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KAPITEL III – Von Drachen und Steinen
ОглавлениеEs wurde früher Vormittag, bis die Rampen fertig waren und die Armee aufbrechen konnte. Nachdem die Gohari die Feuer ausgetreten, ihr Gepäck verzurrt und die Wagen angespannt hatten, setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Ishira ritt zwischen Kiresh Yaren und Mebilor. Seit der Begebenheit am Wasserfall hatte sie mit ihrem Begleiter kein Wort mehr gewechselt. Obwohl sich ihr innerer Aufruhr inzwischen etwas gelegt hatte, konnte sie den Kiresh nicht ansehen, ohne dass ihr Herz zu flattern begann, und so heftete sie ihren Blick auf Leshas Mähne und begann damit, Strähnen der borstigen Haare zusammenzudrehen. Eine Gefühlsregung dieser Art war ihr bislang völlig unbekannt gewesen. Nicht einmal zu Kanhiro hatte sie sich jemals auf ähnlich starke Weise hingezogen gefühlt.
Der Gedanke an ihren Freund rief in Ishiras Magengegend ein unbehagliches Ziehen hervor. Wie konnte ein anderer Mann ein solches Verlangen in ihr wachrufen? Ein Mann, der sich die meiste Zeit über alle erdenkliche Mühe gab, sich im schlechtesten Licht zu präsentieren. Seit ihrer allerersten Begegnung hatte der Kiresh trotz seiner offensichtlichen Gleichgültigkeit beinahe allem und jedem gegenüber eine unerklärliche Faszination auf sie ausgeübt, auch wenn sie ihn lange Zeit nicht hatte ausstehen können. Bis sie seine sanfte Seite entdeckt hatte. Und heute hatte sie eine weitere Seite an ihm kennengelernt. Eine Seite, die ihrem Seelenfrieden weitaus gefährlicher werden konnte.
„Interessante Beschäftigung“, bemerkte Mebilor. „Du kommst mir schon den ganzen Morgen etwas abwesend vor.“
Peinlich berührt, weil der Heiler den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, sah Ishira auf und stellte fest, dass Leshas Mähne auf bestem Wege war, sich in einen Stachelkamm zu verwandeln. Mit fahrigen Bewegungen strich sie über die verdrehten Strähnen, um sie wieder zu entwirren. „Ich bin ein bisschen nervös“, gab sie zu. Das war nicht gelogen, nur war der Grund ein gänzlich anderer, als Mebilor erwarten würde. Der Heiler musterte sie auf eine Weise, die Ishiras Wangen zum Brennen brachte. Ihre Gedanken standen ihr doch hoffentlich nicht schon wieder ins Gesicht geschrieben? Zum Glück zügelten die Befehlshaber in diesem Moment ihre Pferde, um das Werk der Raikari zu begutachten, und ersparten ihr dadurch weitere Verlegenheit.
Die Söldner hatten die entasteten Baumstämme zu Rampen von etwas mehr als einer Wagenbreite zusammengebunden. Dabei hatten sie so gewissenhaft gearbeitet, dass zwischen die Stämme kaum eine Klinge gepasst hätte. Die Enden waren abgeschrägt, so dass sich ein beinahe glatter Übergang zum Boden ergab. Der Shohon nickte beifällig und lenkte sein Pferd als erster auf die Stämme. Kiresh Yaren folgte hinter Beruk. Sein Hengst zögerte einen Moment, bevor er seinen Huf auf die abschüssige Rampe setzte. Er klopfte dem Braunen aufmunternd den Hals und trieb ihn sanft vorwärts. Ishiras Stute trottete wie üblich willig hinter Bokan her. Der Kiresh wandte kurz den Kopf, als wollte er sich vergewissern, dass sie zurechtkam, doch er vermied es, sie direkt anzusehen.
Schritt für Schritt arbeitete Lesha sich voran. Das Wasser gurgelte um ihre Fesseln und spritzte im steinigen Bachbett bis an Ishiras nackte Füße hoch, bevor die Stute die zweite Rampe erreichte. Am jenseitigen Ufer angekommen, lenkte Ishira sie auf Kiresh Yarens Wink hin an seine Seite. Auch Beruk hatte angehalten, während der Shohon die Telani und die übrigen Kireshi weiter in den Wald hinein führte. Ishira erwartete, dass die Koshagi ihnen folgen würden, doch sie verteilten sich entlang des Ufers. Offenbar sollten sie sicherstellen, dass alle Fahrzeuge sicher über den Fluss kamen.
Als der erste Geschützwagen auf die Rampe fuhr, verfolgte Ishira gespannt, wie das Gespann und sein Lenker die Aufgabe bewältigen würden. Die Räder des fahrbaren Untersatzes waren ringsum mit einander überlappenden, etwa fußgroßen Lederplatten besetzt. Am Anfang hatte Ishira sich gefragt, wozu das gut sein sollte, doch schnell hatte sie festgestellt, dass die Räder sich auf diese Weise nicht so leicht in den Schlamm mahlen und steckenbleiben konnten. Auch jetzt leistete der Lederbesatz gute Dienste, denn er verhinderte, dass die Räder sich zu schnell drehten und das Gefährt zu viel Schwung bekam. Zur Sicherheit gingen zwei Raikari seitlich neben dem Wagen und stemmten sich gegen die Speichen. Vorsichtig setzten die beiden Umasus einen Huf vor den anderen. Sobald der Geschützwagen das Flussbett erreichte, veränderten die Söldner ihre Position und schoben hinten mit an, um das Gespann zu entlasten.
Endlich waren alle Geschütze auf dieser Seite des Flusses angelangt und das Spiel wiederholte sich mit den Munitionswagen. Gleich auf dem ersten Wagen hockte Kenjin. Seine Hände waren wieder gefesselt. Ishira beobachtete, wie der Wagen von der Rampe ins Wasser rollte. Als es wieder nach oben ging, mussten sich selbst die an schwere Lasten gewöhnten Umasus mit aller Kraft ins Zeug legen.
