemmen die Müdigkeit. Die Wirkung tritt erst mit Verzögerung ein, so dass du jetzt noch schlafen kannst. Ich bin grundsätzlich kein Freund solcher Mittel, weil sie meist mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen, aber in diesem Fall ist eine Ausnahme gerechtfertigt. Trotzdem muss ich dich warnen: sobald die Wirkung nachlässt, kommt der unvermeidliche Zusammenbruch, also teile deine Kräfte ein.“
Yaren griff nach dem Gefäß. Der Geruch des Tranks war nicht besonders angenehm. „Ich werde versuchen, Euren Rat zu beherzigen.“ Er leerte die Schale in einem Zug und musste bei dem scharfen und zugleich irgendwie muffigen Geschmack ein Schütteln unterdrücken. Eher Essig als Wein. „Danke.“
Der Heiler machte eine scheuchende Geste. „Schon gut. Such dir lieber einen Platz zum Schlafen.“
Yaren grinste schief und wandte sich zum Gehen, doch aus einem Impuls heraus drehte er sich noch einmal zu Ishiras Bruder um und zog sein Gebo aus dem Gürtel. Der Junge richtete sich erschrocken auf einem Ellbogen auf, als glaubte er, Yaren hätte vor, ihm das Kurzschwert ins Herz zu rammen. Yaren beugte sich zu ihm hinunter und reichte ihm die Waffe. „Hier. Auch wenn ich hoffe, dass du es nicht brauchst.“
Kenjin rührte sich nicht. Ungeduldig schob Yaren das Gebo unter dessen Decken. „Lass es nicht so offen herumliegen. Es würde kein gutes Licht auf mich werfen, wenn jemand sieht, dass ich dir eine Waffe gebe.“
Langsam streckte der Junge die Hand aus und berührte die Klinge. „Habt Ihr keine Angst, dass ich Euch damit die Kehle durchschneide?“
„Wenn es das ist, was du willst, nur zu.“
Mebilor wiegte zweifelnd den Kopf. „Hältst du das für klug?“
„Er ist ihr Bruder. Ich denke, das bin ich ihr schuldig.“
Ihm war zwar bewusst, dass es im Grunde eine leere Geste war, da ein Gebo gegen einen Drachen nichts ausrichten konnte, aber es war alles, was er tun konnte. „Ihr werdet schon aufpassen, dass er keinen Unfug anstellt“, sagte er mit angedeutetem Lächeln, bevor er wieder Kenjin ansah. „Wenn du das Gebo gegen irgendjemand anderen erhebst als gegen einen Drachen, durchbohre ich dich eigenhändig damit. Haben wir uns verstanden?“
Kenjin wandte den Blick ab, als wollte er nicht, dass Yaren seine Gefühle sah. „Ach, geht doch und lasst Euch von den Amanori umbringen!“
Er hob eine Braue. „Ich glaube, deine Schwester wäre über diesen Vorschlag nicht eben glücklich.“
Kenjins Hand umklammerte den Griff des Gebo. Unvermittelt bohrten sich seine Augen in Yarens. „Mir gefällt nicht, wie Ihr meine Schwester für Euch eingenommen habt, Kiresh. Lasst sie in Ruhe, sie braucht Euch nicht. Sie hat sich einem besseren Mann versprochen.“
Yaren war wie vor den Kopf geschlagen. Ishira gehörte einem anderen Mann? „Wem?“ entfuhr es ihm gedankenlos. Die Beleidigung nahm er kaum zur Kenntnis.
„Das geht Euch nichts an!“
Wütend packte er den Jungen am Hemd, doch dann hielt er inne. Weshalb wollte er unbedingt einen Namen? Was änderte das? Plötzlich ernüchtert gab er Kenjin frei und richtete sich auf. Warum hatte Ishira ihm nicht gesagt, dass sie einem anderen versprochen war? Aber hatte er ihr überhaupt Gelegenheit dazu gelassen? Er hatte sie mit seinem Kuss geradezu überfallen.
Aber sie hat ihn erwidert. Oder hatte er sich das nur eingebildet, weil er wollte, dass es so war?
Warum schockiert dich diese Neuigkeit überhaupt so? Du wusstest schon vorher, dass du mit Ishira keine Zukunft haben kannst.
Er brauchte keinen Konkurrenten zu fürchten, weil es nichts gab, worum sie konkurrieren konnten. Genau wie ihm selbst war es Ishira verwehrt, einen Partner zu wählen.
