Читать книгу Kristallherz - Patricia Strunk - Страница 5
KAPITEL III – Erinnerungen aus ferner Vergangenheit
ОглавлениеSie stand auf einer breiten, gepflasterten Straße. Zu beiden Seiten erhoben sich zwei- und dreigeschossige Gebäude mit aufwändigen Giebelverzierungen und mehrfarbigen Bemalungen. Um sie herum flanierten Menschen in prächtiger, mit Stickereien verzierter Kleidung. Teilweise folgten ihnen schlichter gekleidete Diener, die Körbe und Kisten trugen. Ein paar Kinder rannten an ihr vorbei und versuchten lachend, sich gegenseitig dunkelrote Früchte abzujagen. Zwei von ihnen rempelten dabei versehentlich einen beleibten Mann an, der daraufhin in eine Schimpftirade ausbrach.
Nicht weit entfernt stand ein langgestrecktes Gebäude, dessen Mauern mit bunten Friesen verziert waren. Die Eingänge wurden von Wachen in blau-goldener Uniform flankiert. Ishira benötigte einen Moment, bis sie in dem Bauwerk den Palast wiedererkannte. Das stolze Gebäude, das vor ihr aufragte, hatte kaum Ähnlichkeit mit den verfallenen Mauern, die davon in ihrer Zeit übrig waren.
Als sie an sich hinunterblickte, bemerkte sie verwundert ihren kräftigen Körperbau, Hosen und eine lose Tunika mit einem kostbaren Seidengürtel, in dem ein kurzes Schwert steckte. Sie war in die Erinnerungen eines Mannes eingetaucht.
„Mir gefällt das alles nicht“, sagte jemand neben ihr.
Sie wandte den Kopf. Der Sprecher war ein junger Mann in ähnlicher Kleidung wie sie selbst. Sein volles schwarzes Haar war mit einem blauen Band zusammengebunden, das der Farbe seiner Tunika entsprach.
„Der Prinz ist seit dem Streit spurlos verschwunden“, fuhr er fort. „Das ist jetzt beinahe einen Mondlauf her. Ich sage dir, er führt etwas gegen seinen Bruder im Schilde.“
Der junge Mann, in dessen Körper Ishira steckte, versuchte, die Besorgnis seines Freundes zu zerstreuen. „Was kann der Prinz schon ausrichten? Er bräuchte eine Armee, wenn er uns angreifen wollte, und die hat er nicht.“
„Ich weiß nicht, ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl. Ich habe geträumt, die Stadt würde in Flammen stehen.“
Sie schauderte. „Sag so etwas nicht. Gewiss hat der Traum etwas anderes zu bedeuten. Du solltest einen der Deuter im Tempel aufsuchen.“
Ihr Begleiter nickte nachdenklich. „Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Ich denke, ich werde-“
Den Rest des Satzes erfuhr sie nicht mehr. Um sie her schrien die Leute auf und deuteten zum Himmel. Als Ishira den Blick hob, sah sie über den Bergen mehrere Luftschiffe auftauchen. Was hatte das zu bedeuten? Doch in die Verwirrung des jungen Mannes mischte sich ihre eigene Vorahnung. Sie hatte diese Schiffe schon einmal gesehen: in den Erinnerungen der Hofdame. Es mussten dieselben Schiffe sein. Derselbe Tag.
Der Tag, an dem die Stadt untergegangen war.
Die Schiffe kamen näher. Es waren zehn oder elf. Die Menschen auf den Straßen waren stehen geblieben und verfolgten wie erstarrt, wie ihre Umrisse größer und größer wurden. Auch die Palastwachen beobachteten die Ankunft der Schiffe gebannt. Irgendwo begann ein Gong zu dröhnen, der Ishiras Trommelfell vibrieren ließ. Die ersten Passanten suchten ihr Heil in der Flucht, doch noch stand die Mehrheit gaffend da, als könnten die Menschen nicht glauben, was sie sahen, oder wollten nicht wahrhaben, was es zu bedeuten hatte.
Als die ersten Schiffe die Stadt erreichten, war an der Reling Bewegung zu erkennen. Ishira beobachtete, wie die Männer an Bord etwas abwarfen. Einen Moment später kam es am Stadtrand zu einer Explosion. Dem ohrenbetäubenden Knall folgten die entsetzten Aufschreie der Umstehenden. Die Erschütterungen der Explosion setzten sich bis zu Ishiras Füßen fort.
Die Menschen brachen in Panik aus. Sie rannten wild durcheinander und rempelten in ihrem Bestreben, sich selbst in Sicherheit zu bringen, rücksichtslos gegen Ishira und ihren Begleiter. „Wir werden angegriffen!“ erscholl es überall, als wäre das nicht offensichtlich.
„Ich wusste es“, sagte Ishiras Freund tonlos. „Der Admiral der Luftschiffflotte muss zum Prinzen übergelaufen sein. Unsere eigene Flotte wendet sich gegen uns.“ Er packte sie am Ärmel. „Wir müssen hier weg!“
Sie rannte hinter ihm her, während in ihrem Kopf die Gedanken wild umherwirbelten.
Eine Verschwörung. Yokariyara war einer Verschwörung zum Opfer gefallen.
Es regnete weitere Bomben. Die Stadt wurde zum Tollhaus. Frauen mit schreienden Kindern auf dem Arm flüchteten aus brennenden und einstürzenden Gebäuden auf die Straßen, die immer voller wurden, bis ein Durchkommen fast unmöglich war. Vom Palast her erscholl ein Krachen, das Ishira an die Drachengeschütze erinnerte. Die Garde setzte die Kanonen ein. Eines der Schiffe über ihnen erzitterte, als es von einem Geschoss getroffen wurde. Holz splitterte und in der Flanke tat sich ein großes Loch auf.