Auf einmal spürte Ishira das vertraute Kribbeln auf der Kopfhaut. Sie erstarrte. Ihrem Begleiter entging ihre plötzliche Anspannung nicht. „Drachen?“
Beruk musterte gleichfalls den Himmel. „Ich sehe nichts. Bist du dir sicher, Sklavin?“
Ishira nickte. Sie musste nicht einmal den Kopf heben um zu wissen, dass die Amanori ganz in der Nähe waren.
„Bereitmachen!“ brüllte der Bashohon daraufhin, obwohl Ishira die Zweifel auf seinem Gesicht nicht entgingen. Aber als Zweiter Heerführer war er verantwortungsbewusst genug, seine Zweifel nicht zum Risiko für die ihm anvertrauten Männer werden zu lassen. „Die Drachen können jeden Moment angreifen!“
Nicht nur die Raikari blickten jetzt kollektiv zum Himmel. „Bei Kaddors Blut, wo sind diese verfluchten Bestien?“ rief jemand.
„Da!“ schrie einer der Schützen und deutete aufgeregt mit der Hand. „Da drüben!“
Die Silhouette eines einzelnen Amanori löste sich aus den Wolken und glitt aufreizend gemächlich näher, als wüsste er um die Wirkung, die sein Erscheinen zur Folge hatte, und wollte sie bis zum Letzten auskosten. Die Raikari zogen ihre Waffen. Am diesseitigen Ufer bemühten sich die Schützen in aller Eile, die ‚Drachentöter‘ einsatzbereit zu machen.
Lautstarkes Fluchen lenkte Ishiras Aufmerksamkeit zurück zum Fluss. Der Kutscher des Munitionswagens ließ die Peitsche knallen, um sein Gespann die Rampe hoch zu treiben, doch den Umasus war der plötzliche Tumult um sie herum zu viel. Schnaubend schüttelten sie ihre massigen Schädel, so dass der Wagen gefährlich zu schwanken begann. Die beiden Raikari mühten sich vergeblich ab, das Gefährt ruhigzuhalten.
Kiresh Yaren packte Ishira an der Schulter. „Geh zwischen den Bäumen in Deckung!“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Was ist mit meinem Bruder?“
„Ihm geschieht schon nichts. Geh!“
Ishira zögerte noch immer – und dann war der Amanori über ihnen. Er flog so tief, dass sie jede einzelne seiner schimmernden sandfarbenen Bauchschuppen und sogar die Adern in der ledrigen Haut seiner Schwingen erkennen konnte. Aber er griff nicht an. Er glitt einfach nur über sie hinweg, als sei er neugierig, was die Menschen unter ihm trieben, und würde sich einen Spaß daraus machen, sie in Schrecken zu versetzen. Als sein Schatten auf das Gespann im Fluss fiel, scheuten die Umasus und brachen zur Seite aus. Eines der Räder rutschte von den Stämmen und versank im Wasser. Dem dort stehenden Raikar gelang es gerade noch auszuweichen, als der Wagen in Schräglage geriet und die Ladung verrutschte. Einige der Steinkugeln durchbrachen die Seitenwand der Ladefläche und klatschten in den Bach. Kenjin klammerte sich verzweifelt an den Kutschsitz, aber mit seinen gefesselten Händen hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Die Umasus brüllten und stampften mit den Hufen, wodurch der Wagen erst recht Übergewicht bekam. Das rechte Umasu knickte mit den Vorderbeinen ein, als es von der Deichsel niedergedrückt wurde. Ishira schrie auf, als der Wagen kippte und krachend ins Wasser stürzte. Ihr Bruder sprang im letzten Moment ab und verschwand in den Fluten. Einen Moment lang tauchte er wieder auf und versuchte strampelnd, auf die Beine zu kommen, doch die Strömung war zu stark und riss ihn mit sich. Sein Kopf tauchte wieder unter Wasser.
„Kenjin!“ Ishira presste ihrer Stute die Hacken in die Flanken, um ihrem Bruder zu Hilfe zu eilen, doch Kiresh Yaren versperrte ihr den Weg.
„Du wartest hier!“ befahl er knapp, bevor er Bokan herumriss und am Ufer hinter Kenjin her preschte.
Ishira verkrampfte die Finger um Leshas Zügel, während sie mit wachsender Panik beobachtete, wie Kenjin immer weiter abgetrieben wurde. Endlich bekam ihr Bruder einen Felsvorsprung zu fassen und klammerte sich daran fest. Sobald er Halt gefunden hatte, schaffte er es, festen Grund unter den Füßen zu finden und sich aufzurichten. Einen Augenblick später hatte der Kiresh ihn erreicht und zog ihn zu sich in den Sattel. Ishira stieß erleichtert die Luft aus. Der Kouran der Koshagi verfolgte die Szene mit einem abschätzigen Zug um den Mund. Offenbar war er der Meinung, der Kiresh mache zu viel Aufhebens um einen Sklaven, Geisel hin oder her.
Einige der Raikari waren derweil zu dem verunglückten Wagen geeilt, dessen linkes Rad sich nutzlos in der Luft drehte, und halfen dem Kutscher, die beiden Umasus auszuspannen, von denen das eine halb auf das andere gefallen war und in seinem Schmerz wild auskeilte. Der Amanori war glücklicherweise wieder in den Wolken verschwunden. Das Prickeln in Ishiras Haarwurzeln verebbte. Fürs erste war die Bedrohung vorüber.
