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KAPITEL IV – Auf und davon
ОглавлениеBilder flossen in Ishiras Geist, unscharf und verschwommen wie Spiegelungen in unruhigem Wasser. Um sie herum nahm sie Bewegung wahr. Geschuppte Leiber und schlangenartige Hälse schoben sich geisterhaft wabernd in ihr Gesichtsfeld, lösten sich auf und formten sich neu. Den Bildern folgten Worte, die durch ihren Kopf rollten wie Donnergrollen. Sie waren gleichzeitig nah und fern und auch wenn Ishira ihren Sinn nicht erfasste, besaßen sie etwas Emphatisches, Einpeitschendes, das sie an die Rede des Marenash vor der goharischen Armee erinnerte. Das Donnergrollen steigerte sich zu einem mit Gongschlägen gepaarten Trommelwirbel, unterlegt von durchdringendem Summen, so als ob ein aufgescheuchter Bienenschwarm um Ishira herum schwirren würde. Etwas rauschte wie Sturmböen, die durch eine enge Gasse fegten. Um sie herum verdunkelte sich der Himmel, als sich ein Wald aus Schwingen entfaltete.
Ishira fuhr hoch. Sie erinnerte sich daran, geträumt zu haben, aber wie so oft zerrann ihr der Traum zwischen den Fingern, als sie danach greifen und ihn festhalten wollte. Sie wusste nur, dass er mit den Amanori zu tun gehabt hatte. War es ein schlichter Alptraum gewesen, weil Kiresh Yaren gestern seine Befürchtung eines Angriffs mit ihr geteilt hatte? Oder war es eine ihrer Visionen? Ishira zögerte. Sie hatte diese Visionen eigentlich noch nie im Schlaf gehabt, aber die Szene hatte trotz aller Undeutlichkeit real gewirkt. Sich real angefühlt. Als sie an all die Schwingen dachte, die sich in den Himmel erhoben hatten, stellten sich auf ihren Armen sämtliche Härchen auf. Es mussten mehr Amanori sein, als jemals einer von ihnen gesehen hatte – und sie waren bereit zum Kampf.
Abwesend schlug sie die Decke zurück und langte nach ihrem Kleid. Sollte sie ihrem Begleiter davon berichten? Aber was sollte sie sagen? Dass sie von den Amanori geträumt hatte? Er würde sie höchstens mitleidig ansehen und ihr versichern, dass er sie beschützen würde. Neben ihr gab Kenjin einen verschlafenen Laut von sich und blinzelte sie an. „Was ist los, Nira? Du siehst so beunruhigt aus.“
Ishira zog sich ihr Kleid über den Kopf. „Ich habe davon geträumt, dass die Amanori auf dem Weg hierher sind“, nuschelte sie durch den Ausschnitt.
Ihr Bruder blieb entspannt. „Mach dich nicht verrückt, das-“
Er kam nicht dazu den Satz zu beenden, weil Kiresh Yaren im selben Moment den Vorhangstoff beiseite riss. „Was sagst du da? Die Amanori sind hier?“ Offenbar hatte er nur den zweiten Teil ihres Satzes aufgeschnappt. Er konnte selbst gerade erst aufgestanden sein, denn er war nur halb angekleidet und eine Strähne seines dunklen Haars hing ihm in die Augen. Ungeduldig strich er sie zurück. Ishiras Blick blieb an seinem offen stehenden Hemd hängen, das freie Sicht auf seine muskulöse Brust gewährte, auf der die Kette mit Drachenzähnen klimperte. Hitze flutete durch ihre Adern. Einen Moment lang war sie zu abgelenkt um zu antworten. „Jetzt rede schon!“ fuhr er sie an.
„Es, es war nur ein Traum“, stotterte sie. „Sie sind nicht hier.“ Tatsächlich konnte sie keine Anzeichen irgendeiner Drachenpräsenz entdecken. Hieß das, sie hatte tatsächlich nur geträumt?
Der Kiresh starrte sie noch einen Augenblick länger an, als brauchte er Zeit, um zu verarbeiten, was sie gesagt hatte. Dann räusperte er sich und zog mit einer Hand zerstreut sein Hemd zusammen. „Verzeih das Missverständnis“, entschuldigte er sich zu ihrer Überraschung, bevor er den Kopf abrupt zurückzog und den Vorhang fallen ließ.