Dennoch fühlte sich Yarens Herz auf einmal an, als hätte jemand eine Zwinge darum gelegt. Er verließ den Wagen ohne ein weiteres Wort.
***
Otaru und Mahati hatten sich vom Schutthaufen am Boden des Turms Steine geholt und schlugen damit auf das Stellrad ein, dass das dicke Rohr mit den dünneren verband. Das Material erwies sich als stabiler als erwartet. Mahati hatte die Lippen fest zusammengepresst. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Ishira beobachtete ihn besorgt. „Was ist mir dir, Mahati?“
„Nichts“, entgegnete er knapp und hieb wie zum Beweis noch kraftvoller auf das Rohr ein. Dennoch entging ihr nicht, dass er nur seine linke Hand benutzte und seine Bewegungen ungewohnt ungelenk waren. Aber genau wie Yaren würden ihre Brüder sich eher die Zunge abbeißen als zuzugeben, dass es ihnen nicht gutging. Diese Angst, Schwäche zu zeigen, war offenbar eine männliche Grundeigenschaft – egal ob menschlich oder echsenblütig.
Endlich waren an den Rohren erste Risse zu erkennen und kurz darauf splitterte ein großes Stück ab. Die Verbindung begann sich zu lösen. Beim nächsten Schlag sog Mahati scharf den Atem ein und ließ seinen Stein fallen. Er sackte gegen das Rohr und umklammerte seine rechte Schulter. Ishira eilte zu ihm. „Mahati? Bist du verletzt?“
„Nein.“ Er wollte sich nach dem Stein bücken.
Sie hielt ihn am Arm fest. „Rede keinen Unsinn. Ich sehe doch, dass du Schmerzen hast.“ Gegen seinen Widerstand drehte sie ihn zu sich herum. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine rechte Schulter in einem unnatürlichen Winkel hing. Sie fasste nach seinem Ellbogen und bewegte die Schulter behutsam. Mahatis Gesicht verzerrte sich, doch er gab keinen Laut von sich. „Ich bin zwar keine Heilerin, aber ich glaube, deine Schulter ist gebrochen. Wir müssen deinen Arm irgendwie ruhigstellen.“ Ihr Blick fiel auf den Gürtel, in dem seine Waffen steckten. „Damit sollte es gehen.“
Ohne auf Mahatis Protest zu achten, zog sie die Schwerter heraus und wickelte das Seidenband von seiner Taille. Sie schlang es mehrfach um seine Schulter und den Oberkörper und band ihm den Arm auf diese Weise am Körper fest. Kritisch besah sie ihr Werk. „Das muss fürs Erste genügen. Wenn wir wieder zurück sind, wird Telan Mebilor deine Schulter richten.“ Sie versuchte nicht daran zu denken, dass sie den Heiler vielleicht nie wieder sehen würde. „Ruh dich aus. Den Rest schaffen Otaru und ich allein.“
Mahati ließ sich auf die Knie sinken. Doch anstatt sich hinzusetzen, senkte er seinen Oberkörper auf den Boden und legte die linke Hand flach neben seinen Kopf. „Verzeih meine Nutzlosigkeit. Ich bin es nicht wert, dir zu dienen.“
Ishira blickte verwirrt auf seinen Hinterkopf. Was war plötzlich in ihn gefahren? „Wovon redest du?“
„Ich habe mich meiner Aufgabe als unwürdig erwiesen. Anstatt dich zu beschützen, wie mein Kommandant mir aufgetragen hat, bin ich zu einer Last für dich geworden.“
„Was redest du denn da? Das ist doch überhaupt nicht wahr!“ Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und hob ihn an, so dass er gezwungen war, sie anzusehen. „Du hast nicht versagt, Mahati. Du hast mich vor den Angriffen der Amanori beschützt. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte der Steinschlag mich getötet. Ich will nie wieder hören, dass du eine Last für mich bist.“
Wie viel Druck auf diesen jungen Männern lasten musste, dass Mahati, nur etwa zwei Jahre älter als Kenjin, glaubte, in der Erfüllung seiner Pflichten versagt zu haben, weil er verletzt worden war. In diesem Augenblick hasste Ishira ihren Vater, obwohl sie wusste, dass letztlich auch er bei der Ausbildung der Drachenkrieger nur seine Befehle befolgt hatte. Er konnte keine Ausnahmen machen, nicht einmal bei seinen eigenen Söhnen.