Sobald Kiresh Yaren seinen Hengst neben ihr zum Stehen gebracht hatte, sprang Ishira aus dem Sattel und fing Kenjin auf, der sich ungeschickt von Bokans Rücken gleiten ließ. Sie schloss ihren triefenden und vor Kälte schlotternden Bruder in die Arme, obwohl sie dabei selbst pitschnass wurde. „Bin ich froh, dass dir nichts passiert ist!“
Kenjin hustete. „Glück gehabt. An Land hätte ich mir mit diesen verdammten Fesseln wahrscheinlich sämtliche Knochen gebrochen.“
„Welch rührende Szene“, höhnte Magur. „Aber hättest du wohl die Güte uns mitzuteilen, ob sich in der Nähe noch weitere Drachen herumtreiben?“
Ishira zuckte zusammen. „Der Amanori war allein, Deiro.“
„Und das weißt du weshalb so genau?“
Sie fühlte Frustration in sich aufsteigen. Wieso wollte er ihr nicht glauben? „Ich spüre keine andere Präsenz.“
„Bleibt in jedem Fall wachsam!“ befahl der Bashohon. „Wir wissen nicht, was die verdammten Echsen als nächstes planen. – Glaubt Ihr, das Auftauchen des Drachen eben war Zufall?“ wandte er sich an Kiresh Yaren.
„Kaum“, erwiderte dieser. „Dafür war der Zeitpunkt zu gut gewählt. Ab jetzt sollten wir jederzeit mit einem Angriff rechnen.“
Beruk nickte. „Ganz Eurer Meinung.“
Der Kouran der Raikari bedachte Ishira mit einem nachdenklichen Blick. „Also ist ihre Gabe nicht nur Gerede.“
„So scheint es“, stimmte der Bashohon widerwillig zu. „Wenigstens haben wir sie und den Jungen nicht umsonst am Hals.“
„Was sollen wir mit dem Wagen machen?“ erkundigte sich der Kiresh, der ihn gelenkt hatte. Die Umasus waren inzwischen ausgeschirrt und standen zitternd und mit tropfendem Fell am Ufer. Eines der Tiere hatte eine blutende Schramme am Bein, doch ansonsten sahen sie unversehrt aus.
Beruk warf einen kurzen Blick auf den kaputten Munitionswagen. „Lasst ihn, wo er ist. Er ist ohnehin nicht mehr zu gebrauchen. Räumt ihn nur so weit zur Seite, dass die übrigen Wagen den Bachlauf passieren können. Falls auf den anderen Munitionswagen noch Platz ist, bergt die Steinkugeln und verteilt sie. Aber überladet die Wagen nicht!“
Der Krieger gab den Raikari an seiner Seite ein Zeichen, ihm dabei zu helfen, die gebrochene Deichsel, die über die Rampe ragte, aus dem Weg zu schieben und die Steinkugeln aus dem Bach zu klauben.
Kenjin zitterte inzwischen so heftig, dass seine Zähne aufeinanderschlugen.
„Zieh die nassen Sachen aus, sonst erkältest du dich“, ermahnte ihn Ishira.
Ihr Bruder schob die gefesselten Hände unter seine Tunika und nestelte an den Bändern seiner Hose. Sie half ihm dabei, die Beinkleider abzustreifen, die sich mit einem schmatzenden Geräusch von seiner Haut lösten. Dann zog sie ihm Hemd und Tunika über Kopf und Schultern, soweit die Fesseln es erlaubten. „Warte, ich gebe dir meinen Umhang.“ Sie zog den Überwurf von ihren Schultern, ohne auf Kenjins Protest zu achten. Kaum hatte sie ihm das Kleidungsstück um die Schultern gelegt, als der Bashohon ihm barsch befahl, auf einen der anderen Munitionswagen zu klettern, die inzwischen den Bach überquert hatten. Ihr Bruder beeilte sich, der Order nachzukommen. Sobald alle Wagen den Bach überquert hatten, gab Beruk den Befehl zum Weitermarsch.
Der Zedernwald wurde dichter, auch wenn die Bäume noch immer weit genug auseinanderstanden, um mit den Wagen hindurch zu fahren. Der Boden federte unter den Hufen der Pferde nach. Er war bedeckt mit leuchtendem Moos in mannigfachen Grüntönen und Zedernnadeln vergangener Winter. In den Zweigen sangen Vögel und einmal sah Ishira weit entfernt eine schattenhafte Gestalt von einem Baum zum nächsten springen – ein Ipori?
Sofort kehrte die Erinnerung an den Wasserfall zurück und sandte einen Strom von Hitze durch Ishiras Adern. Gütige Ahnenseelen, das musste aufhören! Überzeugt davon, dass alle Welt ihre Verwirrung sehen konnte, vertiefte sie sich eine Weile in den Anblick der Moose und Farne zu ihren Füßen, bis sie sicher war, dass ihr Gesicht seine normale Farbe wiedererlangt hatte. Sie sollte sich in Zukunft von Wasserfällen fernhalten.
Die Wände des Tals schoben sich immer weiter zusammen, bis der Einschnitt gerade noch breit genug war, um die Wagen durchzulassen. Auch wenn die Beschaffenheit des Geländes einen Angriff der Amanori unwahrscheinlich machte, blieben die Gohari in Kampfbereitschaft. Immer wieder wanderten Blicke nervös nach oben und manche Hand verharrte am Schwertgurt. Die Mittagsrast fiel noch kürzer und karger aus als in den vergangenen Tagen. In aller Eile schlangen die Soldaten die ihnen zugeteilte Ration Brot und Trockenfleisch hinunter, wobei sie nicht einmal ihre Marschposition auflösten.