In Ishira regte sich Unbehagen, dass sie ihm etwas dermaßen Bedeutsames wie ihre Verbindung zu den Amanori verschwieg. Aber sie konnte es niemandem sagen. Jedenfalls keinem Gohari.
Als der Kiresh sie kurze Zeit später aus dem Zelt scheuchte, herrschte im Lager rege Betriebsamkeit. Zelte wurden abgebaut, Pferde gesattelt, Gepäck verladen, Umasus angeschirrt. Die Kireshi, die für Rohins ‚Drachentöter‘ verantwortlich waren, vergewisserten sich, dass die Sprengrohre rasch geladen werden konnten. Augenscheinlich wollten die Gohari bereit sein, falls die Amanori heute tatsächlich angriffen.
Kiresh Yaren hielt Ishira ein Stück Brot hin. „Hier. Teil es dir mit deinem Bruder. Das muss heute als Frühstück reichen.“ Er legte den Kopf in den Nacken, als wollte er Ausschau nach ihren Gegnern halten, obwohl die Zweige der Zedern nur kleine Ausschnitte des Himmels preisgaben. „Der Shohon will früh aufbrechen, um das Tal so schnell wie möglich zu durchqueren. Am liebsten wäre er in der Nacht weitermarschiert, aber das war wegen der Wagen nicht möglich.“
Ishira nickte geistesabwesend. Halb hing sie noch immer ihrem Traum nach. Ihre Unruhe ließ sich nicht vertreiben, hatte sich eher noch verstärkt. Was, wenn sie doch reale Ereignisse beobachtet hatte? Wenn die Amanori sich bereits zum Angriff formierten? Konnte sie einfach ignorieren, was sie gesehen hatte?
Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, und suchte nach den Echsen. Sie stellte sich vor, dass sie ihren Geist in alle Himmelsrichtungen zugleich aussandte, als würde sie einen Stein ins Wasser werfen und die Wellen sich vom Punkt seines Eintauchens aus kreisförmig ausbreiten. Mit all der Unruhe um sie herum fiel es ihr schwer, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten, aber irgendwie gelang es ihr, die störenden Geräusche auszublenden.
Unvermittelt wurde es um sie herum hell, als hätte ihr jemand eine Decke vom Kopf gerissen.
Sie saß mit den anderen Amanori auf einem Bergkamm und wartete. Unter ihr breitete sich ein Tal aus, das große Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, an dessen Rand die Armee lagerte, auch wenn es aus dieser Perspektive natürlich anders aussah. Aber Ishira erkannte die Felsen, die wie hingeworfen auf der Wiese lagen. Dann sah sie in den Ausläufern des Waldes zu ihren Füßen Rauch aufsteigen. Die letzten Rauchkringel der gelöschten Lagerfeuer. Es war kein Zweifel möglich: Die Amanori beobachteten sie. Ishira spürte deutlich die Erregung der Echse, in deren Körper sie geschlüpft war, und fand Antwort in den bebenden Leibern ihrer Artgenossen. Ihr eigenes Blut begann in Erwartung des Kampfes zu pulsieren. Sie reckte den Hals und fühlte, wie sich die Hautlappen zu beiden Seiten auffächerten. Sobald die Menschen den Schutz der Bäume verließen, würden sie über ihnen sein und sie zerbrechen wie trockenes Holz.
Das Brot in Ishiras Hand wurde matschig, als ihre Finger es zusammenquetschten. Ihre Kopfhaut prickelte auf einmal wie wild. Kiresh Yaren musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Was ist?“
„Die Amanori sind ganz in der Nähe“, erwiderte sie atemlos. „Sie warten irgendwo hinter uns auf einem Berg darauf, dass wir den Wald verlassen.“
„Willst du sagen, sie lauern uns auf?“ Er bemühte sich, das grüne Nadeldach mit seinen Blicken zu durchdringen.
„Kannst du sagen, wie viele es sind?“ fragte der Shohon neben ihm.