Sie reichte Mahati ihren Wasserschlauch. „Trink. Und dann ruh dich aus.“
Er gehorchte wortlos, beinahe eingeschüchtert, Verwunderung in den Augen.
Sie hob den Stein auf, den er fallengelassen hatte, und begann, auf das Stellrad einzuhämmern. Einen Moment stand Otaru, der die Szene stumm verfolgt hatte und auf dessen Gesicht sich das gleiche Erstaunen malte wie auf Mahatis, reglos da und beobachtete sie, bevor er seine Arbeit wieder aufnahm. Nach einigen weiteren Schlägen brach das Stellrad ab und riss die dünnen Rohre mit sich. Mit dumpfem Krachen schlug die Konstruktion auf dem Boden auf. Ishira hielt den Atem an, als die austretende Energie über ihren Körper strich, aber sie spürte nicht mehr als ein schwaches Prickeln. Auch ihre Brüder zeigten keine Anzeichen einer Beeinträchtigung. Sie warf den Stein fort und spähte durch die gezackte Öffnung in die Röhre. Am gegenüberliegenden Ende wartete gleißende Helligkeit.
Du hast es beinahe geschafft, wisperten die Geister. Der Ursprung der Energie liegt direkt vor dir.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt würde sich zeigen, ob ihre Hoffnungen mehr waren als Hirngespinste und Wunschvorstellungen. „Ich gehe als erste. Nach mir Mahati und zum Schluss Otaru. Schaffst du es, mit deiner verletzten Schulter durch das Rohr zu kriechen, Mahati?“
Er nickte und kam ungeschickt auf die Füße. Vorsichtig, um sich an den scharfen Kanten nicht zu schneiden, kletterte Ishira in die Öffnung. Gegen das helle Licht kniff sie die Augen zusammen. Der Durchmesser des Rohrs war gerade groß genug, dass sie auf Händen und Knien kriechen konnte, wenn sie den Kopf leicht gesenkt hielt. Schritt für Schritt arbeitete sie sich voran, bis sie unter ihren Fingern die jenseitige Öffnung ertastete. Um sie herum prickelte die Energie und ließ ihre Eingeweide vibrieren wie eine angeschlagene Saite.
Sie öffnete ihre Lider einen Spalt breit. Im ersten Moment hatte sie den Eindruck, direkt in die Sonne zu blicken. Sie legte eine Hand vor die Augen und spähte durch ihre Finger, bis sie sich an das gleißende Licht gewöhnt hatte. Langsam schälten sich Einzelheiten aus ihrer Umgebung. Vor ihr lag eine Höhle gigantischen Ausmaßes. Sie kannte diesen Ort. In ihren Visionen war sie bereits hier gewesen. Sie hielt sich am Rand der Röhre fest und ließ sich auf den unebenen Felsboden hinabgleiten, um sich umzusehen.
In der Höhlenmitte ragte die pulsierende Säule aus Energie auf, die ständiger Veränderung unterworfen war. Überall zweigten fadenartige Gebilde ab und formten sich zu verschlungenen Strängen, die in Boden und Wänden verschwanden, als bestünden diese nicht aus massivem Gestein, sondern wären durchlässig wie Wasser. Auch diese Stränge waren nicht scharf umrissen, sondern verschwammen an den Rändern wie in flirrender Hitze. Um das Zentrum herum schwebten die Lichtkugeln, in denen sich die Geister manifestierten. Ehrfurchtsvoll senkte Ishira den Kopf. An diesem Ort wirkten die alten Götter.
Der Boden war übersät mit Skeletten der Amanori. Das hatten ihre Visionen ihr nicht gezeigt oder sie hatte nicht darauf geachtet. Einige der Skelette waren alt, vielleicht schon Hunderte von Jahren. Bei anderen waren die Knochen noch mit vertrockneten Schuppen überzogen und einige Kadaver sahen so aus, als lägen sie erst wenige Mondläufe dort. Sie dachte wieder an den verwundeten Amanori, der sich von dem Felsüberhang gestürzt hatte. Auch seine Überreste mussten sich irgendwo hier befinden. Ihr Blick wanderte nach oben. Über der Energiequelle war der breite Riss in der Höhlendecke als gezackte Linie zu sehen, hinter der sich dunkel der nächtliche Himmel abzeichnete. Das war die Stelle, durch die die Echsen in die Höhle eindrangen. Die Stelle, an der die Energie entwich.