Nach dem Essen musste Ishira sich dringend erleichtern. Für ihre abendliche und morgendliche Notdurft hatte sie ein Gefäß erhalten, das sie vor dem Aufbruch reinigte und bei ihrem Gepäck verstaute. Aber während der Mittagsrast konnte sie sich leider nicht einfach wie die Männer mit dem Rücken zu den anderen an den nächsten Baum stellen. Beim ersten Mal war ihr das Ganze dermaßen peinlich gewesen, dass sie ihr Bedürfnis so lange verhalten hatte, bis sie das Gefühl hatte zu platzen. Als sie sich schließlich wortlos hatte ins Gebüsch davon stehlen wollen, hatte Kiresh Yaren sie prompt aufgehalten und gefragt, wo sie hinwollte. Wahrscheinlich war sie vor Verlegenheit angelaufen wie ein gekochter Flusskrebs. Sie hatte dieses Thema nun wirklich nicht vor den Ohren so vieler Männer erörtern wollen. „Ihr wisst schon…“ hatte sie herumgedruckst. In seinen Augen hatte zuerst nichts als blankes Unverständnis gestanden, bis ihm endlich die Erleuchtung kam. Umso überraschter war sie gewesen, als er aufgestanden war und etwas davon gemurmelt hatte, dass er sie begleiten werde. Das hatte er auf ihren bisherigen Reisen nie getan. Allerdings hatte sie sich sonst auch nicht so weit in die Wildnis entfernen müssen wie hier, wo sie von einem ganzen Heer umgeben war. So weit abseits jeglicher Zivilisation gab es vermutlich mehr wilde Tiere als auf den Routen zwischen den Siedlungen. Oder glaubte er, sie vor den Soldaten beschützen zu müssen? Natürlich gab es auch noch eine andere naheliegende Erklärung: dass er sicherstellen wollte, dass sie nicht davonlief.
Ishira räusperte sich in dem Versuch, die Aufmerksamkeit ihres Begleiters zu erlangen. „Kiresh Yaren, Deiro?“
Er ließ den Wasserschlauch sinken und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Was ist? ... Oh...“ Inzwischen konnte er ihr Anliegen bereits aus ihrem Gesichtsausdruck ablesen. Als er sich erhob, hatte sie den Eindruck, dass seine Wangen ein wenig gerötet waren. Diese Erkenntnis ließ ihr eigenes Gesicht aufflammen. Na, großartig! Das konnte ja noch heiter werden!
Schweigend gingen sie den Weg ein Stück voraus, jeder darauf bedacht, den Blick des anderen zu meiden. Ishira suchte nach einem unverfänglichen Thema, um ihre Befangenheit zu überspielen. „Wart Ihr schon einmal in diesem Teil Inagis, Deiro?“ fragte sie schließlich.
„Ja.“ Sie glaubte schon, dass das alles war, doch nach einem Moment sprach er weiter. „Hinter dieser Enge liegt ein offenes Tal.“ Seine Augen verengten sich nachdenklich. „Würde mich nicht wundern, wenn uns die Drachen dort angreifen. Sei also morgen besonders wachsam.“
Ishira fröstelte auf einmal, obwohl sie von Anfang an gewusst hatte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zur Konfrontation kommen würde. Der Amanori heute war nur die erste Ankündigung gewesen. Eine Warnung weiterzugehen. „Das werde ich“, versprach sie.
Außer Sichtweite der Befehlshaber blieb der Kiresh stehen und musterte die Umgebung. „Scheint alles ruhig zu sein. Beeil dich trotzdem.“
Sie nickte und ging noch einige Schritte weiter bis zu einem dichten Gebüsch, das sie vor den Augen ihres Begleiters verbarg. Ob ihm die Situation genauso unangenehm war wie ihr? Als sie ihre Notdurft verrichtet hatte und sich aus der Hocke erheben wollte, fiel ihr auf, dass der bemooste Stein vor ihr eine ungewöhnliche Form besaß. Als sei er von Menschen behauen worden. Neugierig strich sie mit der Hand darüber und versuchte mit dem Fingernagel einen Teil des Bewuchses abzukratzen. Zu ihrem Erstaunen kam darunter eine verwitterte Gravur zum Vorschein. Viel war nicht zu erkennen, aber der obere Teil hätte ein Wappen sein können.
„Bist du fertig?“ ließ sich Kiresh Yaren ungeduldig vernehmen.
„J-ja.“ Hastig stand Ishira auf und zog ihr Kleid zu den Knien hinunter. „Ich habe etwas Merkwürdiges entdeckt. Vielleicht solltet Ihr Euch das ansehen, Deiro.“
Sie hörte seine Schritte näher kommen. „Was gibt es jetzt wieder?“
Ishira wies auf den Stein. „Was haltet Ihr davon?“
Er ließ sich stirnrunzelnd auf einem Knie nieder und fuhr mit den Fingern über die Gravur. „Sieht wie ein alter Grenzstein aus“, sagte er verblüfft. „Aber wer hätte ihn hier in dieser Einöde aufstellen sollen?“
„Ein Grenzstein? Was ist das?“
„Er kennzeichnet die Zugehörigkeit eines Gebiets zu einem Herrschaftsbereich. Normalerweise stellt man solche Steine entlang von Handelsstraßen auf. Sind sie dir noch nie aufgefallen, wenn wir von einem Hem in ein anderes gereist sind?“
Ishira kramte in ihrer Erinnerung. Jetzt, wo er es sagte… „Ihr meint, dass es hier irgendwann einmal eine Straße gab?“
Ihr Begleiter sah sich um. „Schwer vorzustellen. Wenn, muss das schon eine Ewigkeit her sein. Hier ist garantiert seit Hunderten von Jahren niemand mehr gereist.“ Er zog sich hoch. „Ich glaube nicht, dass dieser Stein große Bedeutung hat, aber ich werde Helon vorsichtshalber davon unterrichten.“
Die Heerführer zeigten an der Entdeckung nur mäßiges Interesse; es war ihnen wichtiger, so schnell wie möglich weiterzuziehen. Anders die Telani: Sie bestanden darauf, den Fund in Augenschein zu nehmen, und so führte Ishira kurz darauf einen sichtlich missgestimmten Shohon und zwei der Gelehrten zu dem geheimnisvollen Stein.