Ishira sah in ihrer Erinnerung den Wald aus Schwingen. Geschuppte Leiber dicht an dicht. „Vier- oder fünfmal zehn“, antwortete sie gepresst. „Vielleicht noch mehr.“
Helon wirkte einen Moment lang bestürzt. „Bei den Göttern“, murmelte er. Dann drehte er sich zu den Kireshi um. „Macht die Geschütze bereit, Männer! Die Drachen werden uns höchstwahrscheinlich angreifen, sobald wir den Wald verlassen. Lasst die Vorratswagen und die Pferde hier. Wir holen sie später nach. Aber sorgt dafür, dass die Tiere nicht durchgehen können.“
Beruk musterte Ishira argwöhnisch. „Ich möchte wirklich wissen, woher du deine Weisheit beziehst. Allein aus ihrer Aura kannst du wohl kaum schließen, was die Drachen vorhaben.“
„Bei allem Respekt, Bashohon, aber was schließt Ihr selbst aus der Tatsache, dass eine enorme Anzahl Drachen ganz in der Nähe ist, ohne dass wir sie sehen?“ gab Kiresh Yaren mit kaum verhohlener Ungeduld zurück. „Diese Bestien werden vom Instinkt des Jägers angetrieben, der allen Raubtieren angeboren ist. Sie warten auf den günstigsten Moment um zuzuschlagen.“ Etwas ruhiger fuhr er fort. „Ich gebe allerdings zu, dass auch ich unsere Gegner unterschätzt habe.“
Bevor Beruk etwas erwidern konnte, meldete sich Garulan zu Wort. „Was sollen die Telani tun, Shohon?“
„Ihr wartet gleichfalls hier im Wald, bis Ihr neue Anweisungen erhaltet.“ Helon hob die Hand, als Rohin widersprechen wollte. „Keine Widerrede! Wir brauchen Eure Fähigkeiten an anderer Stelle. Das Kämpfen überlasst uns. – Du bleibst mit deinem Bruder bei den Telani“, setzte er, an Ishira gerichtet, hinzu.
„Lasst die beiden nicht aus den Augen, Telan Garulan“, fügte Beruk an. „Wir wollen unsere kostbare ‚Verbündete‘ schließlich nicht verlieren.“ Sein Sarkasmus war nicht zu überhören. „Legt dem Jungen wieder Fesseln an“, trug er einem der Kireshi auf, bevor er sich abwandte.
Die Kommandanten gingen zum Rand der Lichtung voraus. Nur Kiresh Yaren stand noch an Ishiras Seite und rückte umständlich seine Waffen zurecht. Sein Kinn bildete die vertraute harte Linie. In seinen wolkengrauen Augen lag auf einmal eine Leere, die ihr die Brust zusammenzog. „Wenn ich im Kampf falle, halte dich an Mebilor. Er wird sich um euch kümmern.“
Die Beiläufigkeit, mit der er das sagte, ließ den Kloß in Ishiras Kehle zur Größe eines Eies anschwellen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass dieser Moment der letzte sein könnte, der ihr mit ihrem Begleiter blieb. Hatte er immer noch vor, den Tod herauszufordern, um von seinen fehlgeleiteten Schuldgefühlen erlöst zu werden? In einem Anflug von Panik suchte sie nach den richtigen Worten, um ihm zu sagen, dass er überleben musste. Dass es auch für ihn eine Möglichkeit gab, noch einmal von vorne zu beginnen. Aber alles, woran sie denken konnte, war, dass sie ihn nicht verlieren wollte.
„So leicht ziehst du dich nicht aus der Affäre, Yaren“, schimpfte Mebilor, bevor Ishira ihre Gedanken sortiert hatte. „Für deine Schützlinge sorgst du gefälligst selbst. Also wage es ja nicht, dich von den Drachen töten zu lassen!“
Eine von Kiresh Yarens Brauen hob sich in bekannt spöttischer Weise. „Auch eine Art, jemandem Glück zu wünschen.“ Doch die Starre war aus seinen Zügen gewichen.
Als er sich abwenden wollte, fand Ishira endlich ihre Sprache wieder. „Bitte, kommt heil zurück, Deiro.“
Er bedachte sie mit einem langen, unergründlichen Blick. „Wenn es die Götter fügen.“ Damit drehte er sich um und folgte den Heerführern zum Waldrand, wo der Shohon bereits Befehle erteilte.
Die Kireshi stellten sich in ihrer üblichen Formation auf, nur dass diesmal die Telani und die Proviantwagen fehlten – und dass alle zu Fuß waren, selbst die Befehlshaber und die Koshagi. Auf Helons Wink hin setzte sich die Armee in Bewegung. Ishira beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die Gohari aus dem Wald strömten. Nichts veränderte sich. Selbst als die letzten Geschütze den Schutz der Bäume verlassen hatten, geschah nichts. Hatte sie sich geirrt? Oder hatten die Amanori Verdacht geschöpft? Waren sie intelligent genug um zu merken, dass die Armee nicht vollzählig war?