Sie wandte sich der Röhre zu, um nach ihren Brüdern zu sehen. Gerade tauchte Mahatis Kopf in der Öffnung auf. Als er sich aus dem Rohr schob, streckte sie die Hand aus, um ihm zu helfen, doch im letzten Moment überlegte sie es sich anders. Sie wollte ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Aber sie hielt sich bereit, ihn im Notfall zu stützen, bis er sicher auf dem Boden stand.
Vielfaches Raunen in ihrem Rücken ließ sie sich wieder zur Energiesäule umdrehen. Die Geister waren auf sie zugeschwebt und tanzten vor ihr auf und ab. Ishira verneigte sich respektvoll.
Keine Zeit für höfliche Floskeln. Bist du bereit?
Sie holte Luft. Endlich würde sie erfahren, weshalb die Geister sie hergeführt hatten. „Ja. Ja, ich bin bereit.“
Die Lichtkugeln entfernten sich ein wenig und verharrten dann, als wollten sie sichergehen, dass Ishira ihnen folgte. Sie wartete, bis auch Otaru aus dem Rohr geklettert war, bevor sie den Lichtern nachlief. Auf halber Strecke zwischen der Röhre und der Energiesäule wiesen die Geister sie an stehenzubleiben.
Die Energie knisterte wie trockenes Holz, das jemand in Brand gesteckt hatte. Ein einzelner Faden ringelte sich aus der Säule und schnellte auf sie zu. Bevor sie schreien oder zurückweichen konnte, hatte er sich um ihre Taille gewickelt.
Hab keine Furcht, Dir geschieht nichts.
Ishiras Sicht verschwamm. Als sich ihr Blick wieder klärte, hatte sie das Gefühl, gleichzeitig in ihrem Körper zu stecken und von außen darauf zu blicken. Otaru und Mahati zogen ihre Waffen, doch im gleichen Augenblick schossen Lichttentakel auch auf sie zu und wanden sich um ihre Arme. Mahati schrie auf und ließ sein Kesh fallen, das er ohnehin nur ungeschickt mit der Linken gehalten hatte. Strauchelnd versuchte er, den Tentakeln auszuweichen, und stürzte schwer auf die Knie. Otaru hingegen umklammerte sein Kesh verbissen und stellte sich vor Ishira, obwohl es nichts gab, wogegen er die Waffe hätte richten können. Sie wollte ihren Brüdern zurufen, die Waffen wegzustecken, doch sie hatte keinen Zugriff auf ihre Stimme. Es war, als sei sie in ihrem eigenen Körper nur Gast.
Ein weiterer Energiestrang schoss auf Otaru zu. Er stöhnte auf. Das Kesh entglitt seinen Fingern und fiel scheppernd auf den Felsboden. Doch obwohl sein Atem keuchend ging und seine Finger zitterten, bückte er sich bereits, um seine Waffe aufzuheben. Auch Mahati versuchte, sich wieder auf die Füße zu kämpfen.
Endlich fand Ishira ihre Stimme wieder. „An diesem Ort braucht ihr mich nicht zu beschützen. Die Energie will uns nichts Böses. Wir müssen es einfach geschehen lassen. Wehrt euch nicht dagegen.“
In Mahatis Blick lag etwas wie Verzweiflung, als hätte er Angst, erneut zu versagen. „Es ist gut“, beruhigte sie ihn. „Ihr habt mir geholfen hierher zu kommen, jetzt liegt es an mir. Was immer passiert: greift auf keinen Fall ein.“
Einen Moment hatte sie Angst, Otaru würde sich ihrer Bitte verweigern, doch dann steckte er sein Kesh ein, bevor er zu seinem Bruder ging und ihm aufhalf. Ishira gelang ein Lächeln – oder zumindest hoffte sie, dass ihre Lippen eines zustande brachten, da ihr die Kontrolle über ihren Körper mehr und mehr entglitt. Sie musste sich auf jedes Wort konzentrieren. „Macht euch keine Sorgen, mir wird nichts geschehen“, wiederholte sie die Worte der Geister.
Die Energie flutete ihre Adern. Wie in ihren Visionen hatte Ishira das Gefühl, ihr Körper würde sich auflösen und mit der Energie verschmelzen, ihre Arme und Beine selbst zu Energiesträngen werden. Sie befand sich inmitten des gleißenden Lichts. Das Summen in ihrem Kopf schwoll an, bis es sie vollständig ausfüllte und es nichts anderes mehr gab als die Energie. Sie wurde ein Teil Inagis und Inagi ein Teil von ihr.
Dann brachen die Bilder über sie herein.