„Sieht mir in der Tat wie ein Grenzstein aus!“ rief Koban, kaum dass er den Stein erblickt hatte. Der nach Maßstäben der Gohari kleinwüchsige Gelehrte mittleren Alters nahm sein Messer vom Gürtel und setzte Ishiras Versuch, Moos und Flechten abzuschaben, fort. „Erstaunlich“, kommentierte er, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. „Wenn das, worauf wir stehen, wirklich die Überreste einer alten Landstraße sind, bedeutet das, dass die Berge um uns herum einst besiedelt waren. Zumindest muss hier irgendwo ein Schrein, eine Burg oder wenigstens ein Vorposten gestanden haben.“
„So unwahrscheinlich ist es nicht, dass hier früher eine Straße verlief“, warf der andere Telan, ein hagerer Mann mit schütterem graumeliertem Haar namens Garulan, ein. „Falls die Drachen in grauer Vorzeit tatsächlich keine Bedrohung für die Menschen darstellten, ist es durchaus denkbar, dass die Inagiri auch tiefer in den Bergen gesiedelt haben. Wir sollten uns allerdings nicht der Hoffnung hingeben, von diesen Bauwerken mehr als Reste der Schutzmauern zu finden.“ Als er Helons Blick auffing, hob er in einer beschwichtigenden Geste die Hände. „Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich vorhabe, nach diesen Ruinen zu suchen.“
„Mit Eurer Erlaubnis, Shohon, werde ich zumindest diese Inschrift kopieren“, sagte Koban mit leuchtenden Augen. Ohne Helons Antwort abzuwarten, förderte er aus den Tiefen seiner langen Ärmel einen Bogen Pergament zutage, den er auseinanderfaltete und über die Inschrift legte.
„Ich werde es für Euch halten“, bot Garulan an und streckte seine knochige Hand nach dem Pergament aus.
„Oh, danke, mein Lieber, das vereinfacht die Sache.“ Mit einem Stück Kohle, das er diesmal aus seiner Gürteltasche hervorzauberte, rieb Koban über das Blatt. Fasziniert beobachtete Ishira, wie sich darauf die Umrisse der Gravur abzuzeichnen begannen. Der obere Teil hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem Wappen. Darunter stand etwas geschrieben, aber viele der Zeichen waren durch die Zeit stark beschädigt oder existierten überhaupt nicht mehr.
„Die Schrift sieht eigenartig aus“, murmelte Koban. „Zwar entspricht sie weitgehend der inagischen Schrift, aber es kommt mir so vor, als würden einige Zeichen einen komplizierteren Aufbau besitzen. Was meint Ihr, Garulan?“
Der Shohon trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Für diese Diskussion ist später noch Zeit“, unterbrach er die Telani gereizt. „Ich darf die Herren daran erinnern, dass wir nicht wegen geschichtlicher Erkenntnisse hier sind.“
Koban sah aus, als läge ihm eine bissige Bemerkung auf der Zunge, doch er war klug genug zu schweigen und sich darauf zu konzentrieren, die Durchzeichnung eilends fertigzustellen, bevor Helon sie zurückbefahl.
***
An diesem Abend schlugen sie das Lager am Rande des Hochtals auf, von dem Kiresh Yaren gesprochen hatte. Es war ein baumloses sattgrünes Tal mit sanft gewellten Wiesen, in dem hier und da Felsen verstreut lagen. Durch die letzten Baumstämme hindurch sah Ishira bunte Frühlingsblumen leuchten. In einiger Entfernung äste eine Gruppe Weißstreifenrehe, die aufgeschreckt davon sprangen, als ihnen die Witterung der Menschen in die Nüstern stieg. Die Gohari hielten sich am Saum des Waldes und nutzten den Schutz, den ihnen das dunkle Grün der Zedern über ihren Köpfen bot. Ishira ging davon aus, dass ihr Begleiter ihr das Abendessen wie gewohnt ins Zelt bringen würde, doch er überraschte sie mit der Aufforderung, ihn zum Feuer der Anführer zu begleiten. „Helon wünscht deine Anwesenheit“, erklärte er. „Wie es aussieht, ist Mebilor nicht der Einzige, der an deiner Musik einen Narren gefressen hat.“ Während er sprach, fuhr er sich mit einer ergeben wirkenden Geste durch die Haare, wobei sich einige Strähnen aus seinem Zopf lösten.
„Euch scheint sie nicht zu gefallen“ rutschte es Ishira heraus, obwohl es kindisch war, deswegen gekränkt zu sein.
Ihr Begleiter wandte das Gesicht ab. „Doch, sie gefällt mir“, widersprach er stockend. „Es ist nur…“ Er holte Luft. „Die Musik ruft etwas wach, das ich lieber schlafen lassen würde.“
Plötzlich kam sie sich unglaublich töricht vor. Er trauerte noch immer um Rondars Tochter und die Musik erinnerte ihn an sie. „Es tut mir leid“, murmelte sie.
Er zuckte mit den Schultern, als wollte er das Gespräch abschütteln. „Nicht deine Schuld.“
Am Feuer war eine lebhafte Diskussion im Gange. Koban hatte das Pergament mit der kopierten Inschrift des Steins auf dem Schoß ausgebreitet und studierte sie gemeinsam mit Garulan und einigen anderen, zu denen auch Rohin und Mebilor gehörten.
Der Heiler winkte Ishira zu sich. „Du kommst gerade richtig“, sagte er gut gelaunt. „Immerhin haben wir diese Entdeckung dir zu verdanken.“
Ishira trat zögernd näher, halb in der Erwartung, von einem der anderen Telani böse Blicke zu ernten. Doch sie waren alle zu versunken in die Inschrift, um auch nur aufzublicken.