Doch dann hörte sie es. Das Rauschen unzähliger Schwingen. Als würde von Osten ein Sturm heraufziehen. An der Art, wie die Köpfe der Telani um sie herum nach oben zuckten, erkannte sie, dass auch sie es hörten. „Sie kommen“, flüsterte jemand.
Schatten schoben sich über den Wald wie eine schwarze Wolkenfront, die das Licht des Morgens schluckte. Entsetzte Rufe wurden laut. In die Kireshi kam Bewegung. Beinahe gleichzeitig zogen sie ihre Waffen und machten sich kampfbereit. Die Rohre der ‚Drachentöter‘ schwenkten nach oben, als die Schützen sie auf die anfliegenden Gegner ausrichteten. Der donnernde Kampfschrei der Amanori ließ Ishira das Blut in den Adern stocken. Er hallte von den umliegenden Bergen wider und schien sich wie etwas Stoffliches über die Gohari zu legen, erstickte die Stimmen der Kireshi und das angstvolle Wiehern der angepflockten Pferde. Die Wolke aus geschuppten Leibern senkte sich tiefer. In einem Gewitter aus Blitzen gingen die Amanori zum Angriff über. Als Antwort zündeten die Schützen die Sprengrohre. Ohrenbetäubendes Krachen übertönte selbst das Grollen der Echsen. Die ersten Amanori stürzten in die Tiefe. Aber auch von den Gohari lagen bereits etliche am Boden, hingestreckt von den Blitzen. Allein die Koshagi konnten das Blitzgewitter ignorieren, da das Blut der Echsen sie vor deren gefährlichster Waffe schützte.
Rohin hatte die Fäuste geballt und lief einige Schritte zum Rand des Waldes vor, um besser zu sehen. Einen Augenblick lang glaubte Ishira sogar, er wollte sich selbst ins Schlachtgetümmel stürzen. Einige der anderen Telani folgten ihm, als würde das Geschehen sie magisch anziehen. Ishira kaute vor Aufregung an den Nägeln – etwas, das sie nicht mehr getan hatte, seit sie ein Kind war. Sie stand kurz davor, ebenfalls zum Waldrand zu laufen. Die Echsen schienen eine bestimmte Strategie zu verfolgen. Rund die Hälfte von ihnen kreiste in der Luft und spie Blitze, während die übrigen direkt auf die Menschen zuhielten und mitten zwischen den Gohari landeten, um mit Zähnen, Klauen und ihren stachelbewehrten Schwänzen über sie herzufallen. Ishira hielt Ausschau nach ihrem Begleiter, aber in dem wilden Getümmel war es unmöglich, jemanden auszumachen. Ein Geschoss zerfetzte einem der Amanori den Flügel. Wild mit der verbliebenen Schwinge schlagend, versuchte er sich in der Luft zu halten, doch vergeblich. Die Kireshi unter ihm schrien eine Warnung und wichen zurück, als er zur Erde trudelte. Dennoch wurden zwei Soldaten von dem peitschenden Schwanz erfasst und mehrere Schritte weit durch die Luft geschleudert. Der eine schlug inmitten seiner Kameraden auf und riss einen von ihnen mit sich zu Boden. Schaudernd sah Ishira, wie die Woge der kämpfenden Kireshi die Leiber unter sich begrub, als sie von den nachfolgenden Amanori attackiert wurden.