In der Ferne rumpelte es, als würde ein Gewitter aufziehen. Aus den Bergen hinter der Stadt stieg gleißender Lichtschein auf. Der Boden unter ihr schwankte so heftig, dass sie taumelte. Vor ihr brach die Straße auf, Steine und Scherben wurden durch die Luft geschleudert.
Heißer Schmerz fraß sich in Ishiras Hals. Sie hörte ihren Begleiter schreien. Dann fühlte sie seine Hände um ihre Schultern. Im nächsten Moment fand sie sich in seinen Armen auf dem Boden wieder. Goldenes Feuer lief über ihren Körper, brannte sich in ihre Haut. Sie rang gurgelnd nach Atem. Doch statt Luft füllte klebrige warme Flüssigkeit ihren Mund. Sie würgte und hustete. Rote Tropfen sprühten von ihren Lippen. Entsetzt tastete sie nach ihrem Hals. Unter ihren Fingern fühlte sie etwas Spitzes, das aus ihrer Haut ragte. Ungläubig blickte sie auf das Blut, das von ihren Fingern tropfte. Ihr Freund sagte etwas, doch seine Worte ergaben keinen Sinn. Seine weit aufgerissenen Augen verschwammen zu dunklen Löchern. Das Verlangen nach Luft wurde unerträglich.
Etwas zog an ihr, sog sie in sich hinein. Von einem Moment auf den anderen wurde es blendend hell. Es kam ihr so vor, als würde sie in einem Strudel aus Licht herumgewirbelt. Unzählige Bilder flammten in ihr auf und sie hörte unzählige Stimmen gleichzeitig schreien. Auch in ihr selbst stieg ein Schrei auf, doch sie besaß keine Kehle mehr, um ihn zu artikulieren. Vage nahm sie wahr, dass sie auf dem felsigen Höhlenboden kniete, bevor sich eine neue Erinnerung in ihren Geist drängte.
Sie befand sich auf einem der Luftschiffe. Wieder war sie ein Mann, ein Soldat diesmal, ein Besatzungsmitglied des Luftschiffs. In seinem Innern brodelte eine merkwürdige Mischung aus Erregung und Scham. Instinktiv erkannte Ishira, dass die Reue eine spätere Empfindung war, ein Teil seiner Erinnerung, nachdem er Jahrhunderte Zeit gehabt hatte, über die Katastrophe und seinen eigenen Beitrag dazu nachzudenken. Damals hatten ihn keine Bedenken zögern lassen.
Das Schiff hatte die Ausläufer der Stadt beinahe erreicht. Vorsichtig hob Ishira eine der Bomben aus dem hölzernen Gestell neben sich und wog die Metallkugel, die aus zwei zusammengefügten Hälften bestand, prüfend in der Hand. Aus der Erinnerung des Soldaten zog sie die Information, dass die Bombe mit Eisensplittern und einem Gemisch gefüllt war, dass bei ausreichender Erschütterung explodierte. Sie hielt die Bombe über die Reling und wartete auf das Zeichen, sie abzuwerfen, als das Schiff unvermittelt von einer Windböe gepackt wurde und wild zu schlingern begann. Ishira wurde gegen die Reling geschleudert. Die Bombe entglitt ihrem Griff und fiel in die Tiefe. Fluchend rappelte sie sich auf und beugte sich über die Reling. Was dann geschah, ging zu schnell, um es mit dem Verstand zu erfassen. Eine Wolke aus Stein und Staub markierte die Stelle, an der die Bombe detonierte. Gleißende Helligkeit schoss aus dem Boden, als hätte die Explosion eine unter der Erde eingesperrte Sonne freigesetzt. Eine Erschütterung lief durch das Schiff, als es von der Druckwelle der Explosion erfasst wurde. Ishira wurde von den Füßen gerissen und stürzte in das Holzgestell mit den Bomben. Etwas kroch über ihre nackten Arme, als wäre eine Armee aus Ameisen über sie hergefallen. Im nächsten Moment verging die Welt in einem ungeheuren Lichtblitz.
Bevor Ishira Zeit hatte, sich von dem Schock ihres neuerlichen Todes zu erholen, stürzte die nächste Erinnerung auf sie ein … und die nächste und wieder die nächste – ganz so, als versuchten die ehemaligen Einwohner der Stadt alle auf einmal, in ihren Geist einzudringen und sich Gehör zu verschaffen. Wieder und wieder wurde sie Zeugin des Angriffs auf Yokariyara, durchlebte die letzten Momente der Opfer in dieser Welt und starb eines schrecklichen Todes. Die Stadt explodierte um sie her, Straßen brachen auf, Rohrleitungen barsten und die freigesetzte Energie ergriff Besitz von Bauten und Lebewesen. Sie wurde von umherfliegenden Splittern zerfetzt, von einstürzenden Bauwerken erschlagen, von einer Erdspalte verschluckt, die sich zu ihren Füßen auftat, und von der austretenden Energie niedergestreckt. Es war zu viel. Die Eindrücke wurden zu verschwommenen Bildfetzen, als würde sie auf die Oberfläche sich beständig kräuselnden Wassers schauen und jede Welle eine Erinnerung auslöschen und die nächste entstehen lassen, bevor die vorherige vollständig ausgebildet war. Entgegengesetzt dazu reicherten sich die Schmerzen der Opfer in ihr an und vervielfältigten sich, bis ihr Geist es nicht länger ertrug und sie in gnädiger Dunkelheit versank.