„Eine alte Form der inagischen Sprache, Koban?“ setzte einer der Gelehrten, dessen Namen Ishira nicht kannte, das zuvor unterbrochene Gespräch fort. „Auf wann datiert Ihr diese Inschrift?“
„Schwer zu sagen. Lange, bevor wir einen Fuß auf die Insel gesetzt haben. Fünfhundert Jahre, tausend – alles ist möglich. Bedauerlich, dass wir den Stein selbst nicht mitnehmen konnten, um ihn genauer zu untersuchen.“
„Könnt Ihr die Inschrift entziffern?“ fragte Rohin.
„Nun ja, aus dem zu schließen, was ich verstanden habe, scheint es sich weniger um einen Grenzstein zu handeln als um eine Entfernungsangabe, eine Art Wegweiser. Aber es ist alles sehr vage. Einige der Zeichen haben nur entfernt Ähnlichkeit mit den mir bekannten und der größte Teil der Inschrift ist im Laufe der Zeit so verwittert, dass er kaum noch zu lesen ist. Bei dem Wort unter dem Wappen handelt es sich vermutlich um den Ortsnamen: Yokariyara oder so ähnlich. Die Endung weist auf ein Heiligtum hin – wie bei Inuyara, das sich mit ‚Heiligtum am Meer‘ übersetzten lässt. Auf jeden Fall war es ein Ort mit einer gewissen Bedeutung, wenn er über ein eigenes Wappen verfügte und auf diese Weise ausgeschildert war. Es lässt sich allerdings nicht mehr erkennen, ob der Stein ins Landesinnere weist oder in die Richtung, aus der wir kommen.“
„Gewiss doch wohl Letzteres“, schaltete sich Garulan ein. „Auch wenn die alten Inagiri mit den Drachen auf besserem Fuß standen als wir heute, werden sie kaum in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gesiedelt haben.“
„Aber wenn jemand in umgekehrter Richtung auf dieser Straße unterwegs war, bedeutet das ebenfalls, dass es bis weit ins Inselinnere hinein besiedelte Gebiete gegeben haben muss“, hielt Rohin dagegen.
Die anderen schwiegen, während sie darüber nachdachten. Ishira wusste nicht, worüber sie mehr erstaunt sein sollte: dass die alten Inagiri sich so tief ins Territorium der Amanori hinein gewagt hatten oder dass Koban und andere Telani die inagische Schrift und Sprache erlernt hatten. Es versetzte ihr einen Stich, dass ein Gohari die Schrift ihrer Vorfahren beherrschte, wohingegen die heute lebenden Inagiri nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben konnten. Doch ein Teil von ihr war auch froh darüber, dass Inagis Vergangenheit auf diese Weise nicht ganz verloren war. Solange irgendjemand die alte Schrift kannte, konnten die Inagiri sie zurückgewinnen.
„Habt Ihr schon einmal von diesem Ort gehört?“ fragte Mebilor.
Koban schüttelte den Kopf. „Die Bibliothek in Inuyara ging während des Kampfes um die Stadt in Flammen auf. Fast alle Schriftstücke wurden vom Feuer vernichtet, so dass wir über die Vergangenheit Inagis nur sehr bruchstückhafte Kenntnisse besitzen.“
„Möglicherweise haben die Inagiri damals im Innern der Insel einen Schrein errichtet, um den Drachen zu opfern und sie zu besänftigen“, schlug Rohin vor.
„Das wäre eine Möglichkeit“, stimmte Koban zu. „Wenn wir Glück haben, stoßen wir vielleicht auf Reste dieses Ortes und finden dort eine Erklärung.“
Am Nachbarfeuer, an dem sich eine Handvoll Kireshi den Abend mit einem Würfelspiel vertrieb, wurden Stimmen laut. Soweit Ishira mitbekommen hatte, musste der Verlierer einer Runde irgendetwas tun, um die Übrigen zu unterhalten. Wahrscheinlich war das die Art von Soldaten, mit der Anspannung, nie zu wissen, ob sie den folgenden Tag überleben würden, umzugehen. Ishira beobachtete, wie einer der Männer aufstand und zu den Raikari hinüber ging. Entweder war das sein Tribut als Verlierer oder er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Söldner dazu zu bringen, sich an dem Spiel zu beteiligen. Diese reagierten auf seine Überredungsversuche, wie sie auf alle Annäherungen reagierten: mit unbeteiligtem Schweigen.
„Ihr haltet euch wohl für etwas Besseres, was?“ fragte der Krieger gereizt, als die Söldner, die er angesprochen hatte, ihm weiterhin stoisch den Rücken zukehrten. Die Worte klangen leicht verwaschen und verrieten, dass der Mann nicht mehr ganz nüchtern war. „Gehört es auch zu euren Regeln, andere zu ignorieren? Aber eines sage ich euch: ich traue euch nicht über den Weg und viele meiner Kameraden auch nicht. Wer sein Gesicht hinter einer Maske verbirgt, hat noch mehr zu verbergen. Gelübde? Dass ich nicht lache!“
Seine Worte hallten laut durch die plötzliche Stille. Selbst die Diskussion der Telani war abgebrochen. Um Helons Mund zuckte es unwillig. Er schien zu überlegen, ob er einschreiten sollte, doch dann beschloss er offenbar abzuwarten, ob die Raikari die Angelegenheit selbst regeln würden.