Als jemand von hinten nach ihrem Arm griff, schrak sie zusammen. Kenjin. Ihr Bruder sah sie beschwörend an und nickte mit dem Kinn in die Richtung, aus der sie am vergangenen Abend gekommen waren. „Das ist unsere Chance“, raunte er ihr ins Ohr. „Lass uns verschwinden, solange die Gohari beschäftigt sind. Bis sie jemanden hinter uns her schicken können, sind wir über alle Berge.“
Ishira sah sich hastig um, ob Mebilor oder einer der anderen Telani Kenjins Worte gehört hatte. Aber die Gelehrten hatten ihre Aufmerksamkeit sämtlich auf das Kampfgeschehen gerichtet – ebenso wie die Kutscher der Vorratswagen, die darüber hinaus noch mit ihren Zugtieren zu kämpfen hatten. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Selbst Garulan hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Kenjin hatte Recht. Wenn sie wirklich fliehen wollten, war jetzt die perfekte Gelegenheit. Hatte sie nicht auf genau solchen Moment gehofft? Auf einen Wink des Schicksals? Unschlüssig trat Ishira von einem Fuß auf den anderen. Wieso zögerte sie noch? Hatte sie sich nicht geschworen, alles zu tun, um ihren Bruder heil hier heraus zu bringen? Aber war dies wirklich der richtige Weg? Hin und her gerissen suchte ihr Blick zwischen all den Kämpfenden erneut nach ihrem Begleiter, obwohl sie nicht wusste, was sie sich davon versprach. Vergebens. Sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Vielleicht war es besser so.
Kenjin zerrte an ihrem Arm. „Jetzt komm schon, Nira!“ zischte er. „Worauf wartest du noch?“
Ja, worauf wartete sie? Sie schuldete den Gohari nichts. Kenjin und sie hatten auf diesem Feldzug nichts verloren. Dies war nicht ihr Kampf. Ihr eigener Kampf fand weit fort von hier statt – in Soshime, in den Minensiedlungen. Der Platz, an den sie gehörte, war an Kanhiros Seite. Nicht an der Seite der Gohari. Nicht an der Seite Kiresh Yarens. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, ließ Ishira sich von ihrem Bruder mitziehen.
Langsam und vorsichtig entfernten sie sich von den Telani. Sie gingen halb gebückt und bemühten sich, nicht auf trockene Äste zu treten, obwohl diese Vorsichtsmaßnahme vollkommen überflüssig war, übertönte doch der Lärm des Kampfes jedes Geräusch, das einer von ihnen hätte verursachen können. Ishira ging leicht seitlich und blickte sich immer wieder über die Schulter um, ob jemandem auffiel, dass sie nicht mehr hinter Mebilor und Garulan standen. Doch niemand rief sie zurück und es rannte auch niemand hinter ihnen her. Die Gohari waren abgelenkt.
Endlich erreichten Kenjin und sie den Engpass. Nach einem letzten Blick zurück bogen sie auf den Pfad ein, den das Heer am Vortag getrampelt hatte. Außer Sicht der Telani begannen sie zu laufen. Vor den Gohari in Sicherheit waren sie noch längst nicht. Es gab nur diesen einen Weg durch die Schlucht und die Hänge waren zu steil, um dort zu entkommen. Wenn die Gohari ihre Flucht zu früh bemerkten, hatten Kenjin und sie verloren.
***
Donnerschläge rollten durch das Tal, als die nächsten Sprengrohre abgefeuert wurden, und überlagerten den übrigen Schlachtenlärm. Im Tal war das Chaos ausgebrochen. Die Drachen schienen überall zu sein. Noch nie hatte Yaren so viele von ihnen auf einen Haufen gesehen. Die Welt schien nur noch aus Blitzen, Schreien und durch die Luft wirbelnden Klauen und Klingen zu bestehen. Verbissen schwang Yaren sein Kesh gegen den Drachen vor ihm. Das Biest war bereits verletzt, aber noch immer stark. Sein langer biegsamer Hals schnellte vor und zwang Yaren zurückzuweichen. Dabei trat er beinahe auf einen der Verletzten, die den Boden übersäten. Im letzten Moment drehte er den Fuß zur Seite und kam knapp neben dem Arm des Mannes auf. Dessen Finger zuckten unkontrolliert, ebenso wie der Rest seines Körpers. Er war nur einer von vielen. Um Yaren herum ging ein Blitzschauer nach dem anderen nieder, die jeden niederstreckten, der nicht schnell genug seinen Schild hob. Wenigstens darum musste er sich nicht sorgen. Das Drachenblut tat ihm einmal mehr gute Dienste. Der Kiresh zu seiner Rechten hatte dieses Glück nicht. Er hatte sich ganz auf ihren Gegner am Boden konzentriert und bemerkte das Ungeheuer über ihnen zu spät. Stöhnend brach er zusammen, als ihn ein Kokon aus goldenen Lichtfäden einspann. Der Drache, den er und Yaren ins Visier genommen hatten, holte mit seiner rechten Klaue aus, um ihn zu zerfetzen, doch Yaren versalzte ihm die Suppe. Er sprang vor und führte einen Scheinangriff aus, der es einem seiner anderen Kameraden ermöglichte, den Platz des Verletzten einzunehmen und diesem Deckung zu geben. Von der anderen Seite kam ihnen ein weiterer Krieger zu Hilfe. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich, das Ungeheuer zurückzudrängen. Yaren setzte nach und stieß sein Kesh oberhalb der Hüfte in den Leib des Drachen. Er hatte gut gezielt. Die Klinge glitt zwischen den Hornplatten hindurch und verschwand beinahe bis zum Heft in dessen Eingeweiden. Mit einem halb zornigen, halb schmerzerfüllten Brüllen krümmte sich der Drache zusammen. Der Kiresh zu seiner Rechten nutzte seinen Vorteil und schlitzte mit einer fließenden Bewegung den Hals des Ungeheuers auf. Dunkles Blut besudelte seine Rüstung. Der Kopf des Drachen zuckte noch einmal hoch, bevor er nach hinten wegknickte. Wachsam behielt Yaren seine Waffe im Anschlag, bis er sicher war, dass ihr Gegner sich nicht mehr rührte.
„Bei Kaddor, was für Bestien!“ stieß der Kiresh, der dem Drachen den Todesstoß versetzt hatte, atemlos hervor. „Als hätten die Höllen selbst sie ausgespien!“
Yaren wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Doch die Drachen gönnten ihnen keine Verschnaufpause. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eines der Biester im Tiefflug auf ihn und seine Kameraden zuhielt. „Runter!“ brüllte er und ließ sich fallen. Der Drache rauschte über ihn hinweg wie ein Sturmwind aus Klingen. Seine Schwingen wirbelten die Erde um Yaren herum auf und er fühlte den Luftzug der messerscharfen Klauen direkt über seinem Kopf. Der Kiresh neben ihm stieß einen gurgelnden Schrei aus. Etwas Warmes spritzte auf Yarens rechte Wange. Sein Kamerad sackte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte. Überall war Blut. Yaren musste den Unglücklichen nicht umdrehen um zu wissen, dass er tot war. Der Drache hatte ihm halb den Kopf von den Schultern getrennt.
Eine neue Salve krachte aus den Geschützrohren und forderte ihren Tribut unter den Echsen. Um Yaren herum hatte sich ein Freiraum gebildet. Mit einem raschen Blick schaute er sich um. Überall lagen Tote und Verletzte neben- und übereinander. Dazwischen ragten die Kadaver der erschlagenen Drachen heraus wie exotische Gewächse. Der Boden zu seinen Füßen war glitschig von Blut und Spuren davon fanden sich überall auf seiner Rüstung. Der Kampf wütete schlimmer als alle, die er bisher erlebt hatte – und doch herrschte in seinem Innern eine eigenartige Ruhe. Diesmal brauchte er keine Angst zu haben, dass die Drachen jemandes Leben nahmen, der ihm nahestand.
Ganz in der Nähe kämpften einige der Söldner. Sie hatten ihre Schilde fortgeworfen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, und bedrängten die beiden Drachen in ihrer Mitte hart. Was ihrem Kampfstil an Raffinesse fehlte, machten sie durch Kraft und Beweglichkeit wett. Zudem ergänzten sie einander perfekt. Als einer der Söldner zum entscheidenden Stoß ausholte, legte sich ein Schatten über sie. Ein Schauer aus Blitzen ergoss sich über die Raikari. Jemand packte Yaren von hinten und stieß ihn zu Boden. Er keuchte vor Schreck, als harte Rüstungsteile gegen seine Schulterblätter pressten und ihm die Luft abschnürten. In unmittelbarer Nähe knisterte ein Drachenblitz vorbei. Bevor Yaren reagieren konnte, verschwand das Gewicht auf seinem Rücken. Eine rote Maske schob sich in sein Gesichtsfeld. „Verzeiht, wenn ich etwas grob war“, drang Ralans gedämpfte Stimme durch die grotesk verzerrte Mundöffnung. „Seid Ihr in Ordnung?“
Yaren sah ihn einen Moment verständnislos an, bevor ihm aufging, dass der Söldnerführer ihn vor dem Drachenblitz hatte in Sicherheit bringen wollen. „Habt Dank.“
Der Kommandant der Raikari streckte ihm die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. „Ihr solltet etwas vorsichtiger sein.“