Einer der Söldner stand schließlich auf. Nur anhand der Zierelemente auf seiner Rüstung erkannte Ishira ihn als deren Anführer. Der Kouran trat auf den Kiresh zu, der immer noch mit gespreizten Beinen an Ort und Stelle stand, unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Im Flammenschein hätte man meinen können, Ralans Maske würde sich zornig verziehen, doch seine Stimme klang vollkommen unbewegt. „Ihr solltet Eure Worte umsichtiger wählen. Indem Ihr andere beleidigt, erreicht Ihr eher das Gegenteil dessen, was Ihr beabsichtigt. Seid jedoch versichert, dass unser Ziel dasselbe ist: genau wie Ihr sind wir hier, um gegen die Drachen zu kämpfen. Meine Männer ziehen es allerdings vor, unter sich zu bleiben, und ich erwarte von Euch wie von allen anderen hier, dass Ihr diesen Wunsch respektiert.“
Der Kiresh machte ein Gesicht, als wollte er seinem Unmut noch weiter Luft machen, doch dann ging ihm auf, wen er vor sich hatte. Er presste den Kiefer zusammen, deutete eine Verbeugung an, die in ihrer Knappheit selbst an eine Beleidigung grenzte, und machte auf dem Absatz kehrt. „Verfluchte Söldner“, murrte er. „Führen sich auf, als wären sie die Palastgarde.“
Falls Ralan diesen Kommentar ebenfalls gehört hatte, reagierte er nicht darauf. Er sah dem Mann nur noch einen Augenblick nach, bevor er wieder am Feuer Platz nahm.
„Mit so etwas habe ich schon länger gerechnet“, brummte der Shohon. „Auch wenn es unter den Kireshi immer welche gibt, die Händel suchen, sind die Raikari an der Entwicklung nicht ganz unschuldig. Mögen sie ihren Göttern huldigen, wie sie wollen, aber wenn sie sich weiter so absondern, wird das noch mehr böses Blut geben.“ Er seufzte ungehalten. „Doch da sie nun einmal unsere Verbündeten sind, müssen wir ihre Eigenheiten tolerieren. Ich hoffe nur, dass die Situation nicht noch weiter eskaliert und ich zu Strafmaßnahmen greifen muss, um die Ordnung durchzusetzen.“
„Ich für meinen Teil denke ja, dass wir ohne diese Söldner genauso gut zurechtkämen“, knurrte Beruk.
„Was wisst Ihr eigentlich über die Raikari, Shohon?“ erkundigte sich Kiresh Yaren. „Es kommt mir seltsam vor, dass keiner von uns jemals von ihnen gehört hat.“
Helon rieb sich das Kinn. „Ehrlich gesagt, nicht mehr als Ihr. Der Marenash hat sich in dieser Sache sehr bedeckt gehalten. Man könnte beinahe glauben, dass die Raikari ihre Existenz bis jetzt absichtlich geheim gehalten haben. Aber wenn sie tatsächlich solche überragenden Krieger sind, wie Ashak behauptet hat, müssten sie schon etliche Kämpfe bestritten haben.“ Er machte eine Pause.
Sein Stellvertreter ließ seine Schale mit gedörrtem Fleisch sinken. „Das würde heißen, dass…“
„…es nie Überlebende gab, die über die Raikari hätten berichten können“, beendete der Shohon den Satz.
„Mit anderen Worten: sie sind ebenso tödlich wie die Drachen“, murmelte einer der Telani.
Am Feuer breitete sich einmal mehr Schweigen aus. Niemand wurde gern daran erinnert, dass vom letzten Feldzug gegen die Echsen kein Soldat zurückgekehrt war. Ishira fragte sich, ob die Söldner wirklich so furchteinflößende Kämpfer waren.
„Was ist mit Ralan selbst?“ fragte Rohin schließlich leise. „Er ist ein Gohari, oder nicht?“
Helon nickte. „Geboren wurde er auf Inagi. Er kennt die Insel also gut. Der Marenash hat mir erzählt, dass Ralan als junger Mann nach einer persönlichen Tragödie aus der Armee ausschied und aufs Festland ging. Mehr kann ich Euch allerdings auch nicht sagen.“
Nachdenklich blickte Ishira zum Feuer der Raikari hinüber. Das Schicksal des Söldnerführers schien Ähnlichkeit mit dem ihres Begleiters zu besitzen. Hatte Ralan gleichfalls der Verlust eines geliebten Menschen aus der Bahn geworfen?
***
Durch den Schleier des Schlafes, der kurz davor war, sich ihrer zu bemächtigen, hörte Ishira, wie die Zeltklappe zurückgeschlagen wurde. Das konnte nur ihr Begleiter sein. Er hatte sie vorausgeschickt, weil er mit dem Shohon noch etwas zu besprechen gehabt hatte. „Hinein mit dir“, sagte er zu irgendjemandem. Einen Augenblick später fragte er: „Ishira? Bist du noch wach?“
Sie riss die Augen auf. Er hatte sie mit Namen angesprochen! Das war bisher noch nie vorgekommen. Ohne dass sie es verhindern konnte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. „Ja, Deiro.“
„Geh zu ihr“, ermutigte er seinen unsichtbaren Besucher daraufhin.
Ishira richtete sich auf, plötzlich wieder hellwach. Konnte es sein…? Gebannt beobachtete sie, wie eine schmale braune Hand den improvisierten Vorhang zwischen ihren Schlafstellen zurückzog. Das Gesicht ihres Bruders spähte durch den entstandenen Spalt. „Kenjin!“ Mit einem atemlosen Lachen zog sie ihn zu sich auf ihre Decken. Er ließ es geschehen, obwohl ihm anzumerken war, dass ihm ihr Gefühlsausbruch vor den Augen des Gohari etwas peinlich war. An seinem Kopf vorbei sah sie den Kiresh an, der zufrieden schien, dass ihm die Überraschung gelungen war.