Yaren murmelte eine Zustimmung und griff nach der dargebotenen Hand, doch dann erstarrte er mitten in der Bewegung, als er den goldenen Lichtfaden sah, der über Ralans Arm mäanderte. Ein Blick hinüber zu den Raikari bestätigte, dass auch diese weiter kämpften, als wäre nichts geschehen. Die Söldner wurden von den Blitzen ebenso wenig beeinträchtigt wie er selbst und die Koshagi! Wie konnte das sein? Hatten sie sich gleichfalls mit dem Blut der Drachen eingerieben? Aber der Marenash hatte die Blutsalbe öffentlich geächtet! Niemandem außer den Koshagi war es erlaubt, sie zu benutzen. Auf den Handel damit stand die Todesstrafe. Zugegeben gab es immer Möglichkeiten, sich Dinge über dunkle Kanäle zu beschaffen, aber in dieser Menge? Yaren kniff die Augen zusammen. Hatte Ralan nicht gesagt, dass er und seine Leute schon eine Weile hier waren? Hatten sie die Salbe aus dem Blut eigenhändig erlegter Drachen selbst hergestellt? War Ashak vielleicht sogar so weit gegangen, ihnen seine Erlaubnis zu geben?
„Wenn Ihr mein Geheimnis wahrt, werde ich das Eure wahren.“ Die Hand des Söldnerführers schwebte noch immer vor Yarens Gesicht.
Er musterte Ralan. Die Stimme des Kouran hatte unverändert freundlich geklungen, dennoch war die Botschaft unmissverständlich. War das ein Bluff oder wusste der Söldner Bescheid? Hatte er während des Kampfes gleichfalls bemerkt, dass die Blitze Yaren nichts anhaben konnten? War seine Rettungsaktion nur für die Augen Dritter bestimmt gewesen? Eine Finte, um von sich selbst abzulenken und sich Yarens Stillschweigen zu sichern? Verdammt, wenn er doch nur das Gesicht des Mannes sehen könnte! Er ging immer ein Wagnis ein, wenn er mit anderen zusammen kämpfte, aber in der Regel hatten seine Kameraden keine Gelegenheit, ihn so genau im Auge zu behalten, und es kam ihnen auch gar nicht in den Sinn, dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte, da er nicht das rote Mal der Koshagi trug. Natürlich wäre es sicherer gewesen, wenigstens Helm und Schild zu tragen und dadurch weniger aufzufallen, aber Yaren nahm das Risiko zugunsten besserer Sicht und Beweglichkeit in Kauf. Er hatte geglaubt, er müsste sich vor allem vor Magur in Acht nehmen, aber wie es schien, hatte er sich verkalkuliert. Ralan war jemand, mit dem man rechnen musste. Wenn er nicht riskieren wollte, dass der Kouran der Raikari ihn auffliegen ließ, schlug er besser ein. Was hatte er auch zu verlieren? Er war sowieso der Letzte, der den Söldnern vorwerfen konnte, gegen das Gesetz verstoßen zu haben. „Also gut: ich habe nichts gesehen, Ihr habt nichts gesehen.“
Ralans Hand schloss sich fest um seine. „So sei es.“
Ihre Unterredung hatte nur einen kurzen Moment gedauert, doch die Zeit hatte den Raikari genügt, um die beiden Drachen zur Strecke zu bringen. Auch an anderen Stellen ließen die Kampfhandlungen nach. Soweit Yaren sehen konnte, hatten sich die verbliebenen Echsen, immerhin noch gut zwei Drittel der ursprünglichen Streitmacht, in die Luft erhoben und außerhalb der Reichweite der Geschütze zurückgezogen. Hatten sie es geschafft? Gaben die Bestien auf? Einer der Drachen, die weit oben am Himmel kreisten, stieß einen Laut aus, der wie ein dunkler Gong durch das Tal hallte. Daraufhin stiegen auch die übrigen Ungeheuer höher. Sie zogen tatsächlich ab! In den Reihen der Kireshi brandete Jubel auf. Mit in die Luft gereckten Waffen brüllten die Männer den Drachen hinterher. Einige schlugen sogar mit den Schwertern gegen ihre Schilde.
Die Anspannung wich aus Yarens Gliedern. Sie hatten die Echsen vertrieben und die Verluste hielten sich in Grenzen. Die Mehrzahl der Männer, die am Boden lagen, waren nur Opfer der Blitze geworden und würde sich bald erholen. Die erste Schlacht war gewonnen.
***
Keuchend blieb Ishira stehen. Ihre Lungen stachen bei jedem Atemzug, als besäße die Luft scharfe Kanten, und ihr war so schwindelig, dass sie die Bäume und den Weg vor sich nur noch verschwommen wahrnahm. Ihre Muskeln protestierten gegen die Überlastung und sie musste sich am Stamm einer Zeder abstützen, weil ihre Beine ihr Gewicht kaum noch zu tragen vermochten. Sie hatte sich vollkommen verausgabt. Wenn sie jetzt verfolgt würden, hätte sie nicht einmal mehr die Kraft, sich irgendwo zu verstecken.
Neben sich hörte sie Kenjins abgehackte Atemzüge. Er hatte sich vorgebeugt und die gefesselten Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, offensichtlich ebenso erschöpft wie sie selbst. Eine Zeit lang blieben sie einfach so stehen, bis Ishiras Herzschlag annähernd zur Normalität zurückgekehrt war und ihre Lungen sich nicht mehr anfühlten, als würden sie jeden Moment bersten. Wie lange waren sie so schnell gelaufen? Bestimmt nicht so lange, wie es ihr vorkam. Da die Sonne sich auch heute hinter dichten Wolken versteckt hielt, war ihr Zeitempfinden vage. Sie hatte keine Ahnung, ob die Schlacht noch im Gange war. So weit entfernt konnte sie die Aura der Amanori nicht mehr spüren, ohne sich darauf zu konzentrieren.
Die Schlacht… Während sie gerannt waren, hatte Ishira an nichts anderes gedacht als daran, so schnell wie möglich von den Gohari wegzukommen. Doch jetzt gelang es ihr nicht mehr so leicht, die Bilder des Kampfes von sich weg zu halten. Kireshi, die von Blitzen gefällt wurden. Die gegen Zähne und Klauen, die so scharf waren wie ihr Schwert, um ihr Leben fochten. Sie hatte geglaubt, es würde mit jedem Schritt, den sie sich von der Armee entfernte, einfacher werden, die vergangenen Mondläufe hinter sich zu lassen, doch das stimmte nicht. Räumliche Entfernung machte die mit den Gohari verbrachte Zeit nicht einfach ungeschehen. Noch wischte sie die Erinnerungen fort.
Vor Ishiras innerem Auge tauchte Kiresh Yarens Gesicht auf. Etwas verkrampfte sich in ihr. Seine letzten Worte an sie und wie er sie dabei angesehen hatte… Was würde er denken, wenn er ihre Flucht entdeckte? Würde er sie verachten? Oder würde er verstehen, was sie angetrieben hatte?
Und die Amanori? Das Leck in den Kristalladern? Hatte sie wirklich die richtige Wahl getroffen? All die ungeklärten Fragen, auf die sie nun niemals eine Antwort erhalten würde…
Ishira atmete ein paar Mal tief durch. War das nicht der Lauf des Lebens? Mit jeder Tür, die man aufstieß, schlossen sich andere und öffneten sich dafür neue. Sie würde endlich dorthin gehen, wohin sie gehörte. Oder nicht?
Kenjin richtete sich auf und hielt ihr seine gefesselten Hände hin. „Kannst du die Knoten lösen, Nira?“
Sie versuchte es, aber sie saßen zu fest. Jetzt hätte sie ihr kleines Messer gebrauchen können, doch der Bashohon hatte es ihr abgenommen. Er hatte darauf gedrungen, dass sie nichts bei sich trug, das sich als Waffe verwenden ließ. Dabei hatte das Messer kaum dazu getaugt, Gemüse zu schneiden. Davon abgesehen wäre es Selbstmord gleichgekommen, eine Waffe gegen einen Gohari zu erheben. Aber Beruk hatte ihr von Anfang an noch mehr misstraut als alle anderen. „Ich bekomme sie nicht auf“, sagte sie hilflos.
„Lass gut sein, wir versuchen es später noch mal. Wenn wir den Bach erreicht haben, können wir uns eine längere Pause gönnen. Ab da können uns die Gohari nicht mehr so leicht folgen.“
Ishira nickte. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.