„Weil du dein Wort gehalten hast, hat der Shohon seine Erlaubnis erteilt, dass dein Bruder sich bis auf weiteres ohne Bewachung im Lager bewegen darf. Er braucht nachts auch keine Fesseln mehr zu tragen.“ Er wandte sich ab. „Du entschuldigst mich, ich muss noch etwas erledigen.“
Er hob die Zeltklappe an und bückte sich, um nach draußen zu gehen. Ishira hatte allerdings eher den Eindruck, dass er sich aus Rücksicht auf sie beide zurückzog, um ihr und Kenjin einen Moment allein zu gönnen. Sie lächelte seinen Rücken an. „Richtet dem Shohon meinen Dank aus!“ rief sie ihm nach.
Zärtlich strich sie ihrem Bruder die wirren Ponyfransen aus dem Gesicht. Seine Haare waren mittlerweile so lang geworden, dass er sie bequem im Nacken hätte zusammenbinden können. „Ich habe schon befürchtet, die Gohari würden dich nie zu mir lassen.“
Kenjin streckte sich auf ihrer Schlafmatte aus. „Da hatte der Tag heute also doch sein Gutes.“
Ishira hantierte am Verschluss ihrer Satteltaschen und holte die Salbe heraus, die ihr Begleiter ihr überlassen hatte, nachdem er in Soshime damit ihre Peitschenstriemen behandelt hatte.
„Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, du hättest den Gohari nicht gegeben, was sie wollten“, fügte ihr Bruder hinzu.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ verteidigte Ishira sich. Sie verteilte etwas Salbe auf Kenjins rotgescheuerten Handgelenken und verrieb sie mit den Fingerspitzen. „Du bist mein Bruder. Davon abgesehen hat Kiresh Yaren mir angesehen, dass ich den Amanori entdeckt hatte. Ich hatte also sowieso keine Wahl.“
Kenjin seufzte. „Na ja, eine gute Lügnerin warst du noch nie, das stimmt. – Glaubst du, es dauert noch lange, bis die Echsen angreifen?“ wechselte er das Thema.
Ishira drehte den Salbentopf zu und steckte ihn zurück in ihre Satteltasche. „Nein“, antwortete sie ehrlich. „Kiresh Yaren rechnet schon morgen damit.“
„Ach, und weil dein Wachhund es sagt, glaubst du es?“
„Warum sollte ich es nicht glauben? Der Amanori heute war doch Warnung genug.“
Ihr Bruder schwieg. Nun war es an Ishira zu seufzen. „Ich weiß, dass du den Kiresh nicht leiden kannst, Kenjin. Aber dass du jetzt hier bist, verdankst du nicht zuletzt seiner Fürsprache.“
Kenjin verzog geringschätzig den Mund. „Wie großzügig von ihm. Ist er deshalb jetzt dein Held?“
Sie sah ihn entgeistert an. „Wie kommst du denn darauf?“
„Weil du ihn genauso angesehen hast. Als hättest du dich am liebsten in seine Arme geworfen.“ Er machte ein Gesicht, als würde ihm bei der Vorstellung schlecht werden.
„Das ist doch überhaupt nicht wahr!“ fuhr sie heftiger auf als nötig, während sie sich gleichzeitig daran zu erinnern versuchte, wie sie den Kiresh eben angesehen hatte. Jedenfalls hatte sie sich ganz sicher nicht in seine Arme werfen wollen!
„Tut mir leid“, entschuldigte ihr Bruder sich einen Moment später kleinlaut. „Ich weiß ja, dass es für dich auch nicht leicht ist.“ Verlegen kratzte er sich die Nase. „Ich habe nur so ein komisches Gefühl … als würdest du mir entgleiten, verstehst du? Ich habe Angst, dich an die Gohari zu verlieren.“
Seine Worte rührten sie – und erschreckten sie zugleich. Sie streckte ihre Hand nach seiner Wange aus. „Ich würde dich niemals im Stich lassen, Ken, das weißt du.“
Unvermittelt griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Flieh mit mir, Nira“, flüsterte er. „Heute Nacht.“
Im ersten Impuls wollte Ishira ihre Zustimmung geben, dachte sie doch seit Tagen kaum über etwas anderes nach. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nicht in der ersten Nacht, die du hier im Zelt bist, Kenjin. Darauf warten die Befehlshaber doch nur. Ich bin sicher, sie beobachten uns. Lass uns sie in Sicherheit wiegen. Wenn ihre Wachsamkeit nachlässt, haben wir bessere Chancen.“
Kenjins Griff wurde schmerzhaft fest, sein Blick so eindringlich, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Der kindliche Ausdruck in seinem Gesicht war verschwunden. Plötzlich wirkte er älter als seine vierzehn Jahre. „Wie lange willst du noch warten, Nira? Wenn uns die Amanori tatsächlich morgen angreifen, erleben wir vielleicht keine weitere Nacht mehr. Willst du mit unseren Feinden zusammen zugrunde gehen?“
Ishira biss sich auf die Lippen. Natürlich wollte sie das nicht. Sie… Gütige Ahnen, sie wusste nicht, was sie wollte! Oder was sie tun sollte! Darüber nachzugrübeln, was richtig und was falsch war, hatte ihr nichts beschert außer Kopfschmerzen. Vielleicht gab es nicht einmal ein richtig oder falsch. Selbst ihr Bauchgefühl war ihr keine Hilfe, denn das war mindestens ebenso zerrissen wie ihr Verstand. „Lass uns wenigstens noch einen Tag warten“, bat sie kläglich, nicht sicher, ob sie wirklich glaubte, dass die Gohari sie morgen Nacht weniger im Blick behalten würden, oder ob sie gegen alle Vernunft hoffte, bis dahin würde etwas geschehen, dass ihr die Entscheidung leichter machte.
Ihr Bruder ließ sie los. „Wie du meinst.“ Er gab sich keine Mühe, die Enttäuschung in seiner Stimme zu verbergen. „Